81.

»Kai Langenberger sagte, er habe Clemens Eisenschmid um neun Uhr abends getötet«, sagt Milla zu Ivan, der ihr schräg gegenüber am Tisch sitzt und das letzte Stück des Schnitzels in seinem Mund verschwinden lässt. »Aber Clemens Eisenschmid war laut Nathaniel bis mindestens zehn, vielleicht sogar bis elf bei ihm in Olten. Also lügt Langenberger. Er kann Eisenschmid nicht getötet haben, auf jeden Fall nicht um neun Uhr abends.«

Ivans einziger Kommentar ist ein zustimmendes Schmatzen.

»Wenn Kai Langenberger Clemens Eisenschmid nicht umgebracht hat, wer dann?«, fragt Milla.

»Keine Ahnung, du bist hier die Detektivin«, antwortet Ivan mit vollem Mund.

»Und vor allem: Wenn er es nicht war – warum hat er den Mord dann gestanden?«

»Um jemanden zu decken?«

»Würdest du einen Mord gestehen, um jemanden zu decken?«

»Nein.«

»Eben. Und was ist mit den anderen Tötungsdelikten? Hat er die tatsächlich begangen oder hat er für alle Taten ein falsches Geständnis abgelegt?«

»Milla, du hast mir auch schon einfachere Fragen gestellt, ich kann dir wirklich nicht helfen. Aber es ist Zeit.«

»Zeit wofür?«

»Der Interviewtermin beim Käser.«

Samuel Käser, Milla hätte ihn beinahe vergessen.

»Er ist kein Käser, er heißt Käser. Du hast recht, wir müssen los.«

Es stellt sich heraus, dass Samuel Käser Bäcker ist. Als sie bei ihm eintreffen, hat er sich noch nicht umgezogen; in seiner weißen Arbeitskleidung sieht er aus wie ein Arzt, mit dem Unterschied, dass Mehl daran klebt und er nach frischem Teig riecht. Er entschuldigt sich für einen Moment. Kurz darauf erscheint er in der sportlichen Kleidung eines Bergsteigers, moderne Outdoor-Klamotten, die ihn zehn Jahre jünger erscheinen lassen, als er ist. Was für ein Unterschied zu seinem früheren Klassenkameraden Kai, den Milla bislang immer nur in Anzug und Krawatte gesehen hat und der erheblich älter wirkt.

»Ich bin Samuel«, sagt Samuel Käser, »wir haben es hier nicht so mit dem Sie.«

»Milla.«

»Ivan.«

Er reicht ihnen die Hand, die eher einer Pranke gleicht.

»Wie bist du auf mich gekommen?«, fragt er Milla, als sie in seinem Wohnzimmer Platz genommen haben.

Milla erzählt Samuel Käser von ihrem Besuch bei Werner Abegglen im Foto-Atelier des Vaters, sie zeigt ihm auf dem Handy die Bilder des Klassenfotos und der feinsäuberlichen Schrift von Abegglen senior, der Samuel Käsers Name neben denjenigen von Karin Langenberger geschrieben hat. Ohne große Worte beginnt Ivan zu filmen, wie Samuel das Foto lange anschaut.

»Ja, das bin ich, neben Kai.«

»Der damals noch Karin hieß.«

»Ich habe ihn oder sie immer Kai genannt, er hat das so gewünscht, bereits Jahre vor der Umwandlung. Wir waren auch in der Sekundarstufe befreundet, ganz früher besuchten wir sogar zusammen den Kindergarten. Schon damals war sie kein normales Mädchen, sie war wie ein Junge. Beim Raufen hat sie immer gewonnen. Sie spielte mit Matchboxautos statt mit Puppen, kletterte mit uns Jungs auf die Bäume und fand Mädchen doof. Die Mädchen riefen ihr oft Jungenmädchen nach, aber das hat sie nicht gestört. Kai war froh, dass sie mit uns Jungs unterwegs sein durfte. Dann kamen wir in die Pubertät: Das muss für sie die Hölle gewesen sein. Dass sie dann Mitte zwanzig mit der Geschlechtsumwandlung – oder wie sagt man heute, Transition? – begann, hat niemanden überrascht. Obwohl das damals andere Zeiten waren. Und wir leben hier auf dem Land! Für mich war Kai ein Junge im falschen Körper, der das dann geändert hat. Aber Sie können sich vorstellen, dass das nicht alle so sahen.«

»Wie hat sich das gezeigt?«

»Als Kai in die Pubertät kam und sich immer noch wie ein Junge verhielt, wurde sie von Schulkameraden gemobbt. Niemand wollte etwas mit ihr zu tun haben. Einmal haben die anderen Mädchen sie in der Turnhalle nackt in der Dusche eingeschlossen und die Jungs geholt, um sie bloßzustellen.«

»Gab es auch körperliche Gewalt?«

»Ich weiß es nicht. Wenn, dann hat Kai nicht darüber gesprochen. Aber im Ausgang gab es immer wieder Sprüche. Sie wissen schon …«

»Nein, weiß ich nicht, was für Sprüche?«

»Na ja, dass man es Kai nur mal … nun, richtig besorgen müsse, damit er merke, dass er eine Frau und kein Junge sei, in die Richtung halt.«

»Hat Kai sich gewehrt?«

»Er hat versucht, die verbalen Angriffe zu ignorieren.«

»Wie war Kai sonst so, hat es dich überrascht, als er die Juristenlaufbahn einschlug?«

»Nein. Er war ein schlauer Kopf. Eigentlich wollte er Pilot werden. Aber es hat sich dann alles geändert.«

»Wie meinst du das?«

»Es ist etwas passiert, über das Kai nie gesprochen hat. Auf einmal wurde er total radikal. Er hatte schon immer einen ausgesprochenen Gerechtigkeitssinn, aber kurz vor der Matura muss etwas geschehen sein, das ihn zuerst völlig aus der Bahn geworfen hat und ihn dann radikalisierte. Er begann schon damals, Unterschriften für Petitionen zu sammeln, die eine Verschärfung des Strafrechts verlangten. Wir waren nicht überrascht, als er sich schließlich an der Uni für Jura einschrieb. Allerdings hätte ich eher erwartet, dass er Richter wird.«

»Aber du weißt nicht, was der Auslöser für seinen Sinneswandel war?«

»Nein, aber eine Vermutung hab ich schon.«

Milla wartet. Samuel Käser schaut erst zu ihr, dann zu Ivan in die Kamera, dann wieder zu ihr.

»Ich möchte nicht, dass ihr das filmt.«

Im gleichen Moment, als Milla Ivan zunickt und er die Kamera ausschaltet, klickt in einer Zweizimmerwohnung in Bern die Kamera des Polizeifotografen, der den Tatort dokumentiert. Zuerst mit herkömmlichen Fotografien, anschließend mithilfe einer 3-D-Kamera, sodass der Tatort später jederzeit wieder virtuell begangen werden kann. Er lichtet den Mann ab, der tot und nackt an sein Bett gebunden vor ihm liegt, das Gesicht unter einer schwarzen Schnabelmaske versteckt, über dem Penis eine Kindersocke mit zwei Comic-Augen und an den Füßen rote Stöckelschuhe.

»Schon wieder ein Déjà-vu«, sagt die Rechtsmedizinerin Irena zu Bettina und Sandro, die neben ihr im Wohnzimmer warten, bis der Kollege mit seiner Arbeit fertig ist. »Es ist, als würde ich zum dritten Mal zum gleichen Tatort gerufen. Drei Männer auf dem Bett, ein weiterer auf einem Flipper, einer auf dem Sofa. Wann hört das endlich auf?«

Bettina und Sandro werfen sich einen Blick zu. Genau das fragen sie sich auch. Zumal sie direkt aus der Einvernahme jenes Mannes hierherbestellt worden sind, von dem sie dachten, dass er die Tötungsdelikte zu verantworten hat.

»Ist jemals etwas über die Socke nach draußen gedrungen, ich meine, über die Art der Socke, wie sie aussieht?«, fragt Bettina.

»Nein«, antworten Sandro und Irena wie aus einem Mund.

»Und über die Maske?«

»Ebenfalls nicht. Wir haben auch nie öffentlich gemacht, dass die Männer gefesselt waren.«

»Also kann es kein Nachahmungstäter sein«, folgert Bettina. »Wer hier getötet hat, war auch in den anderen Fällen der Täter. Dabei dachten wir, wir hätten sie gelöst.«

»Seid ihr so weit?«, ruft Irena ins Zimmer hinein.

»Ja, du kannst rein.«

Bettina folgt Irena ins Schlafzimmer.

»Wer hat den Toten gefunden?«, fragt sie Sandro.

»Es gab einen anonymen Anruf.«

Irena durchtrennt das Gummiband der Maske.

»Ein Telefonanruf, das ist neu«, kommentiert Bettina.

Vorsichtig hebt Irena die Maske vom Gesicht des Toten.

»Der Anruf stammte aus einer Telefonzelle. Florence ist dabei, die Gegend um die betreffende Kabine nach Überwachungskameras abzusuchen.«

»Er ist deutlich älter als die anderen Opfer«, stellt Irena fest.

Bettina tritt näher an die Leiche heran. Ein kantiger Kiefer, der leicht asymmetrisch verschoben wirkt, schmaler Mund, markante Nase, die Augen stehen eng beieinander und sind geschlossen. Er trägt einen Schnauzbart, ist am Kinn schlecht rasiert, das dunkelbraune Kopfhaar ist von grauen Strähnen durchzogen. Bettina vergleicht das Gesicht mit der Fotografie der Identitätskarte, die sie im Portemonnaie im Flur gefunden hat.

»Der Mann heißt Michael Megert, fünfzig Jahre alt, lebt hier zur Miete.«

Irena löst die Kabelbinder, mit denen Hand- und Fußgelenke an das Bett gebunden sind, lässt sie in ein Plastiksäckchen gleiten und übergibt sie Florian von der Spurensicherung. Dann bewegt sie die Arme des Toten. Keine Leichenstarre. »Er ist noch nicht lange tot«, kommentiert Irena. »Wann habt ihr Kai festgenommen?«

»Gestern Nachmittag.«

»Nun, dann habt ihr mit Kai wohl den Falschen erwischt.«

»Es sei denn …«, Bettina zögert, »es sei denn, er hat es nicht allein getan.«

»Die Kamera ist aus«, sagt Ivan in der Wohnung über der Bäckerei, in der es nach frischem Brot riecht.

Stille folgt. Samuel Käser streicht sich mit drei Fingern über die Nase, presst die Augen zusammen. Einen Moment lang befürchtet Milla, er habe es sich anders überlegt und wolle seine Vermutung doch nicht äußern.

»Auf einmal, das war im letzten Jahr am Gymnasium, war Kai sehr verschlossen.« Samuel Käser stockt, räuspert sich. Es ist ihm anzusehen, wie sehr ihn die Erinnerung berührt. »Zuvor konnten wir über alles reden, doch plötzlich zog er sich zurück. Ich dachte damals, dass das mit der bevorstehenden Transition zu tun hatte. Ich kam nicht mehr an ihn heran. Und dann war er, oder sie, plötzlich schwanger.«

Also doch, denkt Milla. Sie und Werner Abegglen haben sich nicht getäuscht: Auf dem Klassenfoto war tatsächlich ein sich abzeichnendes Schwangerschaftsbäuchlein zu sehen.

»War Kai zu dieser Zeit mit jemandem zusammen?«, fragt Milla.

»Nein. Ihr müsst verstehen: Kai steckte zwar noch im Körper einer jungen Frau, aber er war so sehr ein junger Mann wie ich. Und dann aus heiterem Himmel diese Schwangerschaft! Ich glaube nicht, dass das freiwillig war.«

»Wie meinst du das?«

»Nie im Leben hätte Kai schwanger werden wollen. Er hat auch als Karin nie etwas mit einem Mann gehabt. Ich glaube, Karin Langenberger wurde damals vergewaltigt«, sagt Samuel Käser. »Aber versteht mich nicht falsch. Es ist nur eine Vermutung, ich bin nicht sicher, er hat nie darüber geredet. Aber gerade dass er nie mit mir darüber gesprochen hat, lässt mich denken, dass ihm etwas Schlimmes zugestoßen sein muss. Sonst hätte er es doch einfach erzählt, oder? Ich habe natürlich nachgefragt, was los sei, aber er hat immer gleich abgeblockt.«

»Hat er das Kind bekommen?«

»Ja. Nach der Maturafeier haben wir den Kontakt verloren. Aber ich habe ihn zwei, drei Mal mit dem Kind im Dorf gesehen. Später war das Mädchen oft bei den Großeltern.«

Auf einmal ergibt alles einen Sinn, denkt Milla. Kai Langenberger war selbst ein Vergewaltigungsopfer – darum hat er sich für die anderen Frauen gerächt, deren Vergewaltiger vor Gericht freigesprochen worden waren, nachdem er als Staatsanwalt keinen Schuldspruch erwirken konnte. Es ging bei seinen Taten gar nicht um die Männer, die er tötete – es ging jedes Mal um seinen eigenen Vergewaltiger. Falls Samuel Käsers These stimmt.

Nachdem sie sich bei Samuel Käser bedankt und sich verabschiedet haben, lotst Milla Ivan zum Einwohnermeldeamt von Interlaken. Wenn sie Glück haben, ist noch jemand da, die Bürozeiten sind meist sehr übersichtlich. Sie haben Glück, und zwar in doppeltem Sinne: Es stellt sich heraus, dass die Frau hinter dem Schalter des Einwohnermeldeamts – auf ihrem Namensschild liest Milla G. Rüfenacht  – kurz vor der Pensionierung steht und jede und jeden in der kleinen Stadt persönlich zu kennen scheint. Sie wirkt glücklich, dass endlich jemand den Schalter aufsucht, mit dem sie reden kann. Denn reden tut sie gerne und viel, das steht bereits nach ihrer überschwänglichen Begrüßung außer Frage. Milla ahnt, dass Frau Rüfenacht heute außer ihnen noch keine Kundschaft hatte und sich zu Tode langweilt, sodass nun all die Worte und Sätze, die sich den ganzen Tag in ihrem Kopf aufgestaut haben, aus ihr rausmüssen. Für Milla kann das nur von Vorteil sein. Sie hat sich eine Legende zurechtgelegt, die sich um ein Erbe, eine entfernte Cousine und um eine Verwandtschaftssuche dreht, doch die hat sie gar nicht nötig.

»Ich weiß nicht, ob Sie mir helfen können …«

»Natürlich kann ich Ihnen helfen, dazu bin ich schließlich da!«, fällt Frau Rüfenacht Milla ins Wort. »Sie müssen mir nur sagen, was Sie wissen wollen.«

Die ältere Dame hinter dem Schalter spricht zwar mit Milla, doch sie strahlt dabei Ivan an, als wolle sie mit ihm flirten. Milla räuspert sich, um die Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken. »Ich interessiere mich für eine Geburtsurkunde aus dem Jahr 1998.«

»Das wird kein Problem sein. Wie heißt denn das gute Kind?«

»Ich kenne den Namen des Kindes leider nicht, nur den Namen der Mutter.«

»Das genügt. Wie hieß die Mutter?«

»Karin Langenberger.«

»Sie sind wegen Kai hier!« Frau Rüfenacht wirft die Hände hoch. »Das war ein Skandal damals!«

Zum gleichen Zeitpunkt, als Milla auf dem Einwohnermeldeamt in Interlaken alles über das damalige Drama erfährt, über das man in der Gemeinde stets geschwiegen hat und von dem trotzdem alle wussten, versucht Bettina an einem Tatort in Bern ebenfalls in die Vergangenheit einzutauchen; in die Vergangenheit von Michael Megert, der tot im Zimmer nebenan liegt. Sie schlägt ihn im Personenregister nach: keine Ehefrau, keine Kinder. Angemeldet in Bern, zugezogen aus Interlaken. Bettina stutzt. Interlaken, wie Langenberger. Zufall?

Sie schaut sich im Wohnzimmer um. Es ist einfach eingerichtet. Die Möbel sind alt. Der Stoff des Sofas ist abgewetzt, es wäre selbst in einem Brockenhaus ein Ladenhüter. Ein schlichter Salontisch aus Holz, der an eine Sitzbank in einer Sportgarderobe erinnert. Es gibt keine Bilder in der Wohnung und keine Bücher. Im einzigen Regal stehen drei nachgebaute Modelllastwagen. Bettina begibt sich in die Küche, öffnet den Kühlschrank. Augenscheinlich war Michael Megert kein großer Koch: Sie findet darin gut ein Dutzend Fertigmenus und noch einmal so viele Flaschen Bier. An der magnetischen Tür ist ein Zettel angebracht, sieht aus wie eine Abrechnung. Die Zahl steht im Minus. Eine Übersicht über unbezahlte Schulden? Bettina öffnet den Küchenschrank über dem Herd. Er ist halb leer: zwei Tassen, drei kleine Teller, ein großer Teller, eine Schale. Im Schrank neben dem Geschirrspüler: ein Kochtopf, eine Bratpfanne, ein Abtropfsieb. Sonst nichts. Entweder war Michael Megert ein sehr bescheidener Mensch, oder er ist gerade nach längerer Abwesenheit in die Schweiz zurückgekehrt und muss sich erst wieder einen Hausrat besorgen. Vielleicht war er im Ausland, überlegt Bettina. Oder im Gefängnis.

»Ich hab was!«, ruft Sandro aus dem Flur. Er steht neben einem Regal mit mehreren Schubladen. In einer hat er ein amtliches Schreiben gefunden. Bettina tritt neben ihn.

»Ein Entlassungsschein«, stellt Sandro fest. »Unser Opfer ist ein Täter, er saß bis vor zwei Jahren in der Strafanstalt Thorberg.«

»Wetten, der saß wegen Vergewaltigung?«

»Wenn er im Knast war, wurde er verurteilt – die anderen Opfer wurden alle freigesprochen. Das passt nicht ins Schema«, wendet Sandro ein.

»Wenn er einmal verurteilt wurde, heißt das nicht, dass er für all seine Delikte verurteilt worden ist. Ich weiß, wer uns da rasch und unbürokratisch weiterhelfen kann.«

»Wer?«

»Ich verrate meine Quellen nicht.«

Bettina zwinkert Sandro zu, obwohl sie es ernst meint. Niemals würde sie Melanies Namen nennen. Sie geht zurück ins Wohnzimmer, dreht sich in der Tür noch einmal um, um sich zu versichern, dass sich Sandro wieder den Papieren zugewendet hat. Sie greift zum Handy und schreibt Melanie eine Textnachricht.

Ich brauche alles über Michael Megert, 11.9.1973, wohnhaft in Bern, aus Interlaken. Verurteilungen aber vor allem auch Verfahren, in denen er nicht verurteilt wurde, falls es solche gibt. Entschuldige, dass ich schon wieder … es ist das letzte Mal. Ich schwöre! Und ich schulde dir was!

Melanie liest die Nachricht sofort und schickt ein Daumen-hoch-Emoji zurück.

Zur gleichen Zeit erhält Milla auf dem Einwohnermeldeamt in Interlaken weit mehr Informationen, als sie sich erhofft hatte.

»Wissen Sie, ich kenne die Langenbergers persönlich. Jetzt ist ja nur noch der Hans-Peter am Leben, seine Frau ist schon gestorben, Krebs.« Frau Rüfenacht setzt einen betrübten Gesichtsausdruck auf.

»Und Kai hat dann ein Kind geboren …« Milla versucht, die Frau dazu zu bringen, etwas schneller auf ihre Frage zurückzukommen.

»Sie waren so tapfer, die Langenbergers. Stellen Sie sich vor, was für ein Schicksalsschlag: Sie haben ein Mädchen geboren, das unbedingt ein Junge sein wollte. Das war zu jener Zeit etwas Außerordentliches, es gab ein Gerede, nicht vorstellbar. Aber die Eltern haben Karins Wunsch akzeptiert und all den Tratsch über ihre Familie stoisch ertragen.«

»Soviel ich weiß, war Karin etwa neunzehn, als das Kind geboren wurde …« Milla versucht erneut, Frau Rüfenacht dazu zu bringen, auf den Punkt zu kommen. Sie nimmt aus dem Augenwinkel wahr, dass Ivan neben ihr schmunzelt.

»Die Nachbarn haben sich den Mund über die Langenbergers zerrissen, ach, was sag ich, das ganze Städtchen! Man hat sie ja gekannt im Ort. Sie waren die Pächter eines Restaurants.«

»Und dann wurde Karin schwanger …«

»Karin hat das Gymnasium besucht und …«

»Und wurde dann im letzten Jahr schwanger?«

»Ja. Das war eine Überraschung. Damit hatte niemand gerechnet.«

»Hatte sie denn einen Freund?«, fragt Milla.

»Nein. Das war das Problem: Wir konnten in der Geburtsurkunde keinen Vater eintragen. Das kommt nicht oft vor in einem kleinen Städtchen wie unserem, wo doch jeder jeden kennt. Aber Karin hat nie jemandem erzählt, wer der Vater ist. Alle haben versucht, sie dazu zu überreden, es wäre doch so viel einfacher gewesen – der Vater des Kindes hätte seinen Beitrag leisten müssen. Aber Karin hat geschwiegen.«

»Sie wissen also bis heute nicht, wer der Vater ist?«

»Es gab natürlich Vermutungen und Gerüchte. Als es heranwuchs, hat man das kleine Mädchen dann auch immer ganz interessiert angeschaut, weil man dachte, dass man den Vater vielleicht in ihm erkennen könnte. Aber herausgefunden hat man es nie.«

»Was waren das für Vermutungen und Gerüchte?«

Frau Rüfenacht blickt über ihre Schulter, als fürchtete sie, jemand stehe hinter ihr und belausche sie.

»Böse Zungen behaupteten, dass Karins Vater Hans-Peter der Vater des Kindes war, zumal das Mädchen dann auch praktisch bei den Großeltern aufwuchs. Aber das habe ich nie geglaubt. Nicht der Hans-Peter. Der hat doch nicht mit seiner Tochter …«

»Uns wurde gesagt, dass Karin möglicherweise vergewaltigt worden sei.«

»Aber das hätten wir doch erfahren. So etwas kann man nicht unter dem Deckel halten, oder? Jemand hätte davon gehört, wenn eine Vergewaltigung bei der Polizei angezeigt worden wäre.«

Milla ist sich nicht so sicher wie die Frau hinter dem Schalter, selbst in einem Ort, in dem Gerüchte sich schneller verbreiten als Läuse im Kindergarten, kommt nicht alles ans Licht. Zudem ist sie sicher, dass die Vergewaltigung nicht angezeigt wurde.

»Lebt Kai Langenbergers Tochter noch hier?«, fragt sie stattdessen.

»Nein, schon lange nicht mehr. Während Kais Studium lebte sie bei ihren Großeltern. Doch irgendwann ist sie dann doch zu Kai nach Bern gezogen. Hans-Peter hat mir mal erzählt, dass sie am Universitätsspital Insel arbeitet, als Assistenzärztin. Aber mehr weiß ich nicht.«

»Können Sie mir sagen, wann Kai Langenbergers Tochter geboren wurde und wie sie heißt?«

»Aber natürlich, darum sind Sie ja hier, das hätte ich jetzt fast vergessen! Ich bin gleich zurück.« Mit einem Kichern verschwindet die Frau in einem Nebenraum. Sie muss nicht lange suchen.

»Hier haben wir es!« Frau Rüfenacht strahlt, als sie wieder hinter dem Schalter erscheint und ein Papier in den Händen schwenkt. Sie legt die Geburtsurkunde vor Milla auf den Tresen.

Während Milla in Interlaken das Papier entgegennimmt und sich von Frau Rüfenacht verabschiedet, meldet Bettinas Handy, dass eine Textnachricht eingegangen ist.

Kannst du telefonieren?, schreibt Melanie.

Ja, in fünf Minuten.

»Sandro, ich bin rasch draußen!«, ruft Bettina. Sie greift zu ihrer Tasche, geht über das Treppenhaus hinaus in den Garten, macht ein paar Schritte um die Hausecke herum, lehnt sich an die Mauer und wartet, bis das Telefon klingelt. Es zeigt eine unbekannte Nummer an. Melanie ruft wieder aus einer Telefonkabine an.

»Flückiger.«

»Bettina, hier Melanie. Also, Michael Megert wurde vor fünf Jahren wegen Vergewaltigung und sexueller Nötigung zu drei Jahren Gefängnis verurteilt.«

»Weißt du, wie das Opfer hieß?«

»Eine Esther Stamm, wohnhaft in Bolligen. Gemäß der Anklageschrift hat er sie nicht gekannt und auf ihrem Nachhauseweg überfallen.«

»Okay, danke.«

»Warte, ich bin noch nicht fertig. Das war nicht sein erstes Delikt. Er hat vor vielen Jahren schon mal vor Gericht gestanden.«

»Und ist freigesprochen worden?«, rät Bettina.

»Exakt. Ein Sexualdelikt. Ebenfalls Vergewaltigung. Aber es konnte ihm nicht nachgewiesen werden.«

»Wer war das Opfer?«

»Achtung, jetzt kommt’s: Das Opfer hieß Karin Langenberger. Womöglich ist sie mit unserem Staatsanwalt verwandt! Eine Schwester?«

Sie sind sogar sehr nahe Verwandte, denkt Bettina, aber die Schwester ist es nicht. Laut sagt sie: »Wann wurde Karin Langenberger vergewaltigt?«

»Das Delikt soll am 30. Juli 1997 begangen worden sein.«

»Danke, Melanie, du warst mir eine große Hilfe. Ich weiß das sehr zu schätzen.«

Als Bettina den Anruf beendet hat, lehnt sie den Kopf gegen die Hausmauer und blinzelt in die Sonne. Sie versucht, ihre Gedanken zu ordnen. Der Mann, der hinter dieser Mauer tot in seinem Bett liegt, ist ein Vergewaltiger. Eines seiner Opfer war Kai Langenberger, als er eine junge Frau war. Derselbe Kai Langenberger, der bei allen anderen Opfern die Anklage führte. Der gestanden hat, die Männer umgebracht zu haben. Der aber seinen eigenen Vergewaltiger, der auf die gleiche Art und Weise getötet worden ist, nicht umgebracht haben kann – weil er die Tatnacht in einer Zelle im Untersuchungsgefängnis verbrachte.

Was für ein verrückter und verworrener Fall. Statt Klarheit zu gewinnen, blickt Bettina überhaupt nicht mehr durch; vor sich nichts als dichter Nebel, der sich schwer und grau ausgebreitet hat. Sie versteht nicht, was das alles zu bedeuten hat. Sie ahnt zwar, dass die Lösung zum Greifen nahe ist, doch alles, was auf den ersten Blick eindeutig erscheint, ergibt auf den zweiten plötzlich keinen Sinn mehr.

»Hier bist du!« Sandro tritt um die Ecke. »Florence hat sich gemeldet. Sie hat etwas gefunden. Die Überwachungskamera des Spielwarengeschäfts gegenüber der Telefonkabine hat eine Frau gefilmt, die zur fraglichen Zeit einen Anruf getätigt hat. Das muss unsere anonyme Anruferin sein, die das Delikt gemeldet hat.«

»Oder unsere Mörderin. Ist die Frau erkennbar?«

»Vage. Florence versucht, mit Gesichtserkennungsprogrammen herauszufinden, wer es sein könnte. Bisher ohne Erfolg. Es ist eher eine junge Frau, langes schwarzes Haar.«

Erneut klingelt Bettinas Telefon. Melanie, denkt sie, und nimmt den Anruf an.

»Flückiger.«

»Bettina, hier ist Milla, ich weiß nicht, ob es wichtig ist, aber ich habe noch etwas herausgefunden.«

Bettina blickt zu Sandro. Er kann nicht ahnen, dass sie seine Freundin in der Leitung hat. Sie tritt etwas zur Seite, um zu verhindern, dass er Millas Stimme durchs Telefon hört.

»Über Langenberger?«

»Ja. Ich war gerade in Interlaken auf dem Einwohnermeldeamt. Und bei einem Schulfreund Kais. Kai Langenberger hat eine Tochter. Sein Freund glaubt, dass die damalige Karin nach einer Vergewaltigung schwanger geworden ist.«

Bettina richtet sich auf, ihr Körper steht auf einen Schlag unter Hochspannung. Sie schaut Sandro in die Augen, während sie mit Milla spricht.

»Wann ist Kai Langenbergers Tochter auf die Welt gekommen?«, fragt sie Milla.

»Am 27. April 1998.«

»Und wie lautet ihr Name?«

»Hannah Langenberger.«