Tunde
Irgendwo im ländlichen Moldau bringt ein dreizehnjähriges Mädchen mit ein paar dunklen Härchen über der Oberlippe hartes Brot und alten, öligen Fisch in einen dunklen Keller, in dem eine Gruppe von Frauen auf alten Matratzen kauert. Seit Wochen kommt sie schon hierher. Sie ist jung und etwas schwer von Begriff. Sie ist die Tochter des Mannes, der den Brotlaster fährt. Er steht manchmal Schmiere für die Männer, denen das Haus gehört, und die Frauen, die hier gefangen gehalten werden. Sie bezahlen ihm ein bisschen was für das harte Brot.
Die Frauen haben versucht, das Mädchen um ein paar Sachen zu bitten. Ein Mobiltelefon – ob sie ihnen nicht irgendwie ein Telefon bringen könnte? Papier, etwas zu schreiben – ob sie einen Brief für sie einwerfen könnte? Eine Briefmarke und etwas Papier? Wenn ihre Familien erfahren, was ihnen zugestoßen ist, werden sie dem Mädchen etwas bezahlen können. Bitte. Das Mädchen hat immer zu Boden geblickt, wild mit dem Kopf geschüttelt und mit ihren feuchten, ausdruckslosen Augen geblinzelt. Die Frauen glauben, dass sie vielleicht taub sein könnte. Oder man hat ihr gesagt, sie solle sich taub stellen. Diese Frauen haben bereits Dinge erlebt, nach denen sie selbst am liebsten blind und taub wären.
Die Tochter des Brotauslieferers leert den Toiletteneimer in den Abfluss auf dem Hof, spritzt ihn mit einem Schlauch aus und bringt ihn, bis auf ein paar Kotflecken unter dem Rand, sauber zurück. Wenigstens für eine oder zwei Stunden wird der Geruch hier drinnen etwas besser sein.
Das Mädchen will gehen. Wenn sie weg ist, werden sie wieder im Dunklen sitzen.
»Lass uns Licht da«, bittet eine der Frauen. »Hast du keine Kerze? Ein bisschen Helligkeit für uns?«
Das Mädchen dreht sich zur Tür. Betrachtet die Treppe ins Erdgeschoss. Niemand zu sehen.
Sie nimmt die Hand der Frau, die gesprochen hat, dreht die Innenseite nach oben. Das dreizehnjährige Mädchen berührt die Mitte der Handfläche und macht etwas mit dem Ding, das in ihrem Schlüsselbein zum Leben erwacht ist. Die Frau auf der Matratze – sie ist fünfundzwanzig und dachte, sie würde nach Berlin reisen, um dort als Sekretärin zu arbeiten – schnappt nach Luft und schaudert. Ihre Schultern krümmen sich, sie reißt die Augen weit auf. Und die Hand, die sich an der Matratze festklammert, leuchtet kurz silbern auf.
Sie warten im Dunkeln. Sie trainieren. Sie müssen sich sicher sein, dass sie gleichzeitig losschlagen können, dass keiner Zeit haben wird, nach seiner Pistole zu greifen. Im Dunkeln geben sie es bewundernd von Hand zu Hand weiter. Manche werden schon so lange gefangen gehalten, dass sie noch nie von diesem neuen Phänomen gehört haben. Für die anderen war es nur ein seltsames Gerücht, eine Kuriosität. Sie glauben, Gott hat ein Wunder zu ihrer Rettung geschickt, wie Er die Kinder Israels auch aus der Sklaverei führte. In ihrer Not riefen sie um Hilfe. Licht erhellte das Dunkel. Sie weinen.
Einer der Wächter kommt, um die Frau loszubinden, die als Sekretärin nach Berlin gehen wollte, bevor man sie auf den Betonboden warf und ihr immer wieder zeigte, was für eine Aufgabe sie tatsächlich erfüllen soll. Er hält die Schlüssel in der Hand. Zusammen fallen sie über ihn her. Kein Ton dringt über seine Lippen, Blut strömt aus seinen Augen und Ohren. Mit seinen Schlüsseln befreien sie sich gegenseitig von ihren Fesseln.
Dann töten sie jeden Mann im Haus und sind doch nicht zufriedengestellt.
Moldau ist das internationale Zentrum des Frauenhandels. Es gibt tausend kleine Städte mit Zwischenposten in Kellern und Wohnungen in abbruchreifen Gebäuden. Männer und Kinder werden auch gehandelt. Die Mädchen wachsen heran, bis die Gabe in ihren Händen erwacht und sie die erwachsenen Frauen darin unterweisen können. Das passiert so umfassend und so schnell, dass die Männer keine neue Überlebensstrategien lernen können. Es ist ein Geschenk. Wer könnte leugnen, dass es von Gott kommt?
Tunde reicht einige Berichte und Interviews aus den moldauischen Grenzstädten ein, wo die Unruhen besonders stark sind. Die Frauen vertrauen ihm wegen seiner Berichterstattung aus Riad. Nicht viele Männer hätten dem Geschehen so nahe kommen können; er hatte Glück, aber er war auch klug und entschlossen. Er bringt seine anderen Berichte mit, zeigt sie derjenigen Frau, die über diese oder jene Stadt befiehlt. Alle wollen, dass man ihre Geschichten hört.
»Es waren nicht nur diese Männer, die uns wehgetan haben«, erzählt eine zwanzigjährige Frau namens Sonja. »Wir haben sie getötet, aber es waren nicht nur sie. Die Polizei wusste, was vor sich ging, und hat nichts unternommen. Die Männer in der Stadt haben ihre Frauen geschlagen, wenn diese uns mehr Essen bringen wollten. Der Bürgermeister wusste, was passierte, die Vermieter wussten es, sogar die Postboten.«
Sie beginnt zu weinen, reibt sich mit dem Handrücken die Augen. Sie zeigt ihm das Tattoo in ihrer Handfläche – das Auge, aus dem die Ranken herauswachsen.
»Das bedeutet, dass wir niemals aufhören werden, wachsam zu sein«, erklärt sie. »So wie Gott über uns wacht.«
Abends schreibt Tunde fieberhaft. Eine Art Tagebuch. Beobachtungen aus dem Krieg. Diese Revolution braucht einen Chronisten. Ihn. Er stellt sich ein breit angelegtes Buch vor – mit Interviews, natürlich, aber auch Einschätzungen zum Lauf der Geschichte, Analysen der verschiedenen Regionen und Nationen. So weit zurücktreten, um die Stoßwellen der Kraft über den Planeten wabern zu sehen. So nahe herantreten, um sich auf einzelne Momente und Geschichten zu konzentrieren. Manchmal schreibt er so leidenschaftlich, dass er ganz vergisst, selbst nicht über die Gabe zu verfügen. Es wird ein dickes Buch werden. Neunhundert, tausend Seiten. De Tocquevilles Über die Demokratie in Amerika. Gibbons Verfall und Untergang des Römischen Reiches. Außerdem wird es online noch ein Sperrfeuer an Videos geben. Lanzmanns Shoah. Reportagen direkt aus den Ereignissen, zusammen mit Analysen und Diskussionen.
Er beginnt das Kapitel über Moldau mit einer Beschreibung, wie die Gabe unter den Frauen von Hand zu Hand weitergegeben wurde, geht dann über zum Erstarken von Religion im Netz und wie das diese Frauen unterstützt hat, die den Oberbefehl über Städte übernommen haben, und landet schließlich bei der unausweichlichen Revolution auf Regierungsebene.
Tunde interviewt den Präsidenten fünf Tage vor dem Fall der Regierung. Wiktor Moskalew ist ein kleiner, stark schwitzender Mann, der sein Land durch eine Reihe von Allianzen zusammengehalten hat und indem er den großen Verbrecherorganisationen gegenüber ein Auge zugedrückt hat, die seine kleine, bescheidene Nation als Basis für ihre widerwärtigen Geschäfte missbrauchen. Während des Interviews ist er nervös, kann die Hände kaum ruhig halten, streicht sich beständig die wenigen verbliebenen Haarsträhnen aus den Augen. Sein kahler Kopf ist schweißbenetzt, auch wenn es recht kühl im Raum ist. Seine Frau Tatjana – eine frühere Gymnastin, die beinahe an den Olympischen Spielen teilgenommen hätte – sitzt neben ihm und hält seine Hand.
»Präsident Moskalew«, sagt Tunde lächelnd und mit ruhiger Stimme. »Ganz unter uns: Was passiert Ihrer Meinung nach in Ihrem Land?«
Wiktor schluckt angestrengt. Sie sitzen im großen Empfangssaal seines Palastes in Chişinău. Die Hälfte des Mobiliars ist vergoldet. Tatjana streichelt sein Knie und lächelt. Auch sie ist vergoldet – hell gesträhntes Haar, Make-up mit Glitzerpartikeln auf den Wangen.
»Alle Länder«, antwortet Wiktor langsam, »müssen sich an die neue Realität anpassen.«
Tunde lehnt sich zurück und schlägt ein Bein über das andere.
»Das hier ist nicht für das Radio oder das Fernsehen bestimmt, Wiktor. Nur für mein Buch. Mich würde Ihre Einschätzung wirklich interessieren. Dreiundvierzig Grenzorte sind praktisch von paramilitärischen Vereinigungen eingenommen, zum Großteil Frauen, die sich aus der Sexsklaverei befreit haben. Wie schätzen Sie Ihre Chancen ein, die Kontrolle zurückzuerlangen?«
»Unsere Truppen sind bereits unterwegs, um diese Rebellen zu zerquetschen«, erklärt Wiktor. »Innerhalb weniger Tage wird sich die Situation normalisiert haben.« Tunde hebt zweifelnd eine Augenbraue und lacht leise auf. Meint Wiktor das wirklich ernst? Die Gangs haben Waffen, kugelsichere Westen und Munition von den Verbrechern entwendet, die sie getötet haben. Sie sind buchstäblich unbezwingbar.
»Entschuldigung, aber was genau haben Sie vor? Ihr eigenes Land in Schutt und Asche bombardieren? Sie sind überall.«
Wiktor lächelt geheimnisvoll. »Wir werden tun, was nötig ist. Diese Unruhen werden in ein oder zwei Wochen vorbei sein.«
Verdammter Mist. Vielleicht will er wirklich das gesamte Land bombardieren und dann Präsident eines riesigen Trümmerhaufens sein. Oder vielleicht hat er einfach noch nicht akzeptiert, was tatsächlich vor sich geht. Das wird eine interessante Fußnote in seinem Buch. Präsident Moskalew wirkt inmitten seines zusammenbrechenden Landes geradezu blasiert.
Nach dem Gespräch wartet Tunde draußen auf dem Flur auf einen Botschaftswagen, der ihn in sein Hotel bringt. Es ist sicherer, sich unter nigerianischer Flagge zu bewegen als unter dem Schutz von Moskalew. Doch es kann zwei oder drei Stunden dauern, bis ein Auto den Sicherheitscheck hinter sich gebracht hat.
So findet Tatjana Moskalew ihn: auf einem bestickten Stuhl sitzend und auf einen Anruf wartend, dass sein Wagen bereitstehe.
Auf ihren hohen Absätzen kommt sie deutlich hörbar den Gang entlang. Ihr Kleid ist türkis, hauteng, gerüscht und so geschnitten, dass ihre durchtrainierten Beine und Schultern zur Geltung kommen. Sie ragt hoch über ihm auf.
»Sie mögen meinen Mann nicht, habe ich recht?«, fragt sie.
»So würde ich das nicht sagen.« Er lächelt gewinnend.
»Ich schon. Werden Sie etwas Negatives über ihn drucken?«
Tunde stützt die Ellbogen auf die Armlehnen des Stuhls und lehnt sich zurück. »Tatjana«, sagt er, »wenn wir uns weiter unterhalten wollen, würde ich mich über etwas zu trinken freuen.«
Sie treiben einen Brandy in einem Raum auf, der wie das Set eines Films aus den Achtzigern über die Wall Street aussieht: viel Gold und ein dunkler Holztisch. Tatjana schenkt ihnen großzügig ein, dann blicken sie gemeinsam über die Stadt. Der Präsidentenpalast ist ein Hochhaus mitten in der Stadt. Von außen sieht er aus wie ein unauffälliges Vier-Sterne-Business-Hotel.
Tatjana beginnt zu erzählen: »Er hat meine Schule besucht und dort eine Aufführung von mir angesehen. Ich war Gymnastin und bin vor dem Finanzminister aufgetreten!« Sie trinkt einen Schluck. »Ich war siebzehn und er zweiundvierzig. Doch er hat mich aus dieser völlig unbedeutenden Stadt herausgeholt.«
»Die Welt ändert sich gerade«, bemerkt Tunde, und sie tauschen einen Blick aus.
Tatjana lächelt. »Sie werden sehr erfolgreich sein«, sagt sie. »Sie haben diesen gewissen Hunger, den ich schon mal gesehen habe.«
»Und Sie? Haben Sie ihn … den Hunger?«
Sie mustert ihn von oben bis unten und macht ein leises, schnaubendes Geräusch. Sie muss jetzt selbst um die zweiundvierzig sein.
»Schauen Sie, was ich kann«, antwortet sie. Auch wenn er irgendwie schon weiß, zu was sie imstande ist.
Sie legt ihre Hand flach auf den Fensterrahmen und schließt die Augen.
Die Lampen an der Decke flackern und erlöschen.
Sie blickt auf, seufzt.
»Warum besteht da eine Verbindung zu den Fensterrahmen?«, fragt Tunde verblüfft.
»Schlechte Verkabelung«, erwidert sie trocken. »Wie überall hier in diesem Haus.«
»Weiß Wiktor, dass Sie das können?«
Sie schüttelt den Kopf. »Meine Friseurin hat es mir gegeben. Sie meinte es als Witz. Eine Frau wie Sie, sagte sie, wird das niemals brauchen. Sie sind versorgt.«
»Und sind Sie das?«, fragt Tunde. »Versorgt.«
Tatjana lacht laut auf. »Vorsicht. Wiktor würde Ihnen die Eier abschneiden, wenn er Sie so reden hörte.«
Tunde lacht ebenfalls. »Muss ich wirklich vor Wiktor Angst haben? Immer noch?«
Sie nippt langsam an ihrem Drink. »Möchten Sie ein Geheimnis erfahren?«
»Immer.«
»Awadi-Atif, der neue König von Saudi-Arabien, lebt im Norden des Landes im Exil. Er versorgt Wiktor mit Geld und Waffen. Deshalb glaubt Wiktor, er könne die Rebellen niederschlagen.«
»Im Ernst?«
Sie nickt.
»Haben Sie dafür Beweise? E-Mails, Faxe, Fotos, irgendwas?«
Sie schüttelt den Kopf.
»Suchen Sie ihn selbst. Sie sind ein kluger Junge und werden einen Weg finden.«
Er leckt sich die Lippen. »Warum erzählen Sie mir das?«
»Ich möchte, dass Sie sich an mich erinnern«, antwortet sie, »wenn Sie berühmt sind. Sich erinnern, dass wir uns einmal so unterhalten haben.«
»Nur unterhalten?«, fragt Tunde.
»Ihr Wagen ist hier«, verkündet sie und deutet auf die schwarze Limousine, die dreißig Stockwerke unter ihnen durch die Absperrung rollt.
Fünf Tage später stirbt Wiktor Moskalew plötzlich und unerwartet im Schlaf an einem Herzschlag. Die Weltgemeinschaft erfährt überrascht, dass unmittelbar danach der Oberste Gerichtshof des Landes einstimmig in einer Notstandssitzung seine Frau Tatjana als Übergangspräsidentin einsetzt. Natürlich würden noch offizielle Wahlen folgen, in denen Tatjana kandidieren würde, doch zuerst einmal müsse man in diesen schwierigen Zeiten die Ordnung aufrechterhalten.
Allerdings, erklärt Tunde in seinem Bericht, dürfe man Tatjana Moskalew nicht unterschätzen. Sie sei eine geschickte und intelligente Politikerin und habe ihre Fähigkeiten offensichtlich klug eingesetzt. Bei ihrem ersten öffentlichen Auftritt trug sie eine kleine Goldbrosche in der Form eines Auges; manche sagten, dies sei eine Reverenz an die wachsende Beliebtheit der »Göttin«-Bewegung im Netz. Man wies darauf hin, wie schwierig es sei, den Unterschied zwischen einem normalen Herzinfarkt und einem gezielten elektrischen Schock festzustellen, doch für diese Gerüchte gab es keine stichhaltigen Beweise.
Machtübertragungen verlaufen natürlich selten unproblematisch. Diese hier wird zusätzlich durch einen Militärcoup verkompliziert, für den Wiktors Verteidigungschef verantwortlich ist, der über die Hälfte der Armee mitnimmt und die Moskalew-Übergangsregierung aus Chişinău vertreibt. Doch die Horden von Frauen, die sich in den Grenzstädten befreit haben, stehen Tatjana Moskalew zur Seite. Bis zu dreihunderttausend Frauen wurden jedes Jahr durch das Land geschleust und ihre Körper verkauft. Ein Großteil von ihnen ist geblieben, weil sie nirgendwohin können.
Am dreizehnten Tag des fünften Monats des dritten Jahres nach dem Tag der Mädchen bringt Tatjana Moskalew ihr Vermögen und ihre Beziehungen, etwas weniger als die Hälfte ihrer Armee und einen Großteil ihrer Waffen in eine Burg in den Bergen im moldauischen Grenzgebiet. Dort ruft sie ein neues Reich aus, vereint die Küstengebiete zwischen den alten Wäldern und den großen Meeresarmen und erklärt damit vier einzelnen Ländern den Krieg, darunter auch dem Russischen Bären. Sie nennt das neue Land Bessapara, nach den Menschen, die in grauer Vorzeit hier lebten und die heiligen Worte der Priesterinnen auf den Berggipfeln interpretierten. Die internationale Staatengemeinschaft beobachtet die Entwicklung und geht davon aus, dass sich der neue Staat nicht lange halten wird.
Tunde dokumentiert alles sorgfältig. »Es liegt ein gewisser Geruch in der Luft, wie Regen nach langer Dürre. Zuerst ein Mensch, dann fünf, dann fünfhundert, ganze Dörfer, Städte, Staaten. Eins führt zum anderen. Etwas Neues geschieht. Und es wird immer größer.«