FÜNF

Staatsanwalt Aaron Nilsson setzte sich flott – Augenhöhe war dem großen Mann sehr wichtig – und ließ sich von der Hauptkommissarin auf den neuesten Stand bringen. Er gab sich beeindruckt davon, was die zügige Auswertung von Geräten und Akten alles ans Licht gebracht hatte.

»Das sind ja einige Ansätze, die in andere Bereiche delegiert werden können, das sollten wir schleunigst machen.«

Da kannte er den Plan von Karin Krafft nicht, ihr Widerstand folgte unverzüglich.

»Stopp, nicht so schnell. Das eine sind die Informationen über betrügerische Aktivitäten in großem Ausmaß. Das andere sind unsere Ermittlungen zu möglichen Motiven im Mordfall. Es wird jetzt nicht in anderen Abteilungen nachgeforscht, wer sich hinter Mr. OLOL verbirgt und was der Autohändler auf der anderen Rheinseite für dunkle Geschäfte macht. Das kann alles warten, bis wir fertig sind.«

Aufrecht vor dem Schreibtisch sitzend musste Karin trotzdem in einem bestimmten Winkel hochschauen, um Nilsson in die Augen zu blicken, er schien nachzudenken.

»Bis ihr fertig seid, ist vielleicht der eine oder andere so aufgeschreckt, dass er sich zurückzieht, das können wir nicht riskieren. Das Wissen über einen Verdacht oder eine Straftat –«

Sie unterbrach ihn unwirsch. »Nein, Aaron, auf gar keinen Fall grätschst du mir da in die laufenden Ermittlungen. Ich will wissen, wer eine gerade glücklich verheiratete Frau in ihrer Anwesenheit zur Witwe gemacht hat, eine ungeheuerliche Tat. Ich will diesen Fall zügig aufklären, das hat oberste Priorität. Und ich will, dass du hinter mir und dem K1 stehst, denn unter Umständen wird unsere Frau van den Berg auf ähnliche Gedanken kommen. Ich verspreche dir, dass wir die ganzen Erkenntnisse zu möglichen anderen Delikten protokollieren. Das Dezernat Betrug braucht nur zu reagieren, wenn wir fertig sind.«

Nilsson schien zu verstehen, was sie meinte, war jedoch noch nicht zu hundert Prozent überzeugt. »Ich denke darüber nach. Halte mich auf dem Laufenden.«

»Heute ist kleine Lage um siebzehn Uhr, komm doch dazu.«

Bevor er antworten konnte, klingelte Karins Telefon, er stand auf, sie folgte ihm nach einem kurzen Gespräch. »Ich komme mit dir nach unten.«

»Was gibt es?«

»In der Wache wartet Besuch auf mich. Du hast die Gelegenheit, die Witwe und ihre Freundin kennenzulernen, die übrigens als Trauzeugin in Marienbaum mit dabei war. Du kannst den beiden ja direkt erklären, dass sich die Ermittlungen splitten, mal schauen, wie sie darauf reagieren.«

Nilsson lachte laut, während er und Karin lockeren Schrittes die fünf Etagen hinunterliefen. »Du kriegst wohl immer, was du willst, oder?«

»Das Wichtigste auf jeden Fall.«

Karin Krafft verabschiedete den Staatsanwalt und holte Marisa und ihre Freundin Mika unten im Wartebereich bei der Wache ab. Sie hatten darum gebeten, die Hauptkommissarin zu sprechen.

In deren Büro angekommen, setzte Marisa sich angespannt auf die Kante des Stuhles, den Karin ihr anbot, während sie den Bildschirmschoner aktivierte und auf ihrem Schreibtisch zwei Aktenordner zuklappte. Sie bemerkte die Nervosität, die Marisa ausstrahlte.

»Kann ich Ihnen einen Kaffee anbieten oder ein Glas Wasser?«

Beide verneinten.

»Was kann ich denn für Sie tun?«

Mit einem Blick auf ihre Freundin, die sich die schweißfeuchten Hände rieb, übernahm Mika das Sprechen. »Ich … wir dachten uns, es ist einfacher, alle Fragen direkt zu stellen, statt zu telefonieren.«

Sie erläuterte das finanzielle Dilemma und den formalen Gang, den alles nun nehmen musste, bevor sich die Lage für Marisa und das Restaurant entspannen konnte.

»Gestern haben wir mit Jojos bestem Freund, dem Anwalt Deventer, gemeinsam überlegt, wie es weitergehen kann. Er hatte die Idee, dass Marisa ihr kostspieliges Hochzeitsgeschenk so schnell wie möglich veräußern sollte.«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Wir haben den Kraftfahrzeugbrief gefunden, in dem ist ganz eindeutig Marisa Tauber-Schwan als Eigentümerin eingetragen. Daraufhin haben wir den Wert des Wagens gegoogelt und sehen durch den Verkauf große Chancen, dass nicht nur die Eröffnung des Restaurants, sondern auch für mehr als ein halbes Jahr der Betrieb mit allen anstehenden Kosten gewährleistet ist. Bis dahin sind hoffentlich die Eigentumsverhältnisse und Erbangelegenheiten geklärt.«

Schlau, das Auto zu verkaufen, um damit die laufenden Rechnungen zu begleichen, ging es Karin durch den Kopf. »Was kann ich jetzt für Sie tun? Haben Sie vielleicht einen Verdacht, den Tod von Jojo Schwan betreffend?«

Marisa schüttelte den Kopf und beugte sich vor. »Nein, mir fällt niemand ein, der Jojo Böses wollte, und die anderen sind auch ratlos. Vielleicht war es ja echt ein Irrer, der einfach nur töten wollte. Haben Sie denn nichts Neues?«

»Nein, bedaure.«

»Dann komme ich zu der eigentlichen Frage. Sie werden uns sicherlich darüber informieren, wann und wo wir den Wagen abholen können?«

»Oh, ja sicher, ich rufe eben den zuständigen Kollegen an.«

In einem kurzen Gespräch mit der Spurensicherung nickte Karin, reckte den Daumen in die Höhe, Marisa gab sich erleichtert.

Doch dann beendete Karin das Gespräch mit einem langen Seufzer, lehnte sich zurück und schaute abwechselnd von einer Frau zur anderen. »Theoretisch können wir hinuntergehen, ich zeige Ihnen den Weg, und Sie können den Wagen sofort mitnehmen.«

Marisa schluchzte auf, Mika griff ihre Hand, beide erhoben sich, Karin bat sie, sich wieder zu setzen, und fuhr fort.

»Ich muss Ihnen noch etwas sagen. Der Kollege machte mich gerade darauf aufmerksam, dass das Innere des Fahrzeugs ein Bild des Schreckens bietet, und schlug vor, dass er Ihnen die Adresse eines Tatortreinigers gibt. Das sind Fachleute, die sich mit den, wie soll ich sagen, Spuren und Hinterlassenschaften von Verstorbenen auskennen und wissen, wie sie diese beseitigen. Er sendet mir gleich mehrere Kontaktadressen per E-Mail.«

Marisa sammelte sich, nickte. Mika schluckte. »Daran habe ich überhaupt nicht mehr gedacht. Wir fanden die Idee so genial gestern Abend, alle Probleme schienen mit einem Mal in die Nähe einer Lösung zu rücken.«

Die Aussicht, aus der finanziellen Klemme zu kommen, klar. Karin nahm den Faden wieder auf. »Wissen Sie, Ihre Geschichte hat hier alle bewegt. Der Wagen könnte hier unten in der Garage gereinigt werden, solange der Platz nicht anderweitig gebraucht wird. So sparen Sie Zeit und Kosten für den Transport, den der Reiniger Ihnen berechnen müsste. Es passiert sehr oft, dass die Menschen nicht daran denken, was der Tod hinterlässt.«

Marisa schaute Karin mit strengem Blick an. »Und Sie haben noch lauter Unterlagen von Jojo. Wir brauchen Nachweise über Versicherungen, weil ich mich da melden muss.«

»Bedaure, den Kollegen ist auch aufgefallen, dass nirgendwo etwas über Versicherungen steht. An der Auswertung der losen Papiere in dem Koffer war ich selber beteiligt, da ist auch nichts dabei, das Ihnen weiterhilft. Das sind Papiere, die noch hierbleiben, alles andere können Sie wieder mitnehmen.«

Mika horchte auf. »Warum behalten Sie einen Teil der Papiere?«

Karin versuchte die beiden Frauen so behutsam wie möglich damit zu konfrontieren, dass Jojo Schwans Karriere und Wohlstand teilweise auf der Verwendung von minderwertigen oder gefälschten Lebensmitteln basierten und sie die Herkunft und den Handel nun unter die Lupe nahmen.

»Offenbar wurden die Lieferungen einer unbekannten Firma, lediglich mit OLOL bezeichnet, viele Jahre lang bar bezahlt. Zusätzlich ist immer ein vertraglich festgelegter Betrag als ›Gebühr für die sichere Lieferung‹ gezahlt worden. Nur ein Minimum der Lebensmittel wurde in Großmärkten und im Direktverkauf erworben, das ist ordentlich in den alten Ordnern der vorigen Küche vermerkt, da liegen komplette Papiere mit Adressen, Liefernummern und Steueridentifikation vor. Die Gewinnspanne ist enorm, und unsere Kollegen gehen davon aus, dass zwangsläufig auch das Finanzamt betrogen wurde.«

Die Frauen reagierten entsetzt, das konnten sie sich nicht vorstellen. Marisa stand so hektisch auf, dass der Stuhl hinter ihr umkippte, gestikulierte mit ausgestrecktem Zeigefinger in Karins Richtung.

»Sie lügen doch! Sie wollen ihn nur schlechtmachen! Hüten Sie sich davor, diese Gerüchte in Umlauf zu bringen, ich will am Wochenende das Restaurant eröffnen, ich muss doch seinen Traum verwirklichen. Ich muss schließlich davon leben.«

Mika stellte den Stuhl wieder auf, zwang ihre Freundin, sich zu setzen, und richtete sich an die Hauptkommissarin.

»Wir geben das alles in die Hand von Marisas Anwalt, Adrian Deventer. Ich sage Ihnen gleich seine Telefonnummer und reiche Ihre an ihn weiter. Alle anfallenden Fragen richten Sie zukünftig bitte an ihn, Marisa bricht sonst noch zusammen. Mein dringliches Anliegen ist nur, dass Sie alles unter Verschluss halten. Und jetzt schauen Sie doch eben nach den Telefonnummern von diesem speziellen Reinigungspersonal, der Wagen soll schnell zurück zu Noble Cars in Xanten-Birten. Marisa braucht das Geld ganz dringend.«

Karin schaute in ihre E-Mails und druckte die kleine Telefonliste mit Namen und Adressen aus, schob sie den Frauen über den Schreibtisch zu.

Ob sie ihnen von den windigen Geschäften des Autohändlers erzählen sollte? Karin entschied sich dagegen, ein Schock im Rahmen eines Gesprächs reichte.

Eine Bemerkung konnte sie sich dennoch nicht verkneifen. »Googeln Sie am besten noch nach anderen Händlern und wählen Sie das beste Angebot. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg.«

Karin hatte die Frauen bewusst über den Ermittlungsstand zu den Lebensmitteln informiert, und es schien, als hätten beide keine Ahnung von den Machenschaften gehabt. Morgen sollte eine neue Lieferung ankommen. Sie würden vor Ort sein, um den Vorgang zu beobachten. Der Lieferant würde verfolgt werden, damit sie Kenntnis über eine Zentrale erlangen konnten. Morgen würde sich herausstellen, ob Marisa von dem Vorgang wusste oder nicht.

Bei allem, was die Webseite des Restaurants hergab, stellte man sich unter der gemeinsamen Leitung durch Marisa und Jojo Schwan etwas Großes vor. Nun gab es einen toten Eigentümer und eine völlig ahnungslose Witwe, der einzig und allein ein altes, wertvolles Cabrio gehörte. Innerlich horchte die Hauptkommissarin bei dem Gedanken auf, während die beiden Frauen ihr Büro verließen. War es Jojo Schwans bewusst gewählter Plan gewesen, sein Geld in Sicherheit zu bringen, indem er seiner Angetrauten eine Viertelmillion Euro in Form von altem Blech und Leder schenkte?

Ein genialer Gedanke.

***

In der Küche des »Schwan« ging es rund. Marius Hirtel übernahm das Kommando, sein Einkauf wurde versorgt, gekühlt, verstaut, frisches Gemüse und Erdbeeren hatte er bestellt. Er hatte den Ehrgeiz, alles aufzubieten, um den perfekten Start für den »Schwan« zu kreieren. Er scheuchte die Beiköchin zwischen seinem Transporter und der Kühlkammer hin und her, die beiden Hilfskräfte wurden eingewiesen. Anreichen, Säubern von Arbeitsflächen und Geräten, Spülen, Polieren von Gläsern, Geschirr und Besteck und alles ohne Schaden wieder verstauen, all das wollte auf engem Raum geübt sein.

Er war ein guter Küchenchef, fand er, solange alle um ihn herum ihre Aufgaben kannten, die er zwischendurch immer wieder abfragte.

Die Beiköchin Luisa Kramer arbeitete mit versteinertem Gesichtsausdruck. Hirtel erkannte den Zorn hinter ihren routinierten Handgriffen und nutzte eine ihrer Zigarettenpausen, die sie hinter dem Haus bei den Containern verbrachte, für ein Gespräch.

»Was hast du?«

»Nichts. Wieso?«

»Ey, erzähl mir nichts, du bist so sauer. Manchmal glaube ich, ein Funke könnte reichen, um die Messer durch die Küche fliegen zu lassen. Warum? Habe ich dir was getan?«

Sie drückte die Zigarette im Sand des Aschekübels aus und wollte sich abwenden.

»Nee, Luisa, du bleibst jetzt mal hier und redest Tacheles. Was ist los mit dir?«

Blitzschnell drehte sie sich um und stand so nah vor ihm, dass er ihren rauchigen Atem wahrnahm. »Was los ist?« Sie wies auf den Eingang zur Küche. »In vier Tagen eröffnet dieses Restaurant, dessen Erbauer mit seinem Ruf über den unteren Niederrhein hinaus bekannt war. Ich habe die Reservierungen gesehen, da kommen Leute aus Krefeld und Düsseldorf, um die Küche von Jojo Schwan und sein neues Haus zu feiern. Alles ist vorbereitet, wir haben alles geprobt, mit ihm zusammen, das lief wie am Schnürchen.«

Hirtel trat einen Schritt zurück. »Ja, ich weiß, ich war doch dabei.«

Luisa lachte hämisch auf. »Genau, du warst dabei als zweiter Koch. Und Jojo war der Chef.«

»Ja, und? Jetzt ist er leider nicht mehr da, aber der Laden muss laufen. Einer muss doch bestimmen, wo es langgeht, das bin jetzt ich. Wo ist das Problem?«

Sie schaute voller Abscheu und tippte heftig mit dem Zeigefinger gegen seine Kochjacke. »Du bist das Problem. Du kriegst ja nicht einmal eine einfache Bratenjus hin, nach der man sich die Finger leckt. Alles ist so lala. Und dein Ton ist überheblich. Die Hilfskräfte werden das nicht lange mitmachen. Du hast keine Ahnung von gehobener Küche und führst dich auf wie ein Sternekoch! Dabei bist du nur eine armselige Küchenratte, die sich aufspielt wie der große Boss.«

Hirtel wischte ihre Hand mit einer groben Bewegung zur Seite. »Fass mich nicht an und pass auf, was du sagst. Genau das bin ich, der Chef. Und ein Chef kann auch bestimmen, wer kommt und wer geht.«

Mit verächtlichem Schnauben stand sie vor ihm und nickte. »Ja, du bist der Chef, der sich langsam an die Witwe heranwanzt, sich einschleimt. Du willst die Küche und die Frau. Meinst du, das merkt hier keiner?«

»Du spinnst ja. Erzähl diesen Scheiß bloß nicht herum.«

»Sonst was? Willst du mir drohen? Ich kannte Jojo, da war er noch zweiter Koch auf dem Hülser Berg, der hat sich richtig gut entwickelt. Mich hat er immer mitgenommen und dort untergebracht, wo er gerade neu anfing. Immer zu guten Konditionen. Weil wir ein gutes Team waren. Jojo konnte nicht nur kochen, der konnte auch gut mit Menschen umgehen. Einfühlungsvermögen hatte er, ich glaube, du kennst das Wort nicht einmal.«

Jetzt wurde Hirtel zornig, baute sich vor ihr auf. »Was willst du?«

Ihre Köpfe berührten sich fast, Spucketröpfchen flogen und landeten beim Gegenüber.

»Ich will mitreden und mitkochen. Ich will, dass der Laden hier mit Qualität glänzt und läuft. Ich will die Position, die mir zusteht. Ich werde mich darum bewerben und erste Köchin sein, weil ich weiß, was du noch alles lernen musst.«

»Dann bewirb dich doch, wir werden ja sehen, was Marisa dazu sagt.«

Luisa trat einen Schritt zurück, schlug die rechte Faust in ihre linke Hand. »Ja, das werden wir sehen. Ich will, dass du die Finger von Marisa lässt und dich nicht weiter bei ihr einschleimst. Sie soll eine Entscheidung treffen, und zwar noch vor der Eröffnung.«

Schwungvoll öffnete sie die Tür und ließ Marius Hirtel stehen. Der atmete ein paarmal durch, bevor er lächelte. Ein wissendes, überlegenes Lächeln, Luisa hätte es gehasst und ihm wahrscheinlich einen Haken verpasst. »Ja, wir werden sehen, was geschieht.«

***

Ein Anruf aus der Wache erreichte Karin, knapp eine Stunde nachdem die beiden Frauen wieder fort waren. Die Diensthabende druckste herum.

»Ich weiß nicht, ob es von Interesse für Sie ist. Ich hatte von Ihrem Kollegen Weber gehört, dass Sie bei Noble Cars in Birten gewesen sind. Er hat meinen kleinen Volvo Kombi gesehen und mich gefragt, wo der her sei, so kamen wir ins Gespräch.«

»Ja, und? Soll ich Sie an den Kollegen Weber weiterverbinden?«

»Nein, es geht um Noble Cars. Da gibt es gerade einen Einsatz, weil der Laden angeblich von Rockern bedroht wird.«

»Was? Jetzt, aktuell?«

»Ja, der Inhaber Markus Poot hat einen Notruf abgesetzt. Die Streife vor Ort meldete ungefähr zwanzig Personen mit Motorrädern und in Kluft. Die Kollegen haben ausreichend Personal mitgebracht, damit alle zeitgleich überprüft werden. Ich dachte, das könnte Sie interessieren.«

»Ja, danke. Der ist in der Tat in unserem Fokus. Ich werde gleich mal hinfahren.«

Wen sollte sie mitnehmen? Karin entschied sich für Gero von Aha, der mit seinem wirren Haar und den eulenhaften Augenbrauen, in Hemd, Edeljeans und Weste, unter der immer sein Holster hervorlugte, einen respektablen Eindruck hinterließ. Sie lief zu seinem Büro und fand ihn mit Burmeester in trauter Zweisamkeit in die Arbeit an den Bildschirmen vertieft.

»Gero, komm, ich brauch dich, wir müssen flott zu Noble Cars, der Poot hat Besuch von einer Gruppe Rockern. Vielleicht hat das etwas mit der Ermittlung zu den geklauten Ersatzteilen zu tun.«

Von Aha stand auf, bereit zu schnellem Handeln.

Burmeester drehte sich auf dem Schreibtischstuhl mit bestechendem Dackelblick zu Karin um. »Ich bleibe dann mal hier. Ist auch wichtig.«

Karin lachte, während von Aha schon an ihr vorbei in den Flur lief. »Den Satz hast du geklaut.«

Burmeester rief hinter ihnen her. »Klar, aus ›Mord mit Aussicht‹. Wer in der Wache bleiben muss, sagt das immer. Mit Resignation in der Stimme, so wie ich. Verlasst mich nur.«

Zum ersten Mal in diesem Jahr fuhr Karin mit aufgesetztem Blaulicht, sie wollte die Belagerung im Gewerbegebiet des Xantener Ortsteils Birten auf keinen Fall verpassen. Mit von Aha auf dem Beifahrersitz sauste sie durch die niederrheinische Landschaft, die ihr schönstes Maigrün aufgelegt hatte, überholte zig Fahrzeuge, wurde auf der Xantener Straße in Höhe der Ortschaft Ginderich geblitzt.

»Verflixt, die stehen hier seit Neuestem ganz versteckt, wo eine Straße nur für Fußgänger auf den Radweg mündet.«

»Kein Problem«, meinte von Aha lapidar, »dienstlicher Einsatz.« Er kannte sich aus.

Karin berichtete beiläufig, dass Marisa Tauber-Schwan gedenke, das Cabrio zu verkaufen, um so an notwendige Finanzmittel zu gelangen.

»Doch nicht etwa bei Noble Cars?«, fragte von Aha.

»Doch, klar. Ich habe dazu geraten, auch noch andere Händler zu suchen. Die braucht das Geld, da sie nicht an Jojos Konto kommt.«

Beim Abbiegen in den Bruchweg erkannten sie von Weitem mehrere Einsatzfahrzeuge, unter anderem einen Mannschaftswagen, alle mit Blaulicht. Am Straßenrand standen ordentlich in einer Reihe geparkt chromglänzende Motorräder, die dazugehörigen Fahrer wurden offenbar einzeln überprüft und ließen das ohne Widerstand mit sich geschehen. Die Kennzeichen der Maschinen wiesen auf Duisburg und den Niederrhein hin, das Emblem auf dem Rücken der Kutten kannte Karin nicht.

Sie stellten ihr Fahrzeug neben die Streifenwagen und fragten sich zum Einsatzleiter durch. Der war auf dem Gelände und sprach gerade mit Markus Poot, der sich mit einem Taschentuch über die verschwitzte Stirn wischte. Karin raunte von Aha zu: »Schau mal, so heiß ist es heute gar nicht. Das ist Angstschweiß. Was ist hier los?«

»Ich habe keine Ahnung.«

Die Hauptkommissarin traf eine schnelle Entscheidung. »Du gehst raus zu den Rockern, ich bleibe hier bei Poot. Finde heraus, wer sie geschickt hat und mit welchem Auftrag die hier aufgefahren sind. Ich werde ihn nach möglichen Hintergründen fragen.«

Poot schien sie wiederzuerkennen. Am Samstag war sie zunächst als potenzielle Kundin hier gewesen, dann hatte sie seine Geräte mitgenommen. Nun registrierte er, wie sie dem Polizisten ihren Ausweis zeigte und sich von ihm über die Sachlage unterrichten ließ.

»Der Autohändler fühlt sich von den Motorradfahrern bedroht. Dabei stehen die einfach am Straßenrand. Von denen hat keiner das Gelände betreten. Die haben nur der Reihe nach draußen geparkt und sich rauchend und redend vor die Einfahrt gestellt, sich bei der kleinen Imbissbude eine Pommes geholt. Wir haben noch keine Ahnung, was das soll, und können hier nicht mehr machen. Die Jungs haben alle ihre Papiere dabei, keiner steht auf unserer Liste, niemand ist bewaffnet, weder Drogen noch Alkohol im Spiel.«

Karin nahm den Beamten zur Seite, damit Poot sie nicht hören konnte. »Wir werten gerade Poots PC und Smartphone-Kontakte aus. Es geht hier unter anderem um illegale Beschaffung und Handel mit Ersatzteilen seltener Autos. Ich kann mir vorstellen, dass er unter Druck gesetzt werden soll, denn das geschieht alles in einer Grauzone und ist hochkriminell. Vielleicht hat er nicht gezahlt. Das ist alles noch nicht spruchreif, aber wir haben ihn im Auge. Lassen Sie die Männer da draußen einfach in Ruhe parken und herumstehen, mir gefällt es, wenn er nervös wird.«

Mit einem Augenzwinkern trennten sie sich, der Einsatzleiter sprach ruhig mit den Besatzungen der Fahrzeuge. Die Überprüfung wurde beendet. Karin schaute suchend nach Gero von Aha, der stand vor einer aufgemotzten Harley-Davidson und schien mit zwei Rockern zu prakesieren. Men’s Talk. Als sei er schon immer Mitglied eines Chapters gewesen.

Sie wandte sich Poot zu, der auf dem Weg zurück in seinen Verkaufsraum war, lief ihm nach. »Herr Poot, Sie können sich denken, was wir alles auf Ihrem Rechner gefunden haben.«

Er wies nach draußen zur Straße hin. »Das interessiert mich nicht, ich will einfach, dass die den Abflug machen. Wieso kriegen die keinen Platzverweis oder so etwas, das ist doch geschäftsschädigend, wenn die mit ihren protzigen Maschinen und den Lederkutten vor der Einfahrt herumlungern.«

»Herr Poot, widmen wir uns wieder unseren Erkenntnissen. Sie lassen Ihre alten Autos im Bedarfsfall mit Ersatzteilen reparieren, die, sagen wir mal, aus illegal besorgten Fahrzeugen herausgeschraubt, herausgeflext werden, damit Ihre Schätzchen als Originale den Besitzer wechseln.«

»Wer sagt das?«

Karin musste laut lachen. »Frechheit siegt. In diesem Fall aber nicht. Sie haben vergessen, Ihre E-Mails zu löschen, und es gab Sprachnachrichten auf Ihrem Smartphone, die wir an IKPO-Interpol weiterleiten werden. Auch das Auto von Jojo Schwan wurde auf diese Weise repariert, und im Nachgang verlangten Sie dafür einen Aufschlag. Jetzt ist der Mann tot. Fragen Sie mich doch mal, ob ich da einen Zusammenhang wittere.«

»Nein, nein, nein, das kannst du mir, Pardon, ich duze keine Kripoleute, das können Sie mir nicht anhängen. Ich verkaufe nur Autos an gut zahlende Kunden. Wie die Oldies hier auf meinen Platz kommen, das ist eine andere Geschichte, das geht Sie nichts an.«

»Das werden wir ja sehen.« Sie versprach ihm wiederzukommen. Mit dem PC und wer weiß was sie noch an Papieren im Kommissariat hätten, wenn sie mit allem fertig wären. »Sie verlassen Ihren Wohnort nicht, das ist eine Auflage, und Sie stehen uns für weitere Befragungen zur Verfügung.«

»Und die da draußen? Ey, die Streife ist schon weg, und die dürfen da stehen bleiben? Unsereiner wird bedroht und verdächtigt, und die stehen da einfach weiter vor meiner Einfahrt. Krass! Wen soll ich das nächste Mal anrufen, wenn ich mich bedroht fühle, die Bundeswehr?«

»Vor wem haben Sie denn so viel Angst, Herr Poot?«

»Ich und Angst? Nee, aber die Kunden bleiben mir weg.«

Karin schaute auf die Männer hinter dem Zaun, die lebhaft mit Gero von Aha sprachen. Kein anderer Beamter mehr in Sicht. Die hatten nichts ausrichten können.

Sie holte zu einem letzten Schachzug aus. »Also ich würde mich nicht sicher fühlen, wenn die vor meinem Haus stehen würden. Ich würde mich fürchten.«

Sie wartete seine Reaktion nicht ab und verließ das Gebäude.

Die Streifenbeamten waren tatsächlich in der Zwischenzeit abgerückt. Auf dem Weg zu ihrem Wagen sah Karin Gero von Aha immer noch vor einem Halbkreis düster wirkender Rocker stehen. Er verabschiedete sich, als er sie entdeckte.

Sie hörte eine dunkle Männerstimme, die ihm nachrief: »Ist das deine Braut? Bisschen dünn, aber ansonsten okay.«

Grinsend stieg er ein. »Du hast das nicht gehört, oder?«

»Doch, er stuft mich als dürr ein. Ich passe offenbar nicht ins Beuteschema eines Rockers. Wer sind die, und wer hat sie beauftragt, vor Noble Cars eine Parade zu fahren?«

»Du kannst dir vorstellen, dass diese Mannsbilder dir nichts erzählen, was nicht schon durch andere Kanäle an die Oberfläche kommt. Nein, im Ernst, die waren sehr auskunftsfreudig. Das sind die Guten, sagen sie zumindest, die Easy Biker, die für Gerechtigkeit und Gesetzestreue stehen.«

Karin blickte ihn von der Seite an, während sie an den Männern vorbeifuhren und einige von ihnen von Aha per Handzeichen grüßten. »Rocker und Gesetzestreue? Ernsthaft?«

»Ja, und der Einsatzleiter hat das glatt bestätigt. Von denen ist keiner in unseren Dateien zu finden. Die haben allesamt ganz normale Berufe, das sind Handwerker, Elektriker, Dachdecker, ein Lehrer ist dabei. Die wollen durch ihr Auftreten beeindrucken und sagen, dass eigentlich nur die sich darüber aufregen und Schiss kriegen, die Dreck am Stecken haben.«

»Und jetzt erzählst du mir, dass sie diesen Straßenrand zufällig gewählt haben, um eine Zigarettenpause mit Pommes Schranke zu machen. Noch einen Kaffee hinterher oder ein Pralinchen? Komm, Gero, das ist es doch nicht.«

»Jein, nicht ganz. Stell dir vor, der Bruder von einem der Easy Biker hat hier einen Oldtimer gekauft. Anzahlung fünfzigtausend Euro, vereinbarte Raten tausend Euro pro Monat. Wie wir schon vermutet haben, wenn du drei Raten nicht gezahlt hast, fährt ein Autotransporter vor und nimmt das Vehikel mit.«

»Dann muss es als Klausel im Kaufvertrag stehen.«

»Genau, den du, glückselig über den Erwerb, blauäugig unterschrieben hast, ohne das Kleingedruckte zu lesen. Die Klausel besagt auch, dass die Anzahlung in diesem Fall verfällt und das Auto sofort wieder auf den Händler umgeschrieben werden kann.«

Karin konnte es nicht fassen. »Dann bleibt also im Fall von Schwans Auto noch abzuwarten, was Poot den beiden Frauen anbietet, die es zurückbringen. Bislang weiß niemand, was genau zwischen den beiden gelaufen ist. Was ist das denn für ein Mist?«

Eine Weile schwiegen sie, in Gedanken versunken, in angemessener Geschwindigkeit Ginderich passierend.

Wie aus dem Nichts lachte Karin plötzlich auf. »Ganz schön clever, diese Jungs in Kutten. Und eines stimmt auf jeden Fall, dem Poot flatterten die Federn. Der hat garantiert eine Menge zu verbergen und weiß nicht, aus welcher Ecke ihm Unheil droht.«

***

Burmeester hatte sich das Detailfoto des Wohnmobils vorgenommen und mit diversen Händlern konferiert, ihnen das Foto gesendet und um Unterstützung bei der Identifikation des Fahrzeugs gebeten. Die Wohnmobil-Meile entlang der B 1 in Mülheim abzutelefonieren hatte Zeit gekostet, dort gab es eine hohe Anzahl an Händlern, die sich alle im Laufe des Tages wieder melden wollten. In der Zwischenzeit schaute er sich die Angebote auf Auto Scout und bei eBay an, verglich die Radstände und Lackierungen.

Die dunkle Farbe des Fahrzeugs war wahrscheinlich ein Grau. Der Zeitgeist war nicht mehr strahlend weiß oder bunt, sondern passte sich in unterschiedlichen Nuancen der Farbe des Asphalts an.

Burmeester stand immer wieder auf, sich zu recken war nicht ratsam, aber ein wenig in Bewegung zu bleiben schon. Er holte sich becherweise Kaffee, stellte den Schreibtischstuhl auf eine bequeme Position ein und telefonierte mit der netten Frau aus der Zulassungsstelle des Kreises Wesel, die er meist zur Halterabfrage anrief, wenn er unterwegs den Besitzer eines Fahrzeugs ausfindig machen wollte. Sie konnte ihm sagen, dass in ganz NRW 156.061 Wohnmobile zugelassen und die Kreise Kleve, Coesfeld und Wesel in den Top Ten zu finden waren.

Die Anzahl der fahrbaren Appartements ließ Burmeester resigniert in die Rückenlehne sinken, die einzige Hoffnung, die er hatte, war die Identifizierung des Modells, um danach über den Händler weiter zum Halter zu gelangen. Sie hatten nichts als sehr unscharfe Bilder von einem großen Fahrzeug und dieses Abbild des Radkastens, ebenfalls stark verpixelt, im Hintergrund eines Fotos der Überwachungskamera aus einer Sparkasse. Kein Hinweis auf ein Kennzeichen, keine Beschreibung der Person hinter dem Steuer, nichts. Theoretisch konnte das ein Wohnmobil aus den Niederlanden sein oder von sonst wo.

Die Rückrufe ließen auf sich warten. Burmeester fühlte sich gelangweilt in dieser Wartephase, ein verschwendetes Ermittlerpotenzial. Er schaute noch einmal die Protokolle durch und blieb bei dem Thema der gefälschten Lebensmittel hängen. Solange das Telefon schwieg, konnte er sich im Internet umschauen und das Thema mit Inhalt füllen.

Er surfte, schrieb, kopierte und staunte nicht schlecht. Seine Gattin war von alternativer, genauer biologisch-dynamischer Ernährung überzeugt, was sich schon ziemlich auf ihn übertrug. Seine gerade aufgepoppte Ökoseele bekam einen Hieb, als er las, dass bei vielen Bioprodukten keineswegs drin war, was draufstand. Er fügte alles zusammen und druckte seine Erkenntnisse aus, würde sie nachher in der großen Lage vortragen und am Abend seiner Gattin vorlegen.

Das Telefon schwieg weiter. Burmeester schwankte zwischen Ungeduld und aufkommender Schläfrigkeit. Er schob seine Beine auf den Schreibtisch und schloss die Augen, schließlich war er im Krankenstand und eigentlich gar nicht hier. Kurze Pause, kleiner Traum.

Ein plötzliches ungewohntes Herzrasen ließ ihn hochschrecken, er setzte sich hektisch auf, zu schnell, ein Schmerzensschrei hallte über den Flur, erreichte die Büros von Tom Weber und Jerry Patalon, beide schauten auf den Flur. Jerry dachte an Burmeester und öffnete die Tür zum Büro seines Kollegen von Aha. Burmeester kniete auf dem Boden und hielt sich an der Schreibtischplatte fest.

»He, was machst du da, ist alles in Ordnung?«

»Ja, ich … ich bin nur vom Stuhl gerutscht. Leichte Schläfrigkeit. Alles okay.«

»Alter Sturbock, du bist sicher, dass du hier richtig bist?«

Burmeester fühlte beiläufig nach seinem Puls, griff sich ans Herz, es schlug wieder normal. Sollte das ein Zeichen sein? Vielleicht hatten sie ja doch recht, seine Frau und Karin, und die posttraumatische Belastungsstörung holte ihn jetzt ein. Ach was, alles wieder in Ordnung. »Ja, klar, alles ist gut. Und ich habe eine Idee –«

»Komm, ich helfe dir auf.«

Gerade als Jerry seinen Kollegen beim Aufstehen unterstützte, kamen von Aha und die Chefin zurück. Karin bemerkte Burmeesters schmerzverzerrten Gesichtsausdruck, die Blässe. »Was ist denn hier passiert?«

Bevor Jerry etwas sagen konnte, antwortete Burmeester selbst. »Ein kleiner Ausrutscher, sonst nichts. Alles im grünen Bereich, Boss. Und ich habe eine Idee, die uns vielleicht bei der Suche nach dem Wohnmobil helfen kann.«

Weiterreden, jetzt bloß keine Zwischenfragen zulassen, Burmeester plapperte wie ein Wasserfall. »Wenn die Person hinter dem Steuer den Schuss abgegeben hat, dann hatte sie es wahrscheinlich eilig, den Tatort unerkannt zu verlassen. Das könnte bedeuten, dass sie nicht überall auf die Höchstgeschwindigkeit geachtet hat.«

Ächzend setzte er sich wieder, stellte die Rückenlehne hoch und drehte sich in Richtung seines Publikums, das sich im Türrahmen zusammendrängte. »Versteht ihr? Die Person ist weggerast. Wir müssen nur sämtliche Blitzapparate in großem Radius ausfindig machen und bei den entsprechenden Stellen die schnelle Auswertung abfragen.«

Fast hätte sie ihm auf die Schulter geklopft für diese Idee, aber einen blassen Kerl mit bandagiertem Arm ließ Karin besser unberührt. Sie reckte den Daumen. »Gut, dann mal los.«

»He, das ist noch nicht alles. Ich hab’s schließlich nur an der Rippe und nicht im Kopf, der will arbeiten. Ich habe Fakten zu gefälschten Lebensmitteln zusammengestellt, das ist ein internationales Problem von ungeahntem Ausmaß mit einem riesigen wirtschaftlichen Schaden, das werdet ihr nachher in der Besprechung hören.«

Als von Aha wieder mit ihm allein war, fragte er den Kollegen genauer nach seinem Befinden.

Burmeester sackte zusammen. »Herzrasen hat mich aufgeschreckt.«

»Und?«

»Was, und?«

»Genau so etwas hat Karin dir prophezeit. Das ist ein Warnsignal. Ein ernstes. Was gedenkst du zu unternehmen?«

»Na, es ist doch wieder weg. Nichts. Erst mal.«

Gero von Aha antwortete nicht, ignorierte ihn, hielt ihm dann den Telefonhörer hin, tippte eine interne Nummer ein und wies ihn mit dem Kopf an, den Hörer zu nehmen.

»Psychologischer Dienst, Antonia Beckmann, was kann ich für Sie tun?«

Den Hörer am Ohr, blickte Burmeester erschrocken zu von Aha, knapp davor, den Hörer zurückzugeben. Gero von Ahas ärgerlich zusammengezogene Augenbrauen ließen keinen Widerstand zu.

»Äh, Burmeester hier, Nikolas Burmeester aus dem K1. Ich, äh, ich brauche einen Termin.«

Gegen sechzehn Uhr rief Karin Gero von Ahas Büronummer an und verlangte nach Burmeester. Der reagierte wie ertappt.

»Karin? Also ich habe jetzt angerufen und einen Termin gemacht, in zwei Wochen kann ich hingehen.«

»Wohin? Friseur?«

»Nein, zu unserem Psychologischen Dienst. Es gibt bei den Kollegen eine Menge Bedarf an Psycho-Behandlung.«

»Ich bin echt froh, dass du es eingesehen hast. Ich muss etwas anderes mit dir besprechen. Du kannst leider nicht an der großen Lage teilnehmen, ich habe gerade eine Nachricht von der van den Berg erhalten, sie wird sich heute persönlich von uns auf den Stand der Ermittlungen bringen lassen. Es besteht ein hohes öffentliches Interesse, schreibt sie. Nikolas, die darf auf keinen Fall wissen, dass du hier bist. Ich kriege sonst einen endlosen Vortrag über die Fürsorgepflicht von Vorgesetzten gegenüber ihrer Mitarbeiterschaft zu hören. Bitte erspare mir das und mach für heute Feierabend, ja?«

Burmeester brauchte einen Moment, bevor er von Aha informierte. »Ich muss mich in Luft auflösen, die Behördenchefin höchstpersönlich wird gleich hier erscheinen.« Murrend, aber einsichtig verabschiedete er sich und übergab seine Mappe mit den vorläufigen Ergebnissen an von Aha.

»Hau ab und ruh dich aus. Hier wird es gleich hektisch.« Gero von Aha reckte sich. »Ich glaube, ich mach erst mal Kaffee.«

***

Nichts war einfacher, als ein zweites Smartphone in Betrieb zu nehmen. Es musste nicht das neueste Modell sein, und ein Angebot an nicht registrierten Prepaidkarten war leicht zu finden. Es mit zittrigen Fingern zu nutzen wurde von einer fast kindlichen Aufregung begleitet.

Das Gerät wurde ausschließlich für ganz spezielle Gespräche genutzt. Nichts war köstlicher, als ein Geheimnis zu hüten, nichts aufregender als dieses Versteckspiel, dieses Warten auf eine Gelegenheit, um es zu einer verabredeten Zeit unbemerkt hervorzuholen, sich umzuschauen, ob wirklich kein Mensch diesen Vorgang beobachtete. Es einzuschalten, sich an die PIN zu erinnern, die natürlich nirgendwo notiert war, und den einen abgespeicherten Kontakt anzurufen. Ein einziger Klingelton. Wieder auflegen. Abwarten, Blick auf das Display gerichtet. Das Gegenüber wusste nun Bescheid, dass niemand in der Nähe war, und würde dies in gleicher Weise bestätigen. Herzklopfen. Joyful. So hieß die kleine Tonfolge, und sie ließ meist nicht lange auf sich warten. Einmal – alles war okay. Den grünen Hörer antippen. Noch vor dem zweiten Klingelton die Stimme hören, lächeln.

»Wie geht es dir?«

»Es tut so gut, deine Stimme zu hören.«

***

Das K1 präsentierte sich im Besprechungsraum bestens vorbereitet. Es gab vier Schwerpunkte, die auf der Medienwand einzeln aufgeführt waren. Zunächst der Tötungsfall Jojo Schwan mit allen Informationen zu Umfeld, Finanzlage und Restaurant, die zu diesem Zeitpunkt vorlagen. Die damit verbundenen Ermittlungen, die Suche nach einem Wohnmobil als fahrbarer Schussbasis, der Verdacht auf freiwillige oder erpresserische Anlieferung gefälschter Lebensmittel, das dubiose Geschäftsgebaren von Noble Cars, waren in direktem Zusammenhang und sehr umfangreich dargestellt. Fakten aus allen Ermittlungssträngen ließen jeweils den Verdacht aufkommen, dass aus einer dieser Richtungen Täter oder Täterin stammen könnte. Die berühmte Stecknadel im Heuhaufen war schwer zu finden.

Staatsanwalt Nilsson und die Behördenchefin van den Berg saßen dicht beieinander. Sie gesellte sich immer flott an seine Seite, unterstrich, wer hier das Sagen hatte und wer die Ermittlungen durchführte. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger Haase, der aufgrund eines unrühmlich forcierten Fehlurteils seinen Platz in Wesel räumen musste, rückte Nilsson in solchen Situationen seinen Stuhl stets sichtbar und hörbar auf gebührenden Abstand, was Karin Krafft auch dieses Mal mit Wohlwollen wahrnahm.

Van den Berg ließ sich den vorgefundenen Tatort und den persönlichen Hintergrund des Toten genau erklären. Die Tatsache, dass seine frisch angetraute Gattin keinerlei Befugnisse hatte, die Angelegenheiten für das Restaurant zu regeln, nicht einmal in das Grundbuch eingetragen war oder Zugang zum Konto hatte, erstaunte sie. Und das, obwohl sie den Weg der Planung und Umsetzung gemeinsam mit Jojo Schwan gegangen war. Van den Berg konnte es nicht fassen, dass Marisa Tauber-Schwan weder Einsicht in die Geschäftspapiere hatte noch über die Vorgehensweise ihres zukünftigen Ehemannes informiert gewesen war und schließlich sogar ihren eigenen Job wegen der Eröffnung der zukünftigen Kultstätte des guten Geschmacks gekündigt hatte.

»Das bleibt noch einmal zu überprüfen, diese junge Frau ist nicht dumm und hat eine Ausbildung in Buchhaltung. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie so naiv dem großen Koch Jojo Schwan gefolgt ist. Sie sind dran?«

Die Hauptkommissarin bestätigte, dass Marisa Tauber-Schwan samt Umfeld und Personal weiter im Fokus bliebe, womit sie überleitete zu Markus Poot und seinem exklusiven Autohandel Noble Cars. Sie berichtete von E-Mails mit verdächtigem Inhalt sowie von dem lukrativen Hintergrundgeschäft mit Ersatzteilen aus geklauten Autos, wobei ganze Oldtimer auseinandergenommen würden und für immer von der Bildfläche verschwänden, um andere instand zu setzen und hochpreisig zu verkaufen.

Jerry hatte sich weiter mit den Kaufverträgen aus Poots PC beschäftigt und bestätigte die unlauteren Vertragsklauseln.

»Eine Anzahlung in fünfstelliger Höhe wird bei dreimaligem Versäumnis der Ratenzahlung nicht mehr erstattet. In dem Fall wird das Fahrzeug abgeholt und automatisch wieder auf Poots Namen registriert. Wer sich dagegen wehrt, dem hält er den unterschriebenen Vertrag unter die Nase, während seine Mitarbeiter, gut gebaute, furchtlos blickende Männer, die ihn begleiten, mit dem Aufladen beginnen. Da beißt sich so mancher Käufer in die Faust und winkt seinem Traum nach.«

Van den Berg benannte deutlichen Ermittlungsbedarf in Richtung Betrug, Unterschlagung, erpresserischem Handeln. Karin Krafft beharrte darauf, vorrangig zunächst das Tötungsdelikt zu bearbeiten. Ein Scharmützel, das Karin gewann, zumal Nilsson ihrer Vorgehensweise zustimmte.

Tom ergänzte Jerrys Ausführungen. »Wir wissen noch nicht, zu welchen Konditionen Schwan das Cabrio für seine Frau gekauft hat. Fakt ist, dass er es mit Schwarzgeld bezahlt haben muss, da nirgendwo ein Vorgang in größerer Höhe abgebucht wurde.«

Karin schob noch die Information hinterher, dass die Frau das Auto in den nächsten Tagen wieder zu Noble Cars bringen würde, da sie das Geld brauche.

Noch während sie sprach, las sich von Aha eilig in die letzten Informationen ein, die Burmeester ihm in die Mappe gelegt hatte. Damit war er so beschäftigt, dass er die Stille nicht wahrnahm, die sich um ihn herum auftat, weil Karin ihm das Wort zum Thema der undurchsichtigen Lebensmittellieferungen für Jojo Schwan erteilt hatte. Erschrocken schaute er in die erwartungsvollen Gesichter und legte los.

»Wir haben den Verdacht, dass es sich bei den Lieferungen, die Jojo Schwan in den letzten Jahren angenommen hat, um gefälschte oder manipulierte Lebensmittel handelt, also entweder minderwertige Ware, die qualitativ höher deklariert ist, oder sogar gefälschte oder manipulierte Produkte, die aufgrund ihres Aussehens nicht von anderen zu unterscheiden sind. In Fachkreisen heißt das Food Fraud, wenn solche Lebensmittel in den Verkehr gebracht werden, um einen wirtschaftlichen oder finanziellen Vorteil zu erlangen. Es gibt noch keine einheitliche rechtliche Definition. Leute, das ist eine immens große Grauzone.« Er blickte hoch, die Aufmerksamkeit aller wurde ihm zuteil.

»Man muss einen geschulten Blick oder empfindlichen Gaumen haben, um festzustellen, dass kalt gepresstes Olivenöl mit anderen Ölen gestreckt wurde, dass Thunfisch nur deswegen frisch aussieht, weil er mit Nitrit aufgespritzt wurde. Ähnliches gilt vor allem für Produkte wie Milch, Getreide, Honig oder Ahornsirup, Kaffee und Tee. Überall ist mit nicht deklarierten Beimischungen zu rechnen, selbst Fleisch, zum Beispiel in einem Curry, muss nicht unbedingt tierischer Herkunft sein, sondern es kann sich um Jackfruit handeln, eine tropische Frucht mit fleischähnlichen Fasern, die den Geschmack der Soße gut annimmt, in der sie schwimmt.«

Jerry meldete sich, merkte an, dass der Trend zur fleischlosen Ernährung zunehme, was der Jackfruit zu ungeahnter Berühmtheit verhelfe.

Von Aha nickte. »Stimmt. Aber wenn du Fleisch bestellt hast, möchtest du das auch im Curry finden. Wenn du Fisch aus einer Aquazucht wünschst, und er kommt aus freiem Fang, ist das genauso Betrug, als wenn dein Honig auf dem Frühstücksbrot mit Zucker gestreckt wurde. Das ist ein unglaublich großer Markt, der bedient wird, nicht zuletzt sind auch viele Bioprodukte darunter. Bei denen genügt es, wenn zum Beispiel dem ökologisch hergestellten Produkt Zutaten aus herkömmlicher Produktion beigemischt werden.«

Von Aha sah Karin mit skeptischem Blick in ihren Kaffeebecher schauen, ahnte, worüber sie nachdachte, wartete auf Blickkontakt zu ihr und schüttelte den Kopf. Sein Kaffee war okay. Er fuhr fort, Burmeesters Ergebnisse zu referieren.

»Das ist ein globales Problem, das seit 2011 von einem internationalen Behördennetzwerk, koordiniert von Europol und Interpol, bekämpft wird. Gemeinsam führen die Fahnder seitdem Operationen unter dem Titel ›Opson‹ durch. Der Begriff stammt aus dem Griechischen und steht für Esskultur. 2021 fand die zehnte und bislang letzte statt. Im Mittelpunkt stand dieses Mal gefälschter Honig. Und jetzt noch ein paar Zahlen, weil sie das Ausmaß zeigen. Es wurden achtundsechzigtausend Personen überprüft, sechshundertdreiundsechzig Haftbefehle erlassen, zweiundvierzig internationale Netzwerke zerschlagen und fünfzehntausendvierhunderteinundfünfzig Tonnen Lebensmittel beschlagnahmt. Wie ihr, Pardon, wie ihr und Sie, Frau van den Berg, sehen, ist das weltweit ein lukratives Geschäft. Der jährlich verursachte Schaden durch Lebensmittelbetrug liegt bei hochgerechnet mindestens dreißig Milliarden Euro. Den Fälschern wird es zu leicht gemacht. Sie können oft ungestört agieren, denn es fehlt an Unterstützung durch die Polizei und vor allem an Personal.«

Van den Berg klopfte mit ihrem Kugelschreiber auf den Tisch. »Da haben Sie ja ein ganz großes Ding im Netz, das bis zum Niederrhein reicht. Gute Arbeit, Herr von Aha. Und Sie glauben, dass Jojo Schwan mit denen zusammengearbeitet hat?«

Karin Krafft wusste, dass von Aha gerade die Ergebnisse von Burmeesters Recherchen vorgetragen hatte, sah seine verschwitzte Stirn, nickte ihm kaum merklich zu und antwortete an seiner Stelle.

»Wir wissen noch nicht, ob Jojo Schwan zur Annahme dieser namenlosen Lieferungen gezwungen wurde oder ob es seine Gier nach schnellem Geld war, das er nebenbei in die eigene Tasche wirtschaften konnte. Die nächste Lieferung ist für morgen angekündigt, wir sollten das beobachten und den Transporter anschließend observieren.«

Staatsanwalt und Behördenchefin stimmten der Aktion zu, van den Berg würde zwei zusätzliche Kräfte abordnen, damit die Observation das K1 nicht zu sehr schwächte, da Hauptkommissar Burmeester sich ja leider im Krankenstand befand.

Tom wies abschließend auf die ausstehenden Ergebnisse bei der Suche nach dem Wohnmobil hin, mit dem Nachsatz, es sei zeitnah mit Erkenntnissen zu rechnen.

Van den Berg hatte Gero von Aha im Visier und lobte dessen großartige Arbeit, wünschte eine Erwähnung im Protokoll, das ihr hoffentlich am Folgetag auf dem Tisch liegen würde, und verabschiedete sich mit dem Hinweis, dass eine Pressekonferenz spätestens am Freitag stattfinden sollte.

Karin widersprach. »Nein, lassen Sie doch das Restaurant erst mal in aller Ruhe eröffnen. Eine Pressenachricht über gefälschte Lebensmittel schadet dem Ruf, solange nicht erwiesen ist, dass der ›Schwan‹ damit operiert. Außerdem können wir weder mit einem Mordmotiv noch mit einem Verdächtigen dienen. Nächste Woche, okay?«

»Ich sehe, dass Herr Nilsson Zustimmung signalisiert. In Ordnung. Ich erwarte minutiöse Information.«

Die Anwesenden entspannten sich, sobald van den Berg die Tür hinter sich geschlossen hatte.

Aaron Nilsson schmunzelte. »Sagt mal, hat die ein Auge auf Staatsanwälte? Ich fühle mich bei jedem Treffen von ihr regelrecht belagert.«

Karin lachte. »Du schaffst es jedes Mal, den gewünschten Abstand zu ihr wiederherzustellen, laut und deutlich. Sie begibt sich eben gerne in die Nähe von Personen gehobener Berufe, auch ein Doktortitel zieht sie an. Mit deinem Vorgänger ist sie zumindest öfter zum Essen ausgegangen. Vielleicht rechnet sie sich Chancen bei einem Staatsanwalt aus, der nicht verheiratet ist.«

Der Gedanke schien ihm nicht zu gefallen, er raufte sich sein mützenartig anliegendes karottenrotes Haar und verzog das Gesicht. »Nein, sag nicht so etwas. Beim nächsten Mal setze ich mich mitten zwischen euch, damit sie keine Gelegenheit bekommt, sich in meine Nähe zu schleichen.«

Auch er drehte sich noch einmal um, bevor er seinen Kopf unter dem Türrahmen einzog. »Eure Arbeit ist gut, weiter so. Und ernsthaft, ihr müsst mir bei der nächsten großen Lage einen Platz frei halten.«

Karin reckte den Daumen. »Machen wir.«

***

Feierabend. Karin Krafft stand in der Küche und beobachtete ihren Mann Maarten bei der Zubereitung eines gemischten Salates. Er schüttelte den Kopf, nachdem sie ihm erzählt hatte, wie es um die Reinheit von manchen Lebensmitteln stand und wie wenig man sich vor verdeckten Zusätzen und falschen Zutaten schützen könne. Beimischungen der übelsten Art wären zu finden, ausgetauschte Inhaltsstoffe, gespritzter Fisch, damit er frisch wirkte … Maarten verzog angewidert das Gesicht.

»Du willst mir allen Ernstes erzählen, dass es eine hohe Dunkelziffer gefälschter Lebensmittel gibt trotz aller möglichen Kontrollen und Inhaltsvorgaben? Das kann ich gar nicht glauben, wir leben doch erstens in Deutschland und sind zweitens Mitglied der EU. Nirgends auf der Welt gibt es ähnlich strenge Gesetze zur Reinheit und Qualität, werden Mindestgrößen und Formen bestimmt.«

Er nahm eine Flasche Olivenöl aus dem Regal und benetzte die verschiedenen frisch gezupften Blattsalate damit, würzte mit Salz und Pfeffer nach, bevor er einzelne Erdbeerviertel darüber verteilte und alles mit einem Cranberry-Balsamico beträufelte.

Karin stibitzte ein Rucolablatt und linste in die Pfanne, in der dünne Streifen Hähnchenbrustfilet sanft vor sich hin schmorten. »Doch, es wird überall gemogelt, selbst in Milchprodukten und Schokolade. Da ist es ganz schlimm, von Tierblut bis hin zu Holzspänen kann alles da drin sein.«

Hannah hatte vom Flur aus, wo sie ihr Konterfei im Spiegel bewunderte, das Gespräch mitgehört und kam in die Küche gestürmt. »Iiiiih, Mama, das ist nicht wahr, oder? Tierblut in Schokolade, das ist ja voll ekelig.«

»Ja, Süße, es ist leider so, dass selbst deine heiß geliebte Schokolade nicht immer das enthält, was draufsteht.«

Trotzig stellte sich Hannah nah vor ihre Mutter, sie war mit ihren dreizehn Jahren fast so groß wie sie. Sie strich ihr langes Haar aus dem Gesicht, versuchte ihr Top ein wenig in die Länge zu ziehen, da es den Bauch großflächig freigab, was Karin längst bemerkt hatte. »Du hast echt ekelige Themen drauf. Außerdem kannst du das mit der Schokolade gar nicht wissen, du bist doch immer mit Mördern und Leichen beschäftigt.«

Sie schauten sich in die Augen. Während Maarten die Hähnchenstreifen auf einem Teller abkühlen ließ, antwortete Karin: »Vielleicht liegt das Motiv für einen Mord in genau diesem Geschäft mit gefälschten Zutaten. Und jetzt lenke nicht ab, ich habe genau gesehen, dass dein Top die verabredete Länge bei Weitem nicht erreicht.«

»Doch. Es ist nur eingelaufen. Papa ist schuld, der hat es zu heiß gewaschen.«

Karin musste lachen. »Spar dir deine Ausreden, das Teil kannst du zur Gartenarbeit anziehen. Maarten, was sagst du dazu?«

Maarten hatte die Flasche mit dem Olivenöl in der Hand und schaute auf das Etikett. »Du hast mich zum Nachdenken gebracht. Aber hier steht, es handelt sich um kalt gepresstes Öl, es hat eine Erzeugernummer und ist zertifiziert. Mehr Qualitätsnachweis kann es doch nicht geben, oder?«

»He, noch ein Ablenker. Schau dir bitte den nackten Bauch deiner Tochter an und sag etwas dazu.«

Er hielt ihr die Flasche entgegen. »Wer hat denn mit dem Thema angefangen?«

Hannah entwischte der aufkommenden Diskussion und rannte die Stufen hinauf. »Ich habe keinen Hunger mehr. So was Ekeliges. Tierblut in Schokolade.«

Die Eltern dieses Teenagers standen in der Küche und hörten ihre Tür ins Schloss knallen.

Maarten stellte das Olivenöl zurück ins Regal. »Ihr Bauch ist doch ganz schön. Und wenn sie jetzt aufhört, Schokolade zu essen, dann bekommt dein Fall einen positiven Aspekt, sie wird eine Zeit lang gesünder leben.«

»Fall mir nicht in den Rücken, das Teil ist zu kurz.«

»Und du hast die Pubertät ohne Grenzverletzungen hinter dich gebracht, klar. Nee, nix, keine Diskussion, sonst werden die Salatblätter schlapp.«

»Du hast recht. Mit gutem Öl und rassigem Balsamico.«

Karin rief ihre Tochter aus ihrem Zimmer, die maulte, sie würde nie wieder etwas essen.

Karin sah Maarten fragend an, der blieb erstaunlich ruhig. »Keine Sorge, bislang haben sich Hannahs Glaubenssätze spätestens nach zwei Stunden überholt.«