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Ein lautes Knattern weckte Pierre aus dem Schlaf, kurz darauf ein scharfes metallisches Geräusch. Hundertfach dröhnte es in seinem Kopf, als wolle ihn jemand mit einem Meißel öffnen.

»Verdammt!« Er richtete sich langsam auf und rieb sich den schmerzenden Kopf. Vor ihm, auf dem Couchtisch stand ein umgekipptes Glas, daneben zwei leere Flaschen Rotwein. Er hatte sich eine weitere geholt, um die inneren Dämonen zu vertreiben, nun wüteten sie umso heftiger.

Es war bereits hell draußen, die Armbanduhr zeigte halb acht, eine Unzeit für jemanden, der keinen Grund hatte, früh aufzustehen.

Mürrisch erhob er sich und sah aus dem Fenster. Dort hinten, wo der alte Weinberg lag, hing eine Staubwolke in der Luft.

»Martin wird doch wohl nicht …«

Pierre konnte sich dunkel daran erinnern, dass der Sommelier ihm ein paar Tage vor Vertragsbeginn abgerungen hatte, am Mittwoch wollte er mit der Arbeit beginnen, und das war heute. Aber wer konnte denn damit rechnen, dass er das auch in die Tat umsetzte, noch dazu so früh am Morgen!

Kein Provenzale, den er kannte, würde bei einem solch langwierigen Projekt bereits am ersten Tag mit den Maschinen anrücken. Aber Martin Cazadieu stammte ja auch aus der Bretagne, da tickten die Uhren offenbar anders. Seine Genauigkeit hatte ihm den Job des Chefsommeliers im Luxushotel Domaine des Grès eingebracht, dessen Inhaber ein höchst penibler Schweizer war. Bis Cazadieu im vergangenen Sommer gekündigt hatte, um sich mit einer Weinhandlung samt Weinschule selbstständig zu machen.

Pierre eilte in die Küche und erfrischte sein Gesicht mit eiskaltem Wasser, dann stürmte er nach draußen, als sein Handy klingelte. Eine Telefonnummer aus der Gegend.

»Ja?«, fragte er unwirsch.

»Monsieur Durand, hier spricht Elaine Nogué vom Pôle emploi . Wir haben Ihnen vorige Woche eine Anfrage aus Mazan zukommen lassen, und Sie haben sich noch nicht darauf gemeldet.«

»Mazan ist zu weit weg«, winkte Pierre ab, ohne sein Tempo zu drosseln. »Das kommt nicht infrage. Außerdem war das nur die Stelle eines Fahrers. Das liegt weit unter meiner Qualifikation. Wie ich bereits bei unserem Termin gesagt habe, kommen nur ein gleichwertig bezahlter Beruf infrage und eine Arbeitsstelle, die gut erreichbar ist.«

»Ich bitte Sie, Monsieur, Sie sind nicht in der Situation, Bedingungen zu stellen. Ein suspendierter Beamter bekommt die Angebote nicht gerade hinterhergeworfen.«

»Sie scherzen. Haben Sie sich meine Akte nicht angesehen? Ich habe einen Abschluss, der weit über dem eines Policiers liegt. Ich habe im Kommissariat von Paris gearbeitet und hätte im vergangenen Jahr Commissaire in Cavaillon werden können, der Präfekt hätte mich mit Handkuss genommen.«

»Ich weiß, Sie haben es bereits erwähnt. Angeblich haben Sie einem jüngeren Kollegen mit Familie den Vortritt gelassen, was für mich allerdings nur schwer nachprüfbar ist. Es würde helfen, wenn wir vom Büro des Präfekten eine Bestätigung bekämen, dann …« Sie hielt inne. »Was ist denn das für ein furchtbarer Lärm bei Ihnen?«

»Bauarbeiten«, sagte Pierre ausweichend, während er die Brücke überquerte und die zypressengesäumte Straße in Richtung des ehemaligen Weinberges entlanglief. Die Luft war bereits warm, es würde wieder ein heißer Tag werden.

»Es klingt wie ein Presslufthammer, der über eine Kreidetafel schleift.« Ihr Widerwille war deutlich zu vernehmen, tapfer fuhr sie fort, kämpfte mit erhobener Stimme um Gehör. »Na, schön, wir hätten hier noch das Gesuch eines Sicherheitsdienstes. Die Nachfrage nach Mitarbeitern ist nach den vielen Einbrüchen in der Gegend merklich gestiegen.«

»Nein, das ist nichts für mich«, antwortete Pierre mit nur mühsam aufrechterhaltener Freundlichkeit. Am liebsten hätte er beide Hände auf die Ohren gepresst, aber er musste das Telefonat zu Ende führen, er war abhängig von ihrem Wohlwollen, da durfte er nichts riskieren.

»Ah«, fuhr die Frau fort, »ich sehe gerade, dass für die Apfelernte Helfer gesucht werden. Die Plantage liegt ganz in Ihrer Nähe, an der Route de Robion , kurz hinter Taillades.«

»Madame, Sie machen Witze!«, brüllte er gegen das Kreischen und Wummern an, das inzwischen ein nahezu unerträgliches Ausmaß angenommen hatte, sodass es ihm die Nackenhaare aufstellte.

»Das ist eine gute, ehrliche Arbeit, für die man sich nicht schämen muss«, brüllte die Dame zurück. »Saisonkräfte werden händeringend gesucht, Sie helfen damit verzweifelten Landwirten.«

»Das mag sein, Madame, aber wie der Name impliziert, bin ich dann nur eine Saison beschäftigt. Ich suche etwas Langfristiges. Und nicht nur einen Job, wegen dem mir im Zweifel die Unterstützung gekürzt wird, denn das wird passieren, sobald die Ernte eingefahren ist.«

»Nun gut«, kam es gedehnt, aber nicht minder laut. »Saisonarbeit passt tatsächlich nicht zu Ihrem Profil. Aber Ihre Weigerung, sich bei dem Geldtransportunternehmen in Mazan vorzustellen, ist notiert. Das Gleiche gilt für den Sicherheitsdienst.«

Der Lärm erstarb. Es war auf einmal so still, dass Pierre erschrak, als ein lautes Seufzen durch den Hörer drang.

»Sie müssen nachweisen, dass Sie aktiv suchen, ansonsten verlieren Sie Ihren Anspruch auf Unterstützung. Das wissen Sie.«

»Ja, und ich gelobe, mich zu bessern. Wenn Sie mich nun bitte entschuldigen würden …« Pierre legte auf. Dabei sah er, dass gestern Abend noch ein Anruf eingegangen war. Luc hatte um zwanzig nach zehn versucht, ihn zu erreichen. Da war er bereits auf dem Rückweg zum Hof gewesen, wütend und traurig zugleich. Pierre schob das Telefon in die Hosentasche. Was auch immer sein ehemaliger Assistent ihm hatte sagen wollen, es war offenbar nicht wichtig genug, um eine Nachricht zu hinterlassen.

Inzwischen war Pierre am Feldrand angekommen, wo zwei Männer standen – der eine muskulös und braun gebrannt, mit freiem Oberkörper und kurzen, beuteligen Jeans, der andere groß und leicht korpulent, in heller Leinenhose und Hemd. Sie sahen gestikulierend zu einem Traktor hinüber, der mit erhobener Metallschaufel vor dichtem Buschwerk zum Stehen gekommen war. Noch immer hing eine beträchtliche Staubwolke in der Luft, die sich nur allmählich senkte.

»Was war das denn für ein Krach?«, rief Pierre ohne jede Begrüßung.

Die beiden Männer drehten sich zu ihm um, der größere grinste breit. »Bonjour, mon ami! «, rief er aus und kam ihm entgegen.

»Martin?«

Fast hätte Pierre ihn nicht erkannt. Der Sommelier hatte seine Löwenmähne zu einem Zopf zusammengebunden und trug einen Hut mit schmaler Krempe. Er sah gut aus, irgendwie erholt.

»Du liebe Güte, Pierre, du siehst ja grauenhaft aus. Bist du krank, geht es dir nicht gut?«

»Du hast mich geweckt.« Pierre rieb sich die Stirn, noch immer pulsierte es hinter seinen Augen, der Schmerz zog sich wie eine Klammer bis zum Hinterkopf. »Martin, das geht so nicht, das halte ich nicht aus!«

»Kauf dir Ohrstöpsel, die wirken Wunder.« Cazadieu hob zwei violette Pfropfen in die Höhe und schob sie mit einem entwaffnenden Lächeln zurück in die Tasche seiner Leinenhose. »Es tut mir leid, Pierre, aber das Entfernen der Feldsteine ist gar nicht so einfach. Und dann der alte Eisendraht … Wenn der erst draußen ist, wird der Geräuschpegel erträglicher, versprochen.«

»Und wie lange soll das dauern?«

Cazadieu nahm den Hut vom Kopf und tupfte sich mit einem Tuch den Schweiß von der Stirn. Dann blies er die Luft durch die Backen. »Das brachliegende Feld ist eine enorme Herausforderung, da wurde seit mindestens einem Jahrzehnt nichts mehr gemacht. Wir werden das ganze Buschwerk und die alten Triebe rausholen und häckseln, dann die Pfähle und Anker. Bevor wir die Setzlinge einbringen, muss die Erde gelockert und der Boden gelüftet werden. Das ist eine Menge Arbeit. Und die Maschinen sind nicht die allerneuesten.«

»Dann richtest du dich eben erst einmal im Lager beim Stall ein und beginnst im Herbst mit der Rodung. Bis dahin habe ich wieder einen Job, und du kannst so viel Lärm machen, wie du willst.«

»Im Herbst?« Fassungslosigkeit breitete sich auf Cazadieus Gesicht aus. »Da verliere ich ja eine ganze Saison!«

»Das tust du doch sowieso. Neue Rebstöcke werden für gewöhnlich zwischen April und Mai ausgebracht, jetzt ist es bereits Ende Juni.«

»Die Weinbauern, die ihre Setzlinge in diesem Jahr früh gepflanzt haben, kämpfen wegen des heftigen Mairegens alle mit Pilzerkrankungen.« Cazadieu schüttelte den Kopf. »Nein, das passt schon. Gut vorbereitete Pflanzen kann man bis zu den Eisheiligen in den Boden bringen.«

Pierre hob abwehrend die Hände auf der Suche nach weiteren Argumenten. Er würde es nicht ertragen, jeden Morgen so geweckt zu werden. »Hast du nicht die furchtbaren Bilder in der Zeitung gesehen, von den vertrockneten Reben? Die Hitze sei eine ernsthafte Gefahr für den Weinbau, genau das haben sie geschrieben.«

»Ach was«, winkte Cazadieu ab. »In der Presse klingt es wie die Apokalypse, und, ja, das Wetter spielt verrückt. Aber die Fotos haben sie vermutlich irgendwo bei Roussillon aufgenommen, dort gibt es einen Bauern, der seine Reben aus Geiz nicht vernünftig wässert. Ansonsten frischgrüne Pflanzen, wohin man auch sieht. Die Brunnen sind gut gefüllt nach dem Regen, das reicht eine Weile.«

»Fragt sich nur, wie lange.«

»Wir werden die Wärme noch vermissen, Pierre. Spätestens, wenn das Wetter umschlägt und wir nur noch bewölkte Tage haben, erzählen alle vom herrlichen Sommerwetter und davon, dass man ohne Jacke rausgehen konnte, ohne zu frieren.« Er sah auf seine Armbanduhr. »War’s das? Ich muss nämlich dringend los.« Damit gab er dem Arbeiter einen Wink, woraufhin der in Richtung des Traktors stiefelte.

Pierre stand der Mund offen. Das konnte doch wohl nicht wahr sein! Bretone hin oder her – in puncto Dickköpfigkeit konnte Martin Cazadieu es mit jedem der Bewohner von Sainte-Valérie aufnehmen.

»Nein, Martin!«, rief er, bebend vor Wut. All die Demütigungen der letzten Tage brachen aus ihm heraus. Es reichte. Er war doch nicht der dorfeigene Prügelknabe! »Schluss damit. Ich will nicht einen Mucks mehr von diesem schleifenden und kreischenden Monstrum hören.«

Verblüfft stützte Cazadieu die Hände in die Hüften. »Ah bon ? Und warum nicht?«

»Weil ich mir Gedanken um meine berufliche Zukunft machen und weitreichende Entscheidungen treffen muss, und dabei brauche ich absolute Ruhe. Unser Vertrag gilt ab Juli. Bis dahin sind nur geräuschlose Tätigkeiten erlaubt.«

»Das kannst du mir nicht antun.« In einer theatralischen Geste warf Cazadieu die Arme in die Höhe. »Wenn ich nicht sofort mit der Rodung anfange, bin ich ruiniert.«

»Das ist Unsinn, und das weißt du auch.« Damit drehte sich Pierre um und marschierte zurück Richtung Hof.

Er kam nur wenige Meter weit. Cazadieu war ihm gefolgt und packte ihn am Arm. »Warte. Ich habe die perfekte Lösung. Für dich und für mich.«

Pierre blieb stehen. Der Sommelier strahlte ihn an, als hätte er gerade einen Jahrhundertwein entkorkt. »Und die wäre?«

»Hast du schon mal ein Hausboot gesteuert?«

»Ja, aber das ist ewig her.«

»Das verlernt man nicht, es ist wie beim Fahrradfahren.«

»Was hat das mit unserem Problem zu tun?«

»Ganz einfach. Du willst doch eigentlich nur in Ruhe nachdenken, oder? Ich besitze ein Hausboot, es liegt in Saint-Gilles, in der Camargue. Ich habe einem guten Kunden aus Béziers versprochen, es ihm für eine Tour zur Verfügung zu stellen. Aber heute Morgen hat sich der Mann, der es überführen sollte, krankgemeldet, und einem Fremden will ich es nur ungern überlassen, gerade jetzt, wo ich es hergerichtet habe. Allein der Gedanke, dass sich irgendein dahergelaufener Tölpel durch die Betten wühlt …« Er schüttelte sich. »Nein, unmöglich! Ich selbst habe leider keine Zeit, aber du, du kannst mir helfen.«

Pierre rieb sich über das stoppelige Kinn. »Ich soll ein Hausboot nach Béziers bringen?«

»Exactement . So eine Fahrt ist enorm meditativ, genau das Richtige, um das Leben neu zu sortieren. Gleichzeitig kommst du raus, siehst andere Orte. Die Route führt durch wildschöne Sumpflandschaften, an Reisfeldern vorbei und endlosen Sandstränden. Und du durchquerst den Étang de Thau . Dort gibt es Austernbänke und ganz wunderbare Miesmuscheln, die mytilus galloprovincialis . Die sind viel größer und fleischiger als die aus dem Mittelmeer. Und erst der Geschmack …« Er küsste seine Fingerspitzen. »Die Reise wird dir gefallen, Pierre. Na, los, sag schon ja!«

»Béziers …« Die Aussicht, all das hier zurückzulassen und über die Kanäle zu schippern, gefiel ihm. »Wie lange braucht man von Saint Gilles dorthin?«

»Die Fahrtzeit beträgt nicht ganz zwanzig Stunden, auf vier oder fünf Tage verteilt. Jetzt ist Donnerstag, wenn du heute losfährst, bist du spätestens Montagabend zurück. Bis dahin haben wir den Berg sicher gerodet. Na, was sagst du?«

Pierre stellte sich vor, wie er ganz gemächlich den Canal du Rhône à Sète entlangschipperte – quer durch die Camargue – und schließlich am Étang de Thau haltmachte, in Bouzigues oder Mèze. Dort würde er einen Tag pausieren. Er hatte schon viel von dieser Lagune gehört. Es hieß, die Nähe des Meeres mache die Menschen dort ausgeglichener, entspannter. Er würde durch die Fischerdörfer bummeln, Austern schlürfen, an einem der weiten Strände barfuß durch den Sand laufen und die Meeresbrise auf dem Gesicht spüren.

»Das ist eine großartige Idee«, entfuhr es ihm, erfüllt von plötzlichem Tatendrang. »Aber wie komme ich dorthin? Ich habe kein Auto.«

»Du könntest die Buslinie 17 nehmen, die vor dem Stadttor hält, bis nach Cavaillon. Und von dort mit dem Zug über Miramas nach Arles. Und dann … dann …« Cazadieu überlegte, sah schließlich auf seine Uhr. »Das dauert ewig. Weißt du, was? Ich fahre dich hin. Gleich habe ich einen wichtigen Termin, aber um elf kann ich dich abholen. Passt das?«

»Elf klingt perfekt.«

Pierre lächelte. Er würde fortgehen und alles, was ihn bedrückte, zurücklassen. Er würde jeden Stein seines Herzens umdrehen und prüfen, ob er zu schwer war, um ihn zu tragen. Die großen würde er einfach abschütteln. Und zu dem, was übrig blieb, zurückkehren. Am Ende der Reise würde er endlich wissen, wohin sein beruflicher Weg ihn führte, dessen war er sich sicher.

Und Charlotte … Nun ja, über sie nachzudenken, hatte er momentan keine Kraft mehr.