Tunde
Ein Mann hat Glas im Mund.
Eine dünne, scharfe, durchsichtige Scherbe hat sich in die Rückwand seiner Kehle gebohrt, glänzt vor Speichel und Schleim, und sein Freund versucht, sie mit zitternden Fingern zu entfernen. Er benutzt sein Handy als Taschenlampe und greift dem Mann vorsichtig in den Hals, während dieser würgt und versucht, sich nicht zu bewegen. Beim dritten Mal bekommt er die Scherbe zwischen Daumen und Zeigefinger zu fassen. Sie ist einen Zentimeter lang, blutig, und es kleben kleine Fleischfetzen an ihr. Der Freund legt sie auf eine saubere weiße Serviette. Um sie herum verrichten die anderen Kellner, Köche und Angestellten weiter ihre Arbeit. Tunde fotografiert die acht kleinen Scherben, die auf der Serviette aufgereiht liegen.
Er hat schon auf der Party fotografiert, was dem Mann widerfahren ist, die Kamera unauffällig auf Hüfthöhe, als ob sie ganz unschuldig von seiner Hand baumelte. Der Angestellte ist erst siebzehn; es ist nicht das erste Mal, dass er so etwas gesehen oder gehört hat, doch das erste Mal, dass er es selbst erlebt hat. Nein, er kann nirgendwo hingehen. Er hat Verwandte in der Ukraine, die ihn vielleicht aufnehmen würden, aber wer die Grenze überqueren will, wird leicht erschossen; die Zeiten sind angespannt. Er wischt sich das Blut vom Mund, während er spricht.
Er sagt leise: »Es ist meine Schuld, man darf nicht sprechen, bevor die Präsidentin es einem erlaubt.«
Er weint ein wenig, wegen des Schocks und der Scham, aus Angst und Erniedrigung und Schmerz. Tunde versteht diese Gefühle; sie sind ihm nur allzu vertraut seit dem Tag, an dem Enuma ihn berührt hat.
Für sein Buch hat er notiert: »Zuerst sprachen wir nicht über unseren Schmerz, weil es nicht männlich war. Jetzt sprechen wir nicht darüber, weil wir Angst haben und uns schämen und allein sind, ohne Hoffnung. Jeder ist allein für sich. Es ist nicht leicht zu bestimmen, wann der Erste der Zweite wurde.«
Peter, der Junge mit den Scherben, schreibt etwas auf ein Stück Papier, das er Tunde gibt. Er hält die Hand über Tundes Faust und sieht ihm in die Augen, bis dieser denkt, er wolle ihn küssen. Tunde befürchtet, er würde es sogar zulassen, weil all diese Menschen Trost brauchen.
Peter sagt: »Geh nicht.«
Tunde antwortet: »Ich kann so lange bleiben, wie du möchtest. Bis die Party vorbei ist.«
»Nein. Verlass uns nicht. Sie wird versuchen, die Presse des Landes zu verweisen. Bitte.«
»Was weißt du darüber?«
Doch Peter wiederholt immer nur: »Bitte, verlass uns nicht. Bitte.«
»Das werde ich nicht«, beruhigt ihn Tunde, »das werde ich nicht.«
Er steht vor der Küche und raucht eine Zigarette. Seine Finger zittern, als er sie anzündet. Er hatte geglaubt, weil er Tatjana Moskalew schon früher getroffen hatte und sie nett zu ihm gewesen war, zu verstehen, was hier vor sich ging. Er hatte sich darauf gefreut, sie wiederzusehen. Jetzt ist er froh, dass er keine Chance hatte, erneut mit ihr zu sprechen. Er zieht das Stück Papier, das Peter ihm gegeben hat, aus der Tasche und liest die unsicheren Blockbuchstaben: »Sie werden versuchen, uns alle umzubringen.«
Er macht ein paar Bilder von Gästen, die die Party durch den Seiteneingang verlassen. Zwei Waffenhändler. Ein Spezialist für Biowaffen. Der reinste Reiter-der-Apokalypse-Ball. Roxanne Monke steigt in ihren Wagen, die Königin einer Londoner Verbrecherfamilie. Sie sieht, wie er ihr Auto fotografiert, wirft ihm ein stummes »Fick dich« zu und fährt davon.
Als er um drei Uhr morgens zurück im Hotel ist, schickt er die Story an CNN. Die Bilder des Mannes, der den Brandy vom Boden lecken muss. Die Glasscherben auf der Serviette. Die Tränen auf Peters Wange.
Um neun Uhr morgens wacht er plötzlich auf, mit verklebten Augen und völlig verschwitzt. Er überprüft seine Inbox, ob der Nachtredakteur etwas zu seinem Bericht geschrieben hat. Er hat CNN alles Material von der Party exklusiv versprochen, doch wenn sie zu viel schneiden wollen, wird er es anderweitig verkaufen. Eine knappe E-Mail erwartet ihn.
»Sorry, Tunde, das lassen wir lieber. Toller Bericht, großartige Bilder, aber keine Story, die wir gerade einkaufen können.«
Na gut. Tunde verschickt drei weitere E-Mails, duscht und bestellt sich starken Kaffee aufs Zimmer. Als die Antworten hereinkommen, liest er die internationalen Nachrichtenseiten. Nicht viel zu Bessapara, niemand ist ihm zuvorgekommen. Dann überfliegt er die E-Mails. Drei weitere Absagen. Alle mit dem demselben unverbindlichen Argument, man sähe hier keine Story.
Doch er hat noch nie einen Abnehmer benötigt. Er wird einfach alles auf YouTube hochladen.
Er loggt sich über das Hotel-WLAN ein und … kein YouTube. Nur ein kleiner Vermerk, dass diese Seite in diesem Land nicht verfügbar ist. Er versucht es über VPN. Kein Glück. Auch nicht über den Internetprovider seines Handys.
Er denkt an Peters Worte: »Sie wird versuchen, die Presse des Landes zu verweisen.«
Wenn er die Dateien per E-Mail verschickt, wird man sie abfangen.
Er brennt eine DVD mit allen Bildern, allen Videoaufnahmen, seinem Bericht. Diese legt er in einen wattierten Umschlag und überlegt einen Moment wegen der Adresse. Schließlich schreibt er Ninas Namen und Anschrift auf die Vorderseite. Zu der DVD legt er einen Zettel mit der Aufschrift: »Pass bitte darauf auf, bis ich es abholen komme.« Er hat schon früher Sachen bei ihr eingelagert: Notizen für sein Buch, Tagebücher von seinen Reisen. Bei ihr sind die Sachen sicherer als bei ihm oder irgendwo in einem leeren Apartment. Der amerikanische Botschafter soll den Umschlag in die Diplomatentasche legen.
Wenn Tatjana Moskalew das zu tun versucht, wonach es aussieht, soll sie noch nicht wissen, dass er es dokumentieren will. Bei dieser Story hat er nur eine Chance. Journalisten wurden schon wegen weniger eines Landes verwiesen, und er bildet sich nicht ein, dass sein kurzer Flirt mit ihr vor langer Zeit daran etwas ändern könnte.
An diesem Nachmittag zieht das Hotel seinen Reisepass ein. Wegen der neuen Sicherheitsregeln in diesen turbulenten Zeiten.
Die meisten Reporter verlassen gerade Bessapara. Ein paar Kriegsreporter in Flakwesten befinden sich an der Nordfront, doch bevor die Kämpfe nicht richtig entbrannt sind, gibt es von dort auch nicht viel zu berichten. Die nächsten fünf Wochen vergehen mit vielen Drohungen und Säbelrasseln, konkret passiert jedoch nichts.
Tunde bleibt. Auch wenn er das sehr lukrative Angebot erhält, in Chile die Antipäpstin zu interviewen und ihre Ansichten zu Mother Eve zu hören. Auch wenn immer mehr Männerterroristengruppen sagen, dass sie nur eine öffentliche Erklärung abgeben, wenn er sie persönlich aufzeichnet. Er bleibt und interviewt Dutzende Menschen in den Städten der Region. Er lernt ein paar Brocken Rumänisch. Als Kollegen und Freunde ihn fragen, was er da zum Teufel macht, antwortet er, er arbeite an einem Buch über diesen neuen Staat, woraufhin sie mit den Schultern zucken und sagen: »Na gut.« Er nimmt an den Gottesdiensten in den neuen Kirchen teil und sieht, wie die alten Gotteshäuser umgewidmet oder zerstört werden. Er sitzt in einem Kellerraum bei Kerzenlicht und hört einem Priester zu, der einen Gottesdienst nach alter Tradition leitet; der Sohn und nicht die Mutter steht im Mittelpunkt. Danach zieht der Geistliche Tunde in einer engen Umarmung an sich und flüstert: »Vergessen Sie uns nicht.«
Man sagt Tunde mehr als einmal, dass die Polizei Morde an Männern nicht mehr untersucht; wenn ein Mann tot aufgefunden wird, nimmt man an, eine Gruppe Frauen auf Rachefeldzug hätte ihm die angemessene Behandlung für frühere Taten angedeihen lassen. »Selbst ein Junge«, erzählt ein Vater in einem überheizten Wohnzimmer in einem Dorf im Westen, »selbst ein fünfzehnjähriger Junge … was kann der schon früher getan haben?«
Tunde stellt nichts von alldem ins Internet. Er weiß, wie das enden würde – ein Klopfen an der Tür morgens um vier, ein Platz im ersten Flugzeug, das das Land verlässt. Er schreibt, als wäre er ein Tourist, im Urlaub in der neuen Nation. Jeden Tag postet er Bilder. Die Kommentare werden immer ärgerlicher und fordernder. Wo sind die Videos, Tunde, wo deine lustigen Storys? Aber sie würden bemerken, wenn er plötzlich verschwinden würde. Das ist wichtig.
Während seiner sechsten Woche im Land gibt Tatjanas neu ernannte Justizministerin eine Pressekonferenz, die nur spärlich besucht ist. Der Raum hat keine Fenster, die Wände sind mit Tapeten mit beige-braunen Streifen bedeckt.
»Nach den neuesten Terroranschlägen auf der ganzen Welt und nachdem unser Land von Männern verraten wurde, die für den Feind arbeiten, verkünden wir heute eine Reihe neuer Gesetze«, sagt sie. »Unser Land hat zu lange unter Menschen gelitten, die jetzt versuchen, uns zu zerstören. Wir müssen uns nicht fragen, was sie tun werden, falls sie gewinnen, das wissen wir bereits. Wir müssen uns schützen gegen diejenigen, die uns verraten könnten.
Deshalb tritt heute ein Gesetz in Kraft, dass in den Reisepass jedes Mannes in diesem Land sowie allen anderen offiziellen Dokumenten der Name eines weiblichen Vormundes eingetragen sein muss. Ohne ihre schriftliche Erlaubnis darf der Mann sich nicht draußen bewegen oder verreisen. Wir wissen, dass Männer mit allen Wassern gewaschen sind, und wir dürfen nicht zulassen, dass sie sich verbünden.
Jeder Mann, der keine Schwester, Mutter, Ehefrau oder Tochter hat oder andere weibliche Verwandte, muss sich auf dem Polizeirevier melden, wo ihm eine Arbeitsstelle zugewiesen wird, bei der er zum Schutz der Öffentlichkeit mit anderen Männern zusammengekettet ist. Jeder Mann, der dieses Gesetz bricht, wird zum Tod verurteilt. Dies betrifft auch ausländische Journalisten und andere Berufstätige.«
Die Männer im Raum wechseln Blicke; etwa ein Dutzend ausländischer Journalisten befindet sich im Land, seit damals, als es noch ein finsterer Außenposten für Menschenhandel war. Die Frauen geben vor, schockiert zu sein, doch im Grunde sind sie einverstanden mit den Maßnahmen. »Keine Angst«, scheinen sie auszustrahlen, »das ist nur eine Übergangsregelung, und solange es dauert, helfen wir euch.« Einige Männer verschränken beschützend die Arme vor der Brust.
»Kein Mann darf Geld oder andere Besitztümer aus dem Land bringen.«
Die Justizministerin blättert um. Die Seiten enthalten lange, eng und klein gedruckte Reihen mit Erlassen.
Männer dürfen nicht mehr Auto fahren.
Männer dürfen nicht länger ihr eigenes Geschäft betreiben. Ausländische Journalisten und Fotografen müssen von einer Frau angestellt sein.
Männer dürfen nur noch Gruppen über drei Personen bilden, wenn eine Frau anwesend ist, selbst im eigenen Heim.
Männer dürfen nicht mehr wählen – die vielen Jahre voller Grausamkeit und Erniedrigung haben gezeigt, dass sie nicht in der Lage sind, zu regieren oder zu verwalten.
Eine Frau, die einen Mann dabei erwischt, wie er diese Gesetze in der Öffentlichkeit bricht, hat nicht nur die Erlaubnis, sondern ist sogar dazu verpflichtet, ihn sofort zu maßregeln. Jede Frau, die dieser Pflicht nicht nachkommt, ist ein Staatsfeind, billigt Verbrechen und untergräbt den Frieden und die Einheit dieses Landes.
Die Justizministerin liest noch einige Seiten mit Erläuterungen zu diesen Gesetzen vor, was »in Begleitung einer Frau« genau umfasst, dazu noch mildernde Umstände, wenn ein extremer medizinischer Notfall eintreten sollte, man sei ja schließlich kein Monster. Es wird immer stiller im Raum, je länger die Verlautbarung dauert.
Als die Justizministerin geendet hat, legt sie ihre Unterlagen ruhig vor sich auf den Tisch. Sie wirkt völlig entspannt, das Gesicht unbeteiligt.
»Das ist alles«, sagt sie abschließend. »Es sind keine Fragen erlaubt.«
In der Hotelbar sagt Hooper von der Washington Post: »Es ist mir egal, ich haue ab.«
Das hat er bereits einige Male gesagt. Er schenkt sich noch einen Whisky ein und lässt drei Eiswürfel hineinfallen, dann schwenkt er sie im Glas und fährt fort:
»Warum zum Teufel sollten wir irgendwo bleiben, wo wir nicht arbeiten dürfen, wenn es unzählige andere Orte gibt? Ich bin mir ziemlich sicher, dass im Iran bald etwas passiert. Da fahre ich hin.«
»Und wenn im Iran etwas passiert«, knurrt Semple von der BBC, »was wird dann wohl mit den Männern passieren?«
Hooper schüttelt den Kopf. »Nicht im Iran. Nicht so. Sie werden ihren Glauben nicht über Nacht ändern und alles den Frauen überlassen.«
»Weißt du noch«, entgegnet Semple, »wie sich über Nacht alles geändert hat, als der Schah abgesetzt wurde und Khomeini an die Macht kam? Du weißt schon, dass das rasend schnell geschah?«
Stille.
»Und was schlägst du dann vor?«, fragt Hooper. »Alles aufgeben? Nach Hause fahren und Gartenredakteur werden? Dich kann ich mir da richtig gut vorstellen. Flakweste an den Unkrautgrenzen.«
Semple zuckt mit den Schultern. »Ich bleibe. Ich bin britischer Staatsbürger und stehe unter dem Schutz Ihrer Majestät. Ich werde den Gesetzen im vernünftigen Rahmen gehorchen und darüber berichten.«
»Was willst du denn berichten? Wie es ist, in einem Hotelzimmer zu sitzen und auf eine Frau zu warten, die einen abholt?«
Semple schiebt die Unterlippe vor. »Schlimmer als das wird es nicht.«
Tunde hört am Nebentisch zu. Vor ihm steht ebenfalls ein großer Whisky, doch er trinkt nicht davon. Die Männer werden immer betrunkener und lauter. Die Frauen beobachten die Männer stumm und irgendwie mitfühlend. Etwas Verletzliches und Verzweifeltes liegt im Verhalten der Männer.
Einer sagt laut: »Wir bringen dich überall hin, wohin du willst. Hör mal, wir glauben nicht an diesen Schwachsinn. Sag uns, wohin du willst. Es wird wie immer sein.«
Hooper packt Semple am Ärmel. »Du musst abhauen. Nimm das erste Flugzeug und verschwinde von hier.«
Eine der Frauen sagt: »Er hat recht. Dieses widerwärtige Land ist es nicht wert, getötet zu werden.«
Tunde geht langsam zur Rezeption. Er wartet, während ein älteres norwegisches Ehepaar seine Rechnung zahlt. Vor dem Hotel steht ein Taxi, in das der Fahrer gerade Gepäck einlädt. Wie die meisten Bürger wohlhabender Nationen verlassen die beiden die Stadt, solange es noch geht. Nachdem sie alle Posten auf der Minibarrechnung noch einmal durchgegangen und die Steuern genau hinterfragt haben, gehen sie endlich.
Nur ein Angestellter hat Dienst. Sein dunkles Haar ist dicht und lockig und hier und da von Grau durchzogen. Er ist etwa sechzig und arbeitet sicher schon seit vielen Jahren hier.
Tunde lächelt kameradschaftlich.
»Seltsam, was zurzeit alles passiert«, sagt er.
Der Mann nickt. »Ja, Sir.«
»Wissen Sie schon, was Sie tun werden?«
Der Mann zuckt mit den Schultern.
»Haben Sie Familie, die Sie aufnehmen kann?«
»Meine Tochter lebt drei Stunden von hier im Westen auf einer Farm. Ich werde zu ihr ziehen.«
»Man lässt Sie reisen?«
Der Mann blickt auf. Das Weiß seiner Augen ist gelblich und von dünnen Blutgefäßen durchzogen. Einige Sekunden sieht er Tunde an.
»So Gott will.«
Tunde steckt langsam und beiläufig eine Hand in seine Tasche. »Ich überlege auch, auf Reisen zu gehen«, sagt er. Wartet ab.
Der Mann fragt nicht nach. Vielversprechend.
»Natürlich benötige ich ein, zwei Dinge dafür, die … ich nicht mehr habe. Dinge, ohne die ich nicht abreisen wollen würde. Wenn ich das denn tun wollte.«
Der Mann nickt langsam.
Tunde schiebt unauffällig die Geldscheine unter die Schreibunterlage auf dem Tresen, sodass nur die Ecken zu sehen sind. Zehn Fünfzigdollarscheine. US-Währung funktioniert immer.
Der Atem des Mannes stockt für einen Moment.
Tunde fährt jovial fort: »Freiheit. Das wollen alle.« Dann: »Ich glaube, ich gehe jetzt ins Bett. Könnten Sie dem Zimmerservice sagen, dass ich gern noch einen Scotch hätte? Zimmer 614. So bald wie möglich.«
Der Mann antwortet: »Ich werde Ihnen das Getränk persönlich bringen, Sir. Kommt sofort.«
In seinem Zimmer schaltet Tunde den Fernseher an. Kristen sagt, die Vorhersagen für das vierte Quartal sind nicht gut. Der attraktive Matt lacht und erwidert, also, ich verstehe davon ja gar nichts, aber ich werde dir sagen, womit ich mich auskenne: Apfeltauchen.
Auf C-Span gibt es eine kurze Zusammenfassung zu einem »militärischen Einsatz« in dieser »turbulenten Region«, doch ausführlicher wird über inländischen Terrorismus in Idaho berichtet. UrbanDox und seine Idioten waren erfolgreich. Wenn man jetzt von Männerrechten spricht, meint man sie und ihre Verschwörungstheorien, ihre Gewalt und das Bedürfnis nach Begrenzungen. Keinen interessiert, was hier passiert. Die Wahrheit war schon immer ein komplexeres Gut als die einfachen Tatsachen, als die der Markt sie verkaufen will. Und jetzt zum Wetter.
Tunde packt seinen Rucksack. Zweimal Kleidung zum Wechseln, seine Notizen, Laptop, Handy, Wasserflasche. Außerdem seine alte Analogkamera mit vierzig Filmrollen, denn es können Tage vergehen, bis er wieder Zugang zu Elektrizität oder Akkus hat. Eine Analogkamera wird sehr nützlich sein. Er zögert, dann legt er noch zwei weitere Paar Socken hinzu. Unerwartete Aufregung steigt in ihm auf, gepaart mit Angst und Wut. Er sagt sich, wie dumm es ist, aufgeregt zu sein. Das hier ist eine ernste Situation. Als es an der Tür klopft, zuckt er zusammen.
Er öffnet und fürchtet einen Moment, der Rezeptionist habe ihn falsch verstanden. Auf einem Tablett steht ein Whiskyglas auf einem rechteckigen Untersetzer, sonst nichts. Erst bei genauerem Hinsehen erkennt er, dass das Glas auf seinem Pass steht.
»Danke«, sagt er. »Genau das, was ich wollte.«
Der Mann nickt. Tunde bezahlt für den Whisky und verstaut den Pass in der Seitentasche seiner Hose.
Er wartet bis halb fünf Uhr morgens, bis er aufbricht. Die Flure sind still, das Licht gedämpft. Kein Alarm ertönt, als er die Tür aufzieht und in die Kälte hinaustritt. Niemand versucht, ihn aufzuhalten. Als wäre der Nachmittag nur ein böser Traum gewesen.
Tunde durchquert die ausgestorbenen Straßen, in der Ferne bellen einige Hunde. Kurz beschleunigt er sein Tempo und verlangsamt es schließlich wieder. Als er die Hand in die Hosentasche steckt, findet er seinen Zimmerschlüssel vom Hotel. Er überlegt, ob er ihn in einen Briefkasten oder gleich wegwerfen soll, befühlt den glänzenden Messinganhänger und schiebt ihn wieder in seine Tasche. Solange er ihn behält, kann er sich einbilden, dass Zimmer 614 immer auf ihn wartet, so, wie er es verlassen hat. Das Bett noch zerwühlt, die Zeitung unordentlich auf dem Tisch, seine guten Schuhe unter dem Nachtkästchen, seine getragenen Hosen und Socken in der Ecke bei seinem offenen, halb leeren Koffer.