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Es dauerte nur wenige Sekunden, bis Louis’ Atemzüge gleichmäßiger wurden und er schließlich geräuschvoll zu schnarchen begann. Das Gesicht angestrengt, mit zuckenden Mundwinkeln. Es war ein Leichtes, den Rucksack unbemerkt aus der Kabine zu befördern, und Pierre stellte ihn auf dem Esstisch im oberen Bereich ab, um nach Hinweisen auf den ungebetenen Gast zu suchen.

In der vorderen Tasche fand er einen Schlüssel, der an einem Stück Treibholz befestigt war. Camping le Clos du Rhône war darauf eingebrannt. Pierre notierte sich den Namen und zog dann das Portemonnaie hervor.

Darin befanden sich dreißig Euro in kleinen Scheinen und ein Personalausweis. Louis hieß in Wahrheit Emil Allombert, er war einundzwanzig Jahre alt. Der Ausweis war ausgestellt von der Präfektur Bergerac. Womit sich wieder bewahrheitete, dass sich Menschen bei der spontanen Suche nach einem falschen Namen an Dingen orientierten, die ihnen vertraut waren.

Pierre machte von beiden Seiten ein Foto. Dann schaltete er die Profikamera ein in der Hoffnung, eine Antwort auf die Frage zu bekommen, was den jungen Mann derart verängstigt hatte, dass er sich hier auf dem Hausboot verbarg. Denn dass er nicht auf der Suche nach einem Unterschlupf gewesen war, sondern nach einem Versteck, dessen war Pierre sich inzwischen sicher.

Mit der Hand schirmte er die Kamera vor dem grellen Tageslicht ab und beugte sich tief über das Display. Die Aufnahmen zeigten einen See. Eine sumpfige Landschaft mit Flamingos und Wasservögeln, deren Namen er nicht kannte. Einen aus dem Schilf stoßenden Silberreiher in faszinierender Nahaufnahme. Weiße Vögel mit gleichmäßigen schwarzen Flecken und krummen Schnäbeln vor der Kulisse der untergehenden Sonne. Bilder, die Louis’ – wie er ihn weiterhin nennen würde – Aussage untermauerten. Sogar den Sturz konnte man erahnen, den Schwindel angesichts der sengenden Sonne. Die letzten Bilder waren verschwommen, ein buntes Rauschen, so, als seien sie im Fallen entstanden. Fest verbackener Sand war zu sehen, vermischt mit Schlickgras. Ein paar Sträucher vor rot glühendem Himmel. Dann tiefe Schwärze. Pierre überprüfte das Datum und die Uhrzeit. Die Aufnahmen waren gestern Abend gemacht worden, die letzte um acht Uhr einundvierzig.

Pierre merkte auf. War der Tote aus dem Radio nicht an einem der Seen gefunden worden? Wie hieß der noch gleich … Étang de Vaccar è s ?

Noch einmal blätterte er die Fotos durch bis zum vermeintlichen Sturz. Einige Bilder zeigten ein im Wasser liegendes Baumgerippe, auf dessen Ästen Kraniche saßen, die am Ende der Serie in den Himmel stiegen, als hätte sie etwas aufgeschreckt. Er zoomte heran. Am linken Bildrand war ein Schatten zu sehen, als betrete ein Spaziergänger die Szenerie.

War Louis Zeuge eines Verbrechens geworden? Oder war er sogar selbst im Visier des Täters gewesen?

Pierre beschirmte das Display wieder mit einer Hand und fotografierte die Bilder mit seinem Mobiltelefon ab, dann legte er alles zurück in den Rucksack und stellte diesen an den ursprünglichen Platz zurück. Der junge Mann schlief noch immer tief und fest, die Stirn in Falten gelegt.

Leise stieg Pierre hinauf zum Steuerstand und dachte nach. Er brauchte dringend nähere Informationen. Wenn er den Zeugen eines Mordes an Bord hatte, dann sollte er es baldmöglichst wissen.

Ahnte der Täter, dass jemand ihn gesehen hatte? War er Louis womöglich bis hierher gefolgt?

Pierre sah sich um, ob irgendeine auffällige Gestalt am Kai entlangschlich und nach dem jungen Mann suchte. Aber außer den Besitzern des benachbarten Bootes und einer Gruppe Jugendlicher, die sich auf ihren Skatebords über die Unebenheiten der Straße stürzten, war niemand in der Nähe.

Er nahm das Telefon und wollte aus alter Gewohnheit die Durchwahl seines ehemaligen Assistenten wählen, hielt dann aber inne. Luc hatte gestern Nacht noch versucht, ihn zu erreichen. Hatte er das plötzliche Bedürfnis verspürt, seinem triefenden Mitleid Ausdruck zu verleihen? Sicher hatte Penelope erzählt, dass er dem Gespräch in der Bar du Sud unfreiwillig gelauscht hatte. Pierre dachte an den gestrigen Abend, und mit einem Mal war auch die Scham wieder da. Warum hatte Luc ihn nicht vor den anderen verteidigt? Schönen Dank auch!

Brummelnd wählte Pierre die Nummer der mairie in der Hoffnung, Gisèle würde abheben und nicht eine der Praktikantinnen, die Marechal inzwischen eingestellt hatte. Die Empfangsdame war das eigentliche Ohr des Dorfes, diskret und bestens vernetzt. Ihre Kontakte reichten in sämtliche Behörden der Region, sie konnte ihm sicher weiterhelfen.

»Bürgermeisteramt von Sainte-Valérie«, erklang ihre Stimme. »Sie rufen außerhalb unserer Öffnungszeiten an, die da wären …«

Merde , nur der Anrufbeantworter. Pierre stieß die Luft aus und legte auf. Natürlich, über Mittag war das Bürgermeisteramt geschlossen. Er suchte nach einer anderen Durchwahl. Manchmal blieb Gisèle in der Pause in der mairie , um in Ruhe weiterzuarbeiten. Er fand die Nummer in seinen Kontaktdaten und drückte die Wähltaste.

»Bonjour , Gisèle am Apparat.«

Erleichtert atmete er aus. »Gisèle, bonjour

»Monsieur Durand! Wie schön, Sie zu hören. Sie sprechen so leise. Wie geht es Ihnen? Sind Sie erkältet?«

»Nein, aber ich möchte nicht, dass jemand unser Gespräch mithört.«

»Ich soll Sie zum Bürgermeister durchstellen, nicht wahr? Sie haben Glück, er ist bereits am Platz.« Gisèle verfiel jetzt ebenfalls in ein Flüstern. »Dann haben Sie sich also doch entschieden, gegen die Suspendierung anzugehen? Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr mich das erleichtert. Wir alle vermissen Sie sehr. Falls er sich querstellt, brauchen Sie nur ein Wort zu sagen. Ich rede mit ihm.«

Pierre musste heftig schlucken. »Nein, nicht nötig, das Thema ist durch.« Es klang bitter. Und tatsächlich verspürte Pierre einen Stich in der Brust. Er hatte seine Arbeit geliebt, musste er zugeben, aber er hatte genügend Fantasie, sich vorzustellen, wie wenig davon unter Maurice Marechal übrig bliebe.

»Aber warum rufen Sie dann an?«

»Ich möchte Sie um einen Gefallen bitten. Wenn Sie mir versprechen, es vorerst für sich zu behalten.«

»Nun machen Sie mich aber neugierig. Was kann ich denn für Sie tun?«

»Ich habe einen jungen Mann aufgegabelt, dem offenbar etwas zugestoßen ist. Er hat mir einen falschen Namen genannt. Und nun möchte ich, dass Sie ihn kurz überprüfen.«

»Einen falschen Namen?«, wiederholte Gisèle spitz, und Pierre stellte sich vor, wie sie ihre goldumrandete Brille zurechtrückte. »Wo haben Sie ihn denn … aufgegabelt?«

»In Saint-Gilles. Ich überführe gerade Martin Cazadieus Hausboot nach Béziers, und er hat sich …« Pierre überlegte, wie er sein Anliegen am besten formulieren sollte. »Ich will nur wissen, ob etwas gegen ihn vorliegt. Ob er von den Behörden gesucht wird. Und ob man ihn bereits in seiner Unterkunft vermisst, im Camping le Clos du Rhône . Wenn Sie außerdem bitte für mich herausfinden könnten, wo genau dieser Mord stattgefunden hat, von dem die Medien heute berichten. An welcher Stelle des Étang de Vaccarès genau.«

»Der Mord?« Ein leiser Aufschrei drang durch den Hörer, und als sie fortfuhr, klang Gisèle ehrlich empört. »Sie meinen, dass dieser Mann, den ich überprüfen soll, etwas damit zu tun hat? Dann bin ich die falsche Ansprechpartnerin. Sie sollten besser gleich die Polizei rufen, und zwar rasch.«

»Nein, Sie missverstehen mich. Ich halte ihn nicht für den Mörder, sondern für einen Zeugen. Aber so etwas kann ernsthafte Konsequenzen nach sich ziehen, deshalb will ich sichergehen, bevor ich etwas in die Wege leite.« Von unten drang das Knarren von Dielen herauf. Pierre beugte sich vor, spähte über die Stufen zum Gang und sah, wie Louis sich in den Waschraum schleppte. »Bitte«, flüsterte er eindringlich. »Tun Sie, worum ich Sie gebeten habe.« Er gab den Namen und die Nummer des Ausweises durch. »Rufen Sie mich zurück, wenn Sie mehr wissen. Es eilt.« Damit legte er auf.

Als Louis die Treppe heraufkam, das Gesicht etwas weniger gerötet als zuvor, saß Pierre am Esstisch und studierte die Betriebsanleitung des Bootes.

»Drehen Sie den Zündschlüssel nach rechts in Position zwei«, las er leise vor und tat konzentriert. »Nach einer Vorglühzeit von etwa fünfzehn Sekunden drehen Sie ihn weiter auf Position drei, bis der Motor startet«

»Wir liegen ja immer noch im Hafen«, maulte der junge Mann und spähte über die Brüstung. »Wollten Sie nicht längst losfahren?«

»Ja, das werde ich auch.« Pierre ließ das Heft sinken. »Aber bevor ich den Kahn gegen die nächste Brücke setze, schaue ich mir das hier besser noch mal an.«

»Wenn Sie wollen, steuere ich Ihnen das Ding raus«, sagte Louis, dann verzog er das Gesicht. »Ich meine, ich kann Ihnen von hier aus Anweisungen geben, damit Sie es schaffen.«

Nachdenklich betrachtete Pierre den jungen Mann, der offenbar nicht nur dazu entschlossen war, in Deckung zu bleiben, sondern auch so schnell wie möglich von hier zu verschwinden. Es war inzwischen nach zwei, wenn er noch einen Platz am Anleger von Aigues-Mortes bekommen wollte, musste er sich beeilen.

»Gut«, sagte er mit Blick auf dessen verwahrlostes Äußeres. »Während ich das hier zu Ende lese, gehen Sie unter die Dusche. Danach legen wir ab.«

»Haben Sie was Frisches zum Anziehen für mich?«

Pierre betrachtete die spindeldürre Gestalt. Seine Hosen würden an Louis herunterrutschen, noch bevor er den ersten Schritt getan hätte.

»Waschen Sie Ihre Sachen unter der Dusche aus und hängen Sie sie über die Abtrennung«, brummte er. »Bis sie trocken sind, können Sie den Morgenmantel nehmen, der an der Badezimmertür hängt.«

Der Anruf kam, als aus dem Schiffsbauch das Prasseln des Wassers zu hören war.

»Ihr Louis«, sagte Gisèle ohne Einleitung, »oder besser Emil … der wird nicht gesucht. Er war auch noch nie straffällig. Und offenbar gibt es niemanden, der ihn vermisst.«

»Auch nicht auf dem Campingplatz?«

»Nein. Der Platz liegt westlich von Saintes-Maries-de-la-Mer, direkt am Strand. Wie man mir sagte, ist er sehr groß, und die Gäste kommen und gehen, wie sie wollen. Da fällt es nicht weiter auf, wenn jemand seine Unterkunft nicht nutzt. Aber ich konnte herausfinden, dass er sich bis zum Sonntag in einer Ein-Zimmer-Hütte eingemietet hat. «

»Was ist mit dem Tatort?«

»Laut Polizeibericht liegt er am Strandabschnitt nahe der Route de Méjanes , auf Höhe eines Restaurants, das seit vergangenem Winter geschlossen hat.«

»Gisèle ….« Pierre hielt inne, lauschte auf das Prasseln, das aufgehört hatte, gleich darauf aber wieder einsetzte. »Können Sie mit Google Maps umgehen?«

»Ich … ich denke, ja«, sagte die Empfangsdame unsicher.

»Gut. Geben Sie die Adresse ein.«

Pierre lauschte dem Klackern der Tastatur. Er hoffte inständig, sie möge sich auf der Seite zurechtfinden. Die hagere Empfangsdame war einer der altmodischsten Menschen, die er kannte. Sie verabscheute moderne Technik und zeigte sich jeglichen Neuerungen gegenüber ablehnend. In seiner Anfangszeit als Chef de police municipale war Gisèle sehr spröde gewesen, war dann aber rasch aufgetaut. Bei dem Gedanken, wie oft sie ihm schon geholfen hatte, an wertvolle Informationen zu kommen, musste Pierre lächeln. Sie war vertrauenswürdig und verschwiegen, ganz im Gegensatz zur neugierigen Madame Duprais, die jede Unterhaltung zum Bestandteil des Dorftratsches machte.

»Geschafft«, sagte Gisèle jetzt. »Die Karte liegt vor mir auf dem Bildschirm. Und nun?«

»Sehen Sie das gelbe Männchen unten rechts?«

»Ja.«

»Gehen Sie mit dem Cursor drauf, das ist dieser Pfeil, der sich über den Bildschirm bewegt. Halten Sie nun die rechte Maustaste gedrückt und ziehen Sie das Männchen auf den Weg. Was sehen Sie, wenn Sie es zum See hindrehen?«

»Es funktioniert nicht.«

»Versuchen Sie es noch einmal.«

»Es wackelt in der Luft, aber wenn ich loslasse, rutscht es zurück an seinen Platz.«

»Wenn Sie es noch einmal rüberziehen, sehen Sie auf dem Weg eine blaue Markierung?«

»Nein. Weiter oberhalb auf der Straße, ja. Aber nicht dort.«

»Zut! « Das bedeutete, dass der Kamerawagen des Online-Kartendienstes an der Stelle keine Aufnahmen gemacht hatte.

Gisèle atmete hörbar ein. »Aber da ist eine Markierung bei dem verlassenen Restaurant. Warten Sie, ich klicke mal darauf … Offenbar existiert noch eine Website.«

»Gut gemacht«, lobte Pierre. »Sehen Sie nach, ob es Fotos von der Aussicht gibt. Dort oder unter den Bewertungen neben dem Eintrag. Ich brauche dringend Bilder von dem See. Was sehen Sie?«

»Bäume, dahinter ein Strand. Flamingos, wirklich viele Flamingos, und Enten. Pfähle im Wasser, ein schmaler Strand. Der Sand sieht eigenartig aus. Irgendwie klumpig.«

»Weiter. Sagen Sie mir, ob etwas auf dem See ist.«

»Nein. Ah, doch, da ist ein Boot. Es ist blau mit rotem Rand. Aber es liegt am Strand vertäut.«

Pierre stieß einen Fluch aus. Das Prasseln des Wassers hatte aufgehört. Er stieß die Tür auf und kletterte von Bord. Das war wichtig, er musste sich konzentrieren.

»Und noch etwas«, rief Gisèle aus, »ich sehe ein aus dem Wasser ragendes Baumgerippe.«

Pierre spürte, dass sein Herzschlag sich beschleunigte. »Beschreiben Sie es«, wisperte er.

»Es ist hell, die Rinde größtenteils abgefallen. Einige Äste ragen in die Höhe. Die beiden größeren haben Gabelungen.«

Das war das Baumgerippe vom Foto. Louis war dort gewesen. Offenbar war er vom Étang de Vaccarès bis hierher gelaufen, um seinem Verfolger zu entkommen, quer durch die Sumpflandschaft. Was die Striemen erklärte und die vielen Mückenstiche. Vielleicht suchte der Mörder nun nach ihm. Er musste losfahren, bevor man Louis hier fand.

Rasch überschlug Pierre seine Möglichkeiten. Der See befand sich auf der provenzalischen Seite der Camargue, die Zuständigkeit für diesen Fall lag folglich dort.

»Rufen Sie im Kommissariat von Arles an. Berichten Sie, dass ich einen Mann an Bord habe, der möglicherweise unfreiwillig Zeuge des Mordes am Étang de Vaccar è s wurde. Ich werde jetzt mit ihm in Richtung Süden fahren.« Er gab eine Beschreibung des Bootes durch. »Der nächste Liegeplatz ist in Gallician. Die Beamten haben etwa zweieinhalb Stunden Zeit zu beratschlagen, was zu tun ist, ohne meinen Begleiter in Gefahr zu bringen.«

Er legte auf und kletterte zurück an Bord.

»Wer war das?«, fragte Louis, der nach Kirschblüten duftend in dem viel zu großen Morgenmantel auf der Treppe zwischen Schiffsbauch und Oberdeck stand. Er sah aus wie ein Kind, und Pierre spürte, wie sich jäh väterliche Gefühle emporschlichen.

»Eine Freundin. So, und nun lass uns endlich losfahren, es ist höchste Zeit!«

Pierre lächelte. In seinem Inneren pulsierte eine Energie, wie er sie seit Wochen nicht mehr gespürt hatte. Er war wieder da! Im Grunde war er niemals fort gewesen. Nur vorübergehend vergraben.