83.

»Wir haben Kai Langenberger vor einer halben Stunde entlassen.« Bettina liest Erleichterung in den Gesichtern ihrer Kolleginnen und Kollegen. Es wird die letzte Sitzung der Soko High Heels sein. Der Fall ist gelöst. Es gibt keine Worte, die beschreiben könnten, wie froh sie darüber ist, auch wenn sie sich eine andere Täterschaft gewünscht hätte. »Seine Tochter Hannah Langenberger konnte in ihrer Wohnung festgenommen werden. Sie war dabei, ihren Suizid vorzubereiten. In einem Abschiedsbrief hat sie alle Taten gestanden und ihren Vater entlastet. Die beiden haben sich offenbar rege über seine Fälle ausgetauscht. Er hat ihr teils auch Einblick in die Anklageschriften gewährt. So hat sie sich die Männer ausgesucht, die ihrer Ansicht nach mit dem Tod bestraft werden mussten. Das letzte Opfer von Hannah Langenberger war ihr eigener Vater, oder eher ihr Erzeuger: Der Mann, der vor fünfundzwanzig Jahren die damalige Karin Langenberger vergewaltigt hatte, bevor sie ihre Transition begann. Kai Langenberger hat sein Amt als Staatsanwalt niedergelegt. Er hat ausgesagt, er sei zunächst ahnungslos gewesen. Doch als er realisierte, dass er selbst all die Männer angeklagt hatte, kam ihm das Ganze doch komisch vor. Schließlich stellte er fest, dass sein Taser verschwunden war. Auch wusste er, dass seine Tochter als angehende Ärztin am Spital Zugriff auf Morphin hatte. Von dem Moment an hat er versucht, sie zu decken, darum auch das falsche Geständnis. Wir werden gegen ihn ein Verfahren wegen Irreführung der Rechtspflege eröffnen.«

»Es ist schrecklich. Die brutalen Delikte sind mit aller Schärfe zu verurteilen, und doch tut mir die Familie Langenberger leid. Diese Tragik!« Malou blickt in die Runde und schüttelt den Kopf. »Überdies hat Hannah Langenberger mit dem Mord an Clemens Eisenschmid höchstwahrscheinlich zufällig einen weiteren, gegen Frauen gerichteten Terroranschlag verhindert.«

Niemand widerspricht. Das Schicksal ist manchmal zu gewaltig, als dass man es verstehen könnte.

»Ich habe noch etwas zum Fall Eisenschmid.« Florence beendet die Stille, bevor sie zu viel Raum einnimmt. »Wir haben bei der Durchsuchung seiner Wohnung die Kamera gefunden, mit der Nathaniel Brenner seine eigene Geiselnahme filmte.«

»Die Aufnahme ist noch intakt?«, fragt Bettina.

»Eisenschmid hat sie nicht mal gelöscht, er fühlte sich wohl sehr sicher«, antwortet Florence. »Ich habe Nathaniel Brenner aufs Präsidium bestellt. Wenn er die Männer aufgrund ihrer Stimmen identifizieren kann, werden wir sie kriegen. Und zwar nicht nur wegen Geiselnahme und Freiheitsentzug, sondern auch wegen Vorbereitung eines Terroranschlags.«

»Großartig!« Bettina klatscht in die Hände.

»Gute Arbeit«, kommentiert Sandro.

»Auch Thomas Sahli wird nicht ungeschoren aus der Sache rauskommen«, fährt Florence fort. »Ich habe auf seinem Server einschlägige Chats gefunden. Anhand dieser können wir ihm zumindest Anstiftung zu einer Straftat vorwerfen. Wir müssen uns mit der nationalen Stelle für Cyber-Kriminalität in Verbindung setzen; wir sollten die Szene der Incels künftig genauer beobachten.«

»Das sind sehr gute …« Bettina hält mitten im Satz inne und schaut auf ihr Handy, das auf dem Tisch vibriert. Sie erkennt die Nummer sofort. Es ist Doktor Fischer aus dem Inselspital. »Bitte entschuldigt mich, dieser Anruf ist wichtig, ich muss rangehen.«

Noch während Bettina spricht, verlässt sie das Sitzungszimmer. Petra, denkt sie. Petra muss aufgewacht sein. Kaum hat sie die Tür hinter sich geschlossen, drückt sie auf den grünen Punkt.

»Flückiger.«

»Frau Flückiger, hier Martin Fischer. Sie müssen sofort kommen. Es sind Komplikationen aufgetreten. Es sieht nicht gut aus. Bitte kommen Sie so schnell Sie können.«

Bettina rennt. Sie rennt so schnell wie nie zuvor in ihrem Leben. Ihre Hand zittert, als sie den Wagen startet. Sie sollte in ihrer Aufregung nicht fahren, doch sie drückt aufs Gas, rast wie eine Wahnsinnige zum Inselspital, lässt den Wagen vor dem Eingang stehen, stürzt hinein, rennt und rennt und denkt, es darf nicht sein, nicht sein, nicht Petra, keine Komplikationen, wo sie doch gerade erst dabei war, zu ihr zurückzukehren. Noch bevor sie bei Petra ankommt, tritt ihr Martin Fischer vor der Tür der Intensivstation entgegen, und sie sieht in seinem Gesicht, was sie nicht sehen will, was sie nicht wissen will, was nicht sein darf.

»Frau Flückiger, es tut mir leid.«

»Nein!« Bettina schreit und schreit und schreit und stürzt, weil ihre Knie sie nicht mehr tragen. Martin Fischer hält sie fest, drückt sie an sich, als sie zu schluchzen beginnt. Der Schmerz nimmt ihr den Atem und erschüttert ihren Körper. Ihr Kopf ist leer, ohne Worte, da ist nur noch eine abgrundtiefe Schwärze. Ein unendlich großes, undurchsichtiges Nichts.

»Nach der Stabilisierung von Petras Zustand und dem langsamen Aufwachen hat sich leider eine schwere Lungenembolie entwickelt«, sagt Martin Fischer, als sich Bettinas Atem etwas beruhigt hat. »Ein Blutgerinnsel in den Lungenarterien, was zu einem akuten Herzversagen geführt hat. Wir haben alles getan, um sie zu retten, aber wir haben den Kampf schließlich verloren. Es tut mir aufrichtig leid.«

Die Worte des Arztes kommen von sehr weit weg. Bettina versteht sie, aber sie begreift sie nicht. Sie weiß einzig mit jeder Faser ihres Körpers, dass Petra nicht mehr da ist, dass sie sie verloren hat.

»Möchten Sie zu ihr?«

Bettina hat keine Worte mehr. Sie nickt nur und lässt sich von Martin Fischer auf die Station begleiten. Petra liegt im Bett, sie haben sie noch nicht weggebracht, noch nicht ins Kühlfach gesteckt, noch nicht in den Sarg gelegt, noch liegt sie da, als würde sie nur schlafen. Die Schläuche sind weg. Sie sieht sehr blass und friedlich aus. Bettina tritt ans Bett, geht davor auf die Knie, hält sich an Petra fest und spürt, dass es nur noch ein toter Körper ist. Petra ist nicht mehr da, sie ist bereits gegangen. Bettina steht auf. Legt ihren Mund auf die kalte Stirn. Der letzte Kuss.

Sie wendet sich ab, reicht Martin Fischer stumm die Hand und verlässt die Station und das Spital und fährt wie betäubt nach Hause.

In der Wohnung, an deren Tür ihr und Petras Namen stehen, setzt sie sich an den Küchentisch. Bleibt sitzen, sie weiß nicht wie lange, Zeit hat keine Bedeutung mehr. Ihre Wohnung fühlt sich nicht mehr an wie ihr Daheim. Alles ist ihr fremd geworden. Irgendwann steht sie auf, begibt sich zum Computer, bearbeitet ein Formular, druckt es aus. Setzt sich wieder an den Tisch. Greift zum Handy. Sie muss die Nummer nachschlagen, sie weiß sie nicht mehr auswendig. Zu viele Jahre sind vergangen, seit sie das letzte Mal dort angerufen hat, seit ihr die Eltern gesagt haben, dass sie nicht mehr ihre Tochter sei, wenn sie eine Frau liebe. Weil sie sich schämten, in dem Dorf, sich dafür schämten, eine Tochter zu haben, die anders ist.

Sie gibt die Nummer ein. Lässt es klingeln.

»Flückiger.«

»Mama, hier ist Bettina.«

»Bettina! Klaus, es ist Bettina!«

»Geht es dir gut?«

»Ja, danke, es geht, uns geht es gut. Dass du jetzt anrufst! Wie geht es dir, es ist so lange her!«

»Ich wollte euch mitteilen, dass heute meine Lebenspartnerin Petra gestorben ist. Die Frau, mit der ich zusammenlebte, die die Liebe meines Lebens war.«

»Nein! Bettina, das tut mir …«

»Und ich wollte euch sagen« – Bettina fällt ihrer Mutter ins Wort – »dass ich euch verzeihe – und dass ich euch bitte, mir ebenfalls zu verzeihen.«

»Bettina …«

»Macht’s gut.«

Bettina klickt den Anruf weg. Schaltet das Handy aus. Steht auf. Bindet sich die Waffe um. Geht raus, steigt in den Wagen, fährt los, parkt vor dem Amtshaus, in dem Gericht und Regionalgefängnis untergebracht sind.

»Hallo Martin, ich habe einen Vorführungsbefehl für Sascha Vogt«, sagt Bettina zum Kollegen, der neben der Schleuse des Gefängniseingangs sitzt. »Ich muss ihm nur kurz eine dringende Frage stellen, bevor wir morgen mit der Einvernahme fortfahren. Kann mich jemand zu ihm bringen?«

»Klar.« Der Summer der Schleuse ertönt. Martin hat nicht mal auf das Papier geblickt. Sie ist drin.

»Warte einen Moment, es kommt gleich jemand«, dröhnt Martins Stimme aus dem Lautsprecher.

Auch den Vollzugsbeamten, der Bettina abholt, kennt sie seit Jahren.

»Kurt, heute verpasst du ganz ordentlich die Sonne draußen«, sagt sie zur Begrüßung.

»Du kannst hier gerne für mich übernehmen«, lacht er. »Es geht um Sascha Vogt? Soll ich ihn holen lassen?«

»Nein, lass nur, bring mich zu seiner Zelle, es dauert nicht lange.«

Kurt geht voraus, er schließt erst ein Gitter auf, dann die Tür zum Treppenhaus. Sie gehen zwei Stockwerke hoch, wieder rasseln seine Schlüssel, ein anderer Gang, gesäumt von dunkelgrünen Eisentüren zur Rechten wie zur Linken.

»Unser ach so tougher Massenmörder führt sich bei uns auf wie ein verschrecktes Lämmchen«, hört Bettina Kurt vor sich sagen.

Er stoppt an der Tür mit der Nummer siebenundzwanzig und öffnet die kleine Klappe auf Augenhöhe.

»Vogt! Sie haben Besuch.«

Kurt schließt die Tür auf.

»Ich lasse die Klappe offen«, sagt er zu Bettina.

Sie nickt.

Als sie in die Zelle tritt, schnellt Sascha Vogt vom Bett hoch und blickt sie voller Entsetzen an, er rückt panisch von ihr weg, presst sich an die Wand. Genau wie damals im Bauernhaus seiner Großmutter, als sie ihn gefunden hat. Die Zeit verschwimmt. Bettina nimmt ihre eigenen Bewegungen wie in Slowmotion wahr. Wie sie zum Holster greift, die Waffe zieht. Entsichert. Den Arm hebt. Zielt. Den Finger auf den Abzug legt. Sie ist bereit für alles, was jetzt kommt.