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»… eins, null, zwei, fünf, acht.« Gisèle hatte den Telefonhörer zwischen Ohr und Kinn eingeklemmt und hielt die Notiz mit der Nummer der Carte nationale d’identité dicht vor ihre Augen, als es an die Tür der mairie klopfte. Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass es bis zur nachmittäglichen Öffnungszeit noch fünfundzwanzig Minuten waren, also ignorierte sie auch das zweite Klopfen und fuhr fort, dem freundlichen Brigardier am anderen Ende der Leitung die Sachlage zu erklären.

»Ja, genau. In Gallician. Monsieur Durand wird dort mit dem Mann an Bord anlegen. Er erwartet Ihren Anruf mit weiteren Anweisungen.«

»Danke für die Information, Madame, die Beamten der Mordkommission werden sich direkt mit ihm in Verbindung setzen.«

Nachdem sie aufgelegt hatte und das Klopfen von einem flehenden Rufen begleitet wurde, setzte Gisèle ihre Lesebrille ab und ging zu Tür.

»Wer ist da?«, rief sie durch das Holz.

»Hier ist Luc. Ist der Bürgermeister im Büro?«

»Ja, aber es ist noch Mittagspause.«

»Ich weiß, aber um drei muss ich wieder in der Wache sein. Kann ich ihn sprechen?«

Maurice Marechal hasste nichts mehr, als in seiner Pause gestört zu werden, aber da Gisèle nicht unhöflich sein wollte, schob sie den Riegel beiseite und öffnete die Eingangstür einen Spalt breit.

Vor ihr stand der junge Mann aus der Polizeiwache, dem sie seit Monsieur Durands Suspendierung immer schon frühmorgens begegnete. Bemüht, sich den Herausforderungen zu stellen. Seine Wangen waren gerötet, das Gesicht wirkte sehr ernst.

Gisèle begrüßte ihn mit einem freundlichen Nicken. Sie mochte Luc, auch wenn er manchmal vor Übereifer über das Ziel hinausschoss. »Ich darf Sie leider nicht vor drei zum Bürgermeister lassen, und da hat er auch gleich einen Termin. Kann ich Ihnen vielleicht weiterhelfen?«

»Können Sie nicht eine Ausnahme machen? Ich habe ein Anliegen. Ein sehr dringendes. Es geht um die Suspendierung von Pierre … Ich meine, er hat nichts getan, was eine solche Reaktion rechtfertigt.«

»Sie wollen ihn verteidigen?« Gisèle lächelte. »Das ist sehr ehrenwert von Ihnen. Aber meinen Sie nicht, er kann für sich selbst eintreten?«

»Nein, das kann er nicht«, entfuhr es Luc, dann schien er zu bemerken, dass er vielleicht etwas zu weit vorgeprescht war, und er räusperte sich. »Ich habe nachgerechnet. Die Widerspruchsfrist läuft kommenden Montag ab, und wenn Pierre sie verstreichen lässt, kann er niemals wieder Polizist werden. Und das wäre unfair.«

»Haben Sie Ihr Vorgehen denn mit ihm besprochen?«

»Ja, das heißt, wir haben es versucht. Penelope und ich haben angeboten, ihm zur Seite zu stehen, gleich nachdem der Bürgermeister die Suspendierung ausgesprochen hatte. Wir wollten sogar dem Gerücht nachgehen, dass Marechal selbst die fingierte Korruptionsanzeige gegen seinen Vorgänger lanciert hat, um ihn aus dem Amt zu kicken. Damit hätte man ihn unter Druck setzen können. Aber Pierre hat abgelehnt. Er stand unter Schock. Das liegt an dem enormen Konflikt, in dem er steckt, das ist mir gestern Abend klar geworden. Sehen Sie, wenn er Widerspruch einlegt, dann bekommt er vielleicht seinen Job zurück, aber Marechal lässt ihn die Drecksarbeit machen, aus Rache. Und Pierre hasst nichts mehr als Bürokram. Also habe ich mir gedacht, dass es jemand anders für ihn machen muss, bevor er nie, nie wieder …«

»Moment mal«, unterbrach ihn Gisèle. »Sprechen Sie etwa von der Anzeige wegen angeblicher Ausstellung von Rechnungen ohne Gegenleistung, deretwegen Arnaud Rozier die Strafverfolgungsbehörde am Hals hatte?«

»Ja, genau die.«

Gisèle sog die Luft ein. Im vergangenen November hatte ein anonymer Hinweis die Polizeiaktion ausgelöst, bei der mehrere Beamten mit quietschenden Reifen vor der mairie gehalten hatten und ins Gebäude gestürmt waren, als handle es sich um die Festsetzung eines Schwerverbrechers.

Sie griff sich an die Brust und spürte ihr Herz klopfen, das sich bei der Erinnerung an diesen Moment beschleunigte. Der Mechaniker Stephane Poncet, der damals zufällig in der Gegend gewesen war, hatte Fotos von den Beamten gemacht, die Akten und Computer aus der mairie geschafft hatten, und sie dann einer Zeitung zugespielt, deren Redaktion dieser Farce mit der Schlagzeile Bürgermeister unter Korruptionsverdacht! die Krone aufgesetzt hatte.

Eine Peinlichkeit sondergleichen, die ihr noch immer die Schamesröte ins Gesicht trieb, obwohl man am Ende nichts gefunden hatte, was diese Aktion rechtfertigte.

Gisèle erinnerte sich noch genau, wie empört sie darüber gewesen war. Nicht nur wegen Arnaud Rozier, dem sie das Ganze – trotz seines Hanges zum großen Auftritt und seiner Anfälligkeit für Schmeicheleien – nicht zutraute, sondern weil es einen Angriff auf ihre Autorität darstellte. Sämtliche Vorgänge gingen früher oder später über ihren Schreibtisch, weshalb Korruption in diesem kleinen Bürgermeisteramt nur dann möglich war, wenn sie ihrer Aufgabe nicht korrekt nachkäme.

Gisèle hatte versucht, die Scham zu verdrängen, und sich später immer wieder gefragt, wer wohl zu einer solchen Gemeinheit fähig wäre. Aber dass ausgerechnet Monsieur le maire Marechal die Sache ins Rollen gebracht hatte, darauf wäre sie nie gekommen. Er war stets sehr freundlich und wohlwollend, nahm die bürokratischen Mühlen ernst und fügte einige hinzu, um die Arbeit einzuhegen und für alle transparent zu gestalten.

»Was wissen Sie darüber?«, fragte Gisèle und musste tief durchatmen, damit sich ihre Stimme nicht überschlug.

»Madame Duprais hat ein Gespräch zwischen Marechal und seiner Frau belauscht, in der sie so etwas andeuteten. Aber es ist leider nicht mehr als eine Aussage.«

»Nun, ja«, überlegte Gisèle, enttäuscht über die Banalität der Beweisführung, »ich denke, das kann man nicht ernst nehmen. Madame Duprais war empört, dass Monsieur le maire Marechal dem alten Uhrmacher eine Strafe aufbrummen wollte, weil er seinen selbst gemachten Ziegenkäse ohne Lizenz verkauft hat.«

Sie legte eine Hand an die Tür und wollte sie wieder zuziehen, doch Luc drückte mit der Hand gegen das Holz.

»Sie müssen mich zu ihm lassen«, sagte er hastig. »Ich muss was wiedergutmachen.«

»Nanu, ist etwas passiert?«

Luc nickte heftig. »Gestern hat Penelope Pierre in der Tür der Bar du Sud stehen sehen, während drinnen die Dorfbewohner über ihn geredet haben. Unschöne Sachen haben sie gesagt, und ich habe ihn noch nicht einmal verteidigt!« Luc senkte den Kopf. »Penelope hat erzählt, wie er sich das Ganze angehört hat, mit hängenden Schultern, und er ist wieder fortgegangen, statt hineinzustürmen und den Leuten die Meinung zu geigen, wie es sonst seine Art ist.« Er schüttelte den Kopf und sah Gisèle wieder an. »Wir haben ihn verletzt. Allein gelassen. Vor den Kopf gestoßen. Uns allen ist das unheimlich peinlich. Und nun …«

»Nun möchten Sie Gerechtigkeit einkehren lassen?«

»Ja. Pierre ist doch mein Freund. Ich will, dass es ihm wieder gut geht und dass alles so wird wie früher.«

»Ich glaube nicht, dass das etwas bringt«, entgegnete Gisèle.

»Warum nicht?«

»Weil bereits einige Personen genau das versucht haben, aber Monsieur Durand es nicht will.«

Luc hob empört die Brauen. »Das kann ich mir nicht vorstellen.«

»Oh doch. Im Gemeinderat hat es eine heftige Diskussion gegeben, obwohl personelle Entscheidungen eigentlich Sache des Bürgermeisters sind. Unser pensionierter Rechtsanwalt François Pistou gab zu bedenken, dass die Suspendierung arbeitsrechtlich nicht haltbar sei. Einige Ratsmitglieder haben Monsieur le maire Marechal daraufhin gedroht, künftige Entscheidungen zu blockieren, wenn er seinen Entschluss nicht rückgängig macht. Am Ende haben sie sich darauf geeinigt, Monsieur Durand zu einer außerordentlichen Sitzung einzuladen, um ihm die Gelegenheit zu geben, sich zu den Vorwürfen zu äußern. Das kann ich bezeugen, ich habe das Protokoll geschrieben und den Brief an ihn aufgesetzt. Aber er ist nicht zum anberaumten Termin erschienen. Et voilà , das war’s dann.«

Luc riss die Augen auf. »Es gab einen Anhörungstermin?«

»Ja. Monsieur Durand hätte Stellung beziehen können. Er hat weder ab- noch zugesagt, daraus haben die Gemeinderatsmitglieder geschlossen, dass er kein Interesse mehr an der Position hat, und ihren Widerstand aufgegeben.«

»Hat ihn jemand gefragt, warum er sich so verhält?«

Die Empfangsdame hob die Schultern. »Ehrlich gesagt habe ich mich auch gewundert, es aber respektiert. Offenbar ist es sein fester Entschluss, nicht dagegen vorzugehen. Weder persönlich noch schriftlich.«

»Na dann …« Der junge policier senkte die Schultern. »Ich hatte gehofft … Aber da kann man wohl nichts machen.«

Gisèle lächelte. »Es war sehr anständig von Ihnen«, sagte sie. »Sie sollten Monsieur Durand anrufen und ihm Ihre Unterstützung persönlich zusichern. Es wird ihn gewiss freuen.«

Damit schloss sie die Tür und ging zurück zum Empfangstresen, wo sie das Warten auf das Ende der Mittagspause mit einer Partie Patience verkürzen wollte.

Doch es wollte ihr nicht gelingen, sich zu konzentrieren. Nachdenklich schob Gisèle die Karten von links nach rechts.

Lucs Worte gingen ihr nicht aus dem Kopf. Hatte Marechal wirklich gelogen, um Rozier aus dem Amt zu kicken? Was, wenn Madame Duprais die Wahrheit sagte? Wäre es ihm zuzutrauen?

Gisèle lehnte sich so heftig in ihrem Stuhl zurück, dass er knarzte.

In all den Jahren, in denen sie hier arbeitete, hatte sie viele Bürgermeister ein und aus gehen sehen. Manche waren klug, andere polterten herum, einige wie Arnaud Rozier ließen sich dazu hinreißen, sich angesichts der Erhabenheit des Postens selbst zu erheben. Aber immer hatten sie sich des Amtes würdig erwiesen. Auch Monsieur le maire Marechal schien sich seiner Aufgabe bewusst zu sein. Seit er hier war, hatte er einige wichtige Projekte angestoßen, um das Dorf attraktiver für Familien zu machen. Und es sah ganz danach aus, als habe er damit Erfolg.

Doch wenn Lucs Vermutung stimmte, und der Bürgermeister dafür gesorgt hatte, dass Arnaud Rozier freiwillig aus dem Amt schied, dann konnte man das nicht einfach so stehen lassen.

Mechanisch räumte sie die Karten zusammen. Dann widmete sie sich der Kiste, die der Postbeamte am späten Vormittag am Empfang abgestellt hatte, und begann den Inhalt zu sortieren. Ein himmelblauer Umschlag fiel ihr ins Auge, adressiert an das Bürgermeisteramt von Sainte-Valérie, ohne Abteilung oder Ansprechpartner. Sie griff nach dem Brieföffner und schlitzte ihn auf, holte zwei beschriebene Seiten hervor. Der Text war offenbar mehrfach kopiert worden.

Mit wachsender Unruhe flogen ihre Augen über die Zeilen, bis zum letzten Satz, der sie erstarren ließ.

Wehe, ihr Sünder, denn eure Verfehlungen blieben IHM nicht verborgen. Also seid bereit, wenn der Tag des Gerichts gekommen ist.

Gisèle wartete, bis sich ihr Herzschlag wieder beruhigt hatte. Diese Worte sollten einer gewissen Bernadette durchgegeben worden sein … Sie kannte nur eine Nonne mit dem Namen, und zwar die heilige Bernadette von Lourdes. Ihr war die Gottesmutter erschienen, damit sie eine Quelle freilegte, deren Wasser heilkräftig sei.

Sie wusste, dass man solche Briefe ignorieren sollte, es war ja allzu offensichtlich, dass es sich um eine Fälschung handelte. Sie ging häufig genug in die Kirche, um zu wissen, dass die Gottesmutter niemals einen Text gutheißen würde, der die Drohung enthielt, Menschen zu töten, nur weil sie ihre Botschaft nicht verbreiten wollten.

Und dennoch konnte Gisèle nicht verhindern, dass ihre Kehle plötzlich trocken war und sie heftig schlucken musste, um die Furcht hinunterzuwürgen, die sich dort festkrallen wollte.

Hastig faltete sie den Brief zusammen und steckte ihn mit spitzen Fingern zurück in den Umschlag.

Eine Weile starrte sie ihn an, überlegte, wo sie ihren Rosenkranz abgelegt hatte. Ob er noch in der Wäschekommode lag, in der Schachtel mit dem aufgeprägten Kreuz? Sie beschloss, gleich am Abend nachzusehen, und schob den Umschlag mit einem Seufzen weit von sich. Dabei fiel ihr Blick auf den Postausgangskorb, in dem die Schreiben aufbewahrt wurden, die das Amt verließen, und der nun leer war. Der Briefträger hatte sie wie üblich am Vormittag mitgenommen, als er die Post brachte.

Ein plötzlicher Gedanke schlich sich in ihr Bewusstsein, und sie folgte ihm, froh über die Ablenkung.

Das Schreiben an Pierre Durand wegen der außerordentlichen Anhörung hatte sie noch am selben Abend aufgesetzt, nachdem der Gemeinderat dies in der Sitzung beschlossen hatte. Am nächsten Morgen war der Postausgangskorb leer gewesen. Das war jetzt gut vier Wochen her, aber sie konnte sich noch genau daran erinnern, da es sie für einen kurzen Moment irritiert hatte. Aber dann hatte sie angenommen, jemand anderes hätte den Brief auf dem Nachhauseweg mitgenommen und in den Postkasten an der Außenmauer des Bürgermeisters geworfen, der bereits morgens um acht Uhr dreißig geleert wurde.

Was, wenn Monsieur Durand dieses Schreiben nie erhalten hatte?

Sie sah auf den altmodischen Kalender, den sie noch immer dem digitalen vorzog, und hob ihre Lesebrille an. Am Nachmittag waren die Termine dicht gedrängt, doch kurz vor Feierabend war eine Lücke. Diese würde sie nutzen, um den Verdacht auszuräumen. Oder um ihn zu bestätigen.