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Beim Pont de Tarascon-Beaucaire hatten sie die Rhône überquert und erreichten nun die Camargue über den westlichen Teil, der zur Region Occitanie gehörte. Die letzten Kilometer fuhren sie auf schnurgerader Straße an Reihen frisch gepflanzter Birken vorbei, an Pappeln, die wie Soldaten vor Feldern und Wiesen wachten, und gelegentlich an einem Gehöft. Es war das erste Mal, dass Pierre die Camargue durchquerte, und noch erinnerte nichts an das, was er von Bildern und Erzählungen kannte, die ein Naturparadies versprachen, mit wildschönen Landschaften, Flussläufen und Sümpfen und den weitläufigsten Sandstränden Südfrankreichs.

Sie erreichten Saint-Gilles um Viertel nach zwölf. Flache Häuser mit gedrungenen Dächern und verschnörkelten Balkongeländern säumten die Straße zum Hafen, hier und dort stand eine Palme. Sie kamen an verwilderten Gärten vorbei, an Häusern mit verriegelten Fensterläden, an einer Gruppe Platanen, die in regelmäßigen Abständen aus den betonierten Wegen ragten. Trostlos war es hier, fand Pierre, als sie das Café de la Gare passierten, vor dem Männer auf roten Plastikstühlen und Barhockern um bunt bemalte Fässer saßen und den vorbeifließenden Verkehr beobachteten. Als hätte dieser Ort an irgendeinem Punkt innegehalten und dann den Anschluss verpasst.

Vor der Brücke, die über einen schmalen Kanal führte, lenkte Cazadieu den Wagen nach rechts und fuhr über eine Rampe direkt an den Kai. Pierre sah an ihm vorbei aus dem Fenster und betrachtete die Boote, eine zusammengewürfelte Mischung aus Jollen und Kähnen, alt und neu. Er war neugierig, welches Hausboot das des Sommeliers war. Vor einem sichtlich ramponierten Exemplar hielten sie an.

Sollte das etwa sein Zuhause für die nächsten Tage sein? Er würde mehr mit Reparaturen beschäftigt sein denn mit Fahren – und das war keine besonders gute Idee. Wenn es um technisches oder handwerkliches Geschick ging, besaß er zwei linke Hände. Als er damals beschlossen hatte, sein Bauernhaus selbst zu renovieren, weil ihm die Handwerker zeitweilig abhandengekommen waren, hatte er bei dem Versuch, die Tapeten abzuziehen, ein Stück der Wand eingerissen.

Pierre reckte den Kopf in Richtung des Bootes. Quer über die gesamte Länge bis zum Fahnenmast war eine Leine gespannt, an der bunte Wäsche trocknete. Dann entdeckte er ein Paar, das auf Klappstühlen im Schatten des Vordaches saß, und atmete auf.

»So, da wären wir.« Cazadieu öffnete die Fahrertür und schälte sich aus dem für ihn viel zu kleinen Wagen. »Verdammt, ist das heiß!«

Die starre Hitze schlug Pierre entgegen, als er ausstieg, es war windstill.

»Schau mal, was ich dir mitgebracht habe.« Cazadieu, der vor dem geöffneten Kofferraum stand, zeigte auf zwei Weinkartons. »Einer davon ist für dich, als Dank für die Überführung. Ein Rosé aus Châteauneuf-du-Pape. Da staunst du, was? Dort gibt es nicht nur Rotweine, sondern auch intensiv beerige Rosés, das ist mal was anderes als die Plörre, die man sonst so kennt. Damit machst du es dir am Abend gemütlich, ja? Den anderen Karton hat der Kunde bestellt.« Er wartete, bis Pierre seine Reisetasche und einen Karton angehoben hatte, hievte den zweiten hoch und marschierte voran.

»Das ist ja eine klassische péniche! «, rief Pierre überrascht aus, als Cazadieu vor einem lang gestreckten Boot mit hoher Führerkabine stehen blieb.

»Schön, nicht wahr?«

»Vor allem groß.« Mindestens drei Meter breit und neun Meter lang, schätzte Pierre, wenn nicht noch mehr.

»Ja, ein herrliches Refugium. Mein Vater hat sie mir vermacht. Sie war ein wenig in die Jahre gekommen und renovierungsbedürftig, aber Anfang des Jahres habe ich es endlich geschafft, sie quer durch Frankreich zu fahren und hier von Jules und seinem Team rundum erneuern zu lassen. Wenn ich Rentner bin, was hoffentlich noch eine Weile dauert, werde ich die Hälfte des Jahres auf dem Boot verbringen und über die Kanäle schippern. Und einfach dort bleiben, wo es mir gefällt. Das, mein Lieber, ist die absolute Freiheit!«

Pierre betrachtete das Hausboot eingehend. Dunkler Rumpf, weiß gestrichene Kante, glänzend braune Bohlen auf dem Oberdeck. Ein dickes Tau und Gummiwürste gegen Kollisionen, die man, wie er sich vage erinnerte, Fender nannte. Der Steuerstand sah aus, als sei er neu aufgesetzt worden. Große Fenster und eine verglaste Schiebetür, durch die eine Küche mit Gasherd zu sehen war, davor eine Essecke mit einer Bank und drei gepolsterten Stühlen.

»Pierre?« Eine weibliche Stimme ließ ihn herumfahren. Der Ruf war aus einem offenen Jeep gekommen, aus dem eine wohlgerundete Frau mit zurückgebundenem, dickem schwarzbraunem Haar und einem Puppengesicht stieg. Sie trug Sneakers, eine Jeans zur geknoteten Hemdbluse und kam Pierre mit einem strahlenden Lächeln entgegen. »Tatsächlich, du bist es! Seit wann trägst du einen Bart? Ich hätte dich beinahe nicht erkannt.«

»Kalia? Was machst du denn hier?«

Sie gaben sich drei Wangenküsschen.

»Ich bin wieder in die Nähe meiner Familie gezogen, nachdem Bernard und ich uns getrennt haben.«

»Ihr seid getrennt? Das tut mir leid.«

»Kein Problem. Wir haben einfach nicht zusammengepasst.«

»Und, wie geht es dir jetzt?«

»Ach, ganz gut.« Sie lächelte, und ihre braunen Augen funkelten. »Ich bin von Menschen umgeben, die mich mögen, und verdiene mein eigenes Geld. Momentan arbeite ich als Reiseführerin und zeige Touristen meine Heimat. Gerade komme ich von der Abteikirche, in deren Überresten das Grab des heiligen Ägidius liegt. Sie ist eine Etappe der Via Tolosana auf dem Weg nach Santiago de Compostela. Und du? Wohnst du noch immer in Paris?«

»Nein, aber das ist eine lange Geschichte.« Ein Räuspern ließ ihn innehalten. Er stellte die Weinkiste auf dem Boden ab und machte eine Handbewegung in Richtung des Sommeliers. »Darf ich vorstellen? Martin Cazadieu, ein guter Freund von mir. Er leiht mir sein Hausboot für die nächsten Tage.« Nun zeigte er auf Kalia. »Martin, das ist Kalia Guiraud.«

»Bonjour .« Cazadieu, der noch immer die Weinkiste in den Händen hielt, nickte knapp. »Kannst du das freudige Wiedersehen kurz mal verschieben? Ich muss weiter.«

»Ich auch«, sagte Kalia. »Aber vielleicht sehen wir uns ja ein anderes Mal?« Sie eilte zum Jeep und kam kurz darauf mit einem Flyer wieder. »Hier, falls du eine Reiseführerin brauchst.«

Pierre warf einen Blick auf die Karte, auf der schneeweiße Camargue-Pferde an einem menschenleeren Strand zu sehen waren, und verabschiedete sich mit weiteren drei Wangenküsschen.

»Ich melde mich. Vielleicht finden wir ja Zeit für ein Abendessen.«

»Würde mich freuen!«

Damit ging sie zurück zu ihrem Wagen und startete den Motor.

»Eine alte Freundin also«, meinte Cazadieu mit einem vielsagenden Zwinkern. »Sie ist hübsch. Wart ihr mal zusammen?«

»Nein. Ihr Mann Bernard und ich waren an der Polizeiakademie im selben Jahrgang und haben uns auch später regelmäßig gesehen, obwohl wir unterschiedliche Wege gegangen sind.«

»Sie ist eine gitane, nicht wahr?«

Pierre nickte.

»Aus welcher Gruppe?«

»Ihre Familie entstammt dem katalonischen Zweig.«

»Ich meine, gehört sie zu den roms oder den manouches

»Du verwechselst das. Die gitans sind eine eigene Gemeinschaft. Sie stammen aus dem spanischen Raum, während man annimmt, dass die anderen beiden vom indischen Subkontinent aus nach Ost- und Westeuropa eingewandert sind.«

Pierre sah Kalia nach, bis der Jeep hinter einer Kurve aus seinem Blickfeld verschwand. Er fragte sich, was zwischen den beiden wohl vorgefallen war. Bernard und Kalia waren ein schönes Paar gewesen, deren innige Liebe zueinander zu spüren war. Ebenso wie der Respekt und die Wertschätzung für den anderen. Obwohl beides so manches Mal auf die Probe gestellt worden war.

Kalia war stolz auf ihre Herkunft. Ebenso Bernard, der nur lachte, wenn sich mal wieder jemand wunderte, dass er »so eine« geheiratet hatte.

»Meine Frau ist der warmherzigste Mensch, den man sich vorstellen kann«, meinte er dann, »du solltest dir ein Beispiel an ihr nehmen.«

»Pierre, was ist, kommst du?« Der Sommelier war inzwischen an Bord geklettert und balancierte die Weinkiste im Arm, während er mit der freien Hand den Schlüssel ins Schloss steckte. »Es funktioniert nicht!«, rief Cazadieu und ruckelte den Schlüssel nach rechts. »Das Schloss klemmt.«

Pierre trat zu ihm und drückte die Klinke herunter. Die Tür sprang auf. »Et voilà! «

»Nanu«, Cazadieu schüttelte verwundert den Kopf. »Hat Jules’ Frau etwa vergessen abzuschließen?«

Mit gerunzelter Stirn betrat er den lichtdurchfluteten Steuerstand, Pierre folgte ihm. Die Sonne hatte aus dem Inneren einen Glutofen gemacht, es war stickig und heiß, und es roch nach Lack.

»Ich hoffe, das Boot hat eine Klimaanlage …«

»Nein, leider nicht.« Cazadieu stellte den Weinkarton neben der Steuerzentrale auf den Boden und riss die Fenster auf. »Wenn die Sonne nicht mehr so knallt, kannst du einen Teil des Daches öffnen«, sagte er und zeigte auf einen Knopf seitlich des Steuerstandes. »Das fühlt sich an wie in einem Cabrio.« Dann öffnete er den Kühlschrank. Er war gefüllt mit Wurst, Käse, einem Glas Makrelenrillette, Butter und Milch. Und einer Flasche Rosé, der so hell war, dass er bei Cazadieu glatt als Plörre durchgehen würde.

»Herrlich«, entfuhr es Pierre, der unvermittelt bemerkte, dass er Hunger hatte. »Kannst du hellsehen?«

»Ich kenne dich doch. Und weil ich weiß, dass man dir mit gutem Essen eine Freude machen kann, habe ich Jules’ Frau gebeten, die Vorräte aufzufüllen. Du sollst es ja gut haben, n’est-ce pas ? Frisches Brot und Wasser findest du im Hochschrank, du kannst dich bei allem bedienen.« Cazadieus Gesicht glänzte, der Schweiß rann ihm Stirn und Wangen hinab. Er kramte nach einem Taschentuch, tupfte sich über die Haut und zog dann einen Zettel aus seiner Hemdtasche. »Hier ist die Telefonnummer des Kunden, dem du das Boot bringen sollst. Ruf ihn an, sobald du abschätzen kannst, wann du ankommst. Er wird dich zum Bahnhof bringen. Ich hole dich dann in Avignon wieder ab.« Er wandte sich der schmalen Stiege zu, die in den Bauch des Bootes führte. »So, jetzt zeige ich dir noch den Salon.«

Es klingelte. Cazadieu sah auf sein Mobiltelefon und nahm ab.

»Ja, was gibt’s? Jetzt schon? Mon Dieu , ich dachte, er kommt erst um drei. Na schön, zeig ihm so lange die Lieferung. Nein, besser geh mit ihm essen, ich bin schon unterwegs.« Er legte auf. »Entschuldige bitte, aber ich muss sofort los.«

»Moment, nicht so schnell.« Pierre betrachtete den altmodischen Steuerstand, die vielen Knöpfe und Hebel, ehe er nach vorne sah, wo sich der schlanke Vorbau über mehrere Meter zog. »Dieser Kahn ist viel zu groß für eine Person, den kann ich niemals alleine lenken. Geschweige denn, damit irgendwo anlegen.«

»Ich weiß, eigentlich hätte Jules’ Sohn mithelfen sollen, aber der …«

»Ist ebenfalls krank?«

Cazadieu nickte entschuldigend.

»Das ist nicht dein Ernst.« Pierre verschränkte die Arme vor der Brust. »Du willst wohl, dass ich das Ding zu Schrott fahre!«

»Du schaffst das schon, davon bin ich fest überzeugt. Auf dem Weg sind keine Schleusen, und das Boot fährt quasi von alleine. Ich habe ein Bugstrahlruder einbauen lassen, damit lässt es sich kinderleicht manövrieren.«

»Und beim Anlegen soll ich mich wohl zweiteilen, hm?«

»Im Hafen findet sich immer eine helfende Hand, der man das Seil zuwerfen kann. Und wenn du mal nicht weiterweißt, dann konsultierst du das Handbuch in der Schublade dort hinten. Jules hat das Boot vollgetankt, das sollte bis Béziers reichen. Der Frischwassertank ist ebenfalls voll, das sind knapp tausend Liter, den kannst du per Schlauch an den Häfen nachfüllen.« Cazadieu hob die Brauen. »Es gibt auch eine 220-Volt-Steckdose an Bord, falls du dich, so Gott will, dazu entschließen solltest, deinen Bart zu entfernen. Die kannst du aber nur benutzen, wenn du mit dem Verlängerungskabel Strom vom Landanschluss ziehst, was ich dir, wenn du meine Meinung hören willst, empfehlen würde, bevor du ablegst.«

Pierre strich sich über das stoppelige Kinn. »So schlimm?«

»Na ja, ich würde sagen, hart an der Grenze zum Neandertaler, aber das muss jeder selbst wissen.« Er grinste. »Ach, sei so lieb und zieh das Bett ab, bevor du von Bord gehst. Im Schrank findest du einen Wäschesack, den stellst du einfach für den Reinigungsdienst in den Flur, die machen kurz sauber, bevor es weitergeht.« Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Tut mir leid, aber ich muss jetzt wirklich los. Danke, Pierre. Du weißt gar nicht, wie sehr du mir hilfst!« Cazadieu zog ihn mit einer beherzten Geste an sich und drückte ihm einen nassen Kuss auf die Wange. »Bisou, mon ami , und viel Erfolg.«