Zwischen ihnen die Glaswand.
Kai hält die Hand an die Scheibe. Hannah drückt ihre dagegen. Gleich große Hände.
Einen Moment lang stellt Kai sich vor, er sei nicht der Mann hier auf diesem Stuhl, dessen Haare grau geworden sind und langsam schütter werden – sondern eine Fliege, die in der oberen Zimmerecke sitzt und auf sie herunterstarrt. Wie sie sich hier gegenübersitzen: er, der Vater, Hannah, die Tochter. Er, der ihre Taten gestanden hat und den man trotzdem gehen ließ. Sie, die nach den Taten sterben wollte und die man nicht hat gehen lassen.
Kai und Hannah greifen gleichzeitig zum Hörer, der neben ihnen hängt. Beide schweigen. Worte sind nicht groß genug, um ihre Gefühle zu erfassen. Sie schauen sich in die Augen, die sich mit Tränen füllen. Kai lässt sie fließen. Hannah wischt ihre energisch weg.
»Danke, dass du gekommen bist.« Ihre Stimme klingt brüchig.
»Ich bin froh, dass du noch lebst.«
»Ich wäre lieber gestorben.«
»Ich weiß.«
»Wirst du mir verzeihen können?«
»Dass du sterben wolltest?«
»Dass ich getötet habe.«
»Ich habe dir längst verziehen.«
»Es gab für mich keine andere Möglichkeit, ich musste diesen Weg gehen.«
»Ich habe den Brief gelesen. Ich verstehe es.«
»Du verstehst mich?«
»Ich kenne die Wut in dir. Ich weiß, was die Wut mit Menschen machen kann, die Wut und der Hass. Ich wünschte, ich hätte es eher erkannt. Ich wünschte, ich hätte dir helfen können.«
»Ich glaube nicht, dass du mir hättest helfen können. Der Weg war vorgezeichnet, als hätte es bereits bei meiner Geburt einen fertigen Plan gegeben. Es war nicht zu verhindern.«
»Nein, es ist mein Fehler. Ich hätte, ich … ich hätte dir besser zuhören sollen, ich hätte für dich da sein sollen. Ich hätte dir helfen sollen, die Dämonen zu vertreiben.«
»Da sind keine Dämonen. Das bin ich. Du hättest mich vermeiden sollen. Jetzt, im Nachhinein, jetzt, wo du das Ende kennst – wünschst du dir nicht, dass du mich damals abgetrieben hättest?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Du bist meine Tochter. Du wirst immer meine Tochter sein. Ich bin glücklich, dass es dich in meinem Leben gibt.«
»Ich habe alles kaputtgemacht. Es tut mir leid.«
»Unsere Geschichte hat uns zu dem gemacht, was wir sind.«
»Wenigstens ist er tot.«
»Ich bin froh, dass er tot ist. Aber ich könnte mich nur freuen, wenn nicht du ihn getötet hättest.«
»Er wird nie wieder jemandem wehtun.«
»Ich werde dir den besten Anwalt besorgen.«
»Nein, lass es bleiben. Es ist in Ordnung, so wie es ist. Ich werde nun dieses andere Leben führen.«
»Hannah …«
Der Druck auf Kais Brust nimmt ihm den Atem. Der Schmerz in seinem Herzen ist schwarz und hässlich. Er gäbe alles dafür, um mit seiner Tochter tauschen zu können. Sie ist zu jung. Nicht sie, er sollte dort drüben auf der anderen Seite sitzen.
»Papa, es ist gut.«
»Hannah, ich bin stolz auf dich. Ich bin stolz darauf, dein Vater zu sein. Dein Muttervater. Ich liebe dich.«
»Ich liebe dich auch.«
Kai und Hannah erheben sich gleichzeitig vom Stuhl. Pressen zum Abschied die Hände aneinander, zwei gleich große Hände, einzig die Glasscheibe dazwischen. Die Glasscheibe, die Welten trennt.
Ende