20
Als Pierre am Morgen vom Klingeln seines Telefons erwachte, war es bereits acht Uhr. Erschrocken setzte er die Füße auf den Boden und rieb sich die Augen. Er hatte den Wecker auf sieben gestellt, er musste ihn überhört haben.
Gestern Abend hatte er, nachdem Louis sich schlafen gelegt hatte, den Text des Kettenbriefes in den Browser seines Smartphones eingegeben in der Hoffnung, irgendeinen Hinweis auf den Urheber zu finden, irgendeine Erklärung. Doch außer dem Beginn eines Psalms war keine Übereinstimmung zu finden. Und auch die im ersten Teil des Briefes erwähnte Nonne ähnelte zwar der Beschreibung nach Bernadette von Lourdes, aber die Fakten stimmten nicht überein.
Selbst in den umfangreichen Bucharchiven, die historische Texte online veröffentlichten, hatte er die Sätze abgeglichen. Es war fast zwei Uhr gewesen, als er sich endlich ins Bett legte, ohne einen Schritt vorangekommen zu sein.
Seine ganze Hoffnung lag nun auf diesem Professor im Ruhestand, den sein ehemaliger Kollege Eric hatte kontaktieren wollen.
Mit einem Mal war er hellwach. Hatte etwa Thiebaud Nguyen soeben versucht, ihn zu erreichen?
Es klingelte von Neuem. Pierre griff nach seinem Telefon, doch auf dem Display erschien nur die Nummer der police municipale von Sainte-Valérie.
»Guten Morgen, Pierre«, drang Lucs Stimme durch den Hörer. Er klang furchtbar ausgeruht. »Habe ich dich etwa geweckt?«
»Nein, schon gut. Was gibt’s denn?«
»Ich glaube, ich habe das Motiv des Kettenbriefmörders gefunden.«
»Tatsächlich?«
»Ja. Ich habe mir Gedanken gemacht, was er mit dem Schreiben bezwecken will, und bin ganz früh zur Wache gefahren, um ein wenig zu recherchieren. Du wirst nicht glauben, was ich herausgefunden habe!«
Pierre streckte sich und gähnte lautlos. Er kannte derartige Ankündigungen und musste zugeben, dass er eine vage Ahnung hatte, was nun auf ihn zukam. »Ich bin … gespannt.«
»Also … Die Prophezeiung ist echt.«
»Das glaube ich nicht.«
»Doch, warte. Ich habe die Aussagen mit der Realität abgeglichen. Solche Visionärinnen können ja so manches nicht wissen, also umschreiben sie es mit den Worten ihres Jahrhunderts. Das hier ist der ultimative Countdown zur Apokalypse.«
»Du willst mir jetzt aber nicht erzählen, dass Mateo Espinas Teil dieser Vorsehung ist.«
»Chef, das ist eindeutig. Der gehört zur ersten Stufe. Pass auf.« Es raschelte, und als Luc die Stimme wieder erhob, klang sie leicht pastoral. »›Siehe, wie gut und erfreulich ist es, wenn Brüder beieinander wohnen, vereint durch das Gesetz der Geburt, verbunden durch die Gemeinschaft des Glaubens, gleich in der Gleichheit des Leidens, stets glorreich im alleinigen Gott.‹ Und? Fällt dir was auf?«
»Nein.«
»Espinas wollte raus, er gehörte nicht dazu, war gar nicht gläubig. Ganz im Gegenteil: Er hat sich eingeschlichen, um die Glaubensbrüder zu verraten.«
»Die beiden Brüder sind Kriminelle.«
»Ist das denn bewiesen? Wer weiß, vielleicht kommt am Ende heraus, dass Espinas das alles selbst eingefädelt hat. Bis dahin ist er für uns das Symbol für den Glaubensabfall, der die erste Stufe einläutet.«
Pierre schmunzelte. Da war er wieder, sein übereifriger Assistent. Er hatte Luc und seine bisweilen kruden Theorien bereits vermisst. »Es ist wirklich schön, dass du mir helfen willst, aber …«
»Ich weiß, du glaubst mir wieder einmal nicht. Aber erinnerst du dich an die Morde in der Haute-Provence? Da hatte ich recht, du musstest es am Ende selbst zugeben. Und ich schwöre dir, hier geht es um etwas ganz Großes!«
»Also gut, aber mach schnell, ich habe keine Zeit.«
»In Ordnung. Wo war ich stehen geblieben?«
»Beim Glaubensabfall.«
»Richtig. Also: Religion ist offenbar out, wenn man den öffentlichen Diskursen folgt. Die meisten Menschen empfinden es als rückständig, den Glauben zum Zentrum ihres Lebens zu machen. Denk nur mal an den Brand von Notre-Dame in Paris. Was gab es für einen Aufschrei, als die Leute Geld dafür spendeten. Als sei ein Gotteshaus, sogar eines der letzten großen Wahrzeichen des Christentums in Europa, nichts weiter als kalter Stein!« Er kicherte. »Ich meine, sie ist ja wirklich aus Stein, aber die Kathedrale ist ein Symbol für etwas Wunderbares, für Liebe und Barmherzigkeit und für die christliche Gemeinschaft. Aber die Nörgler sagten, die Kirche habe genügend Geld. Dabei ist hier in Frankreich längst der Staat für den Erhalt der Gotteshäuser zuständig, und der ist ja erwiesenermaßen ständig klamm. Und die Kirche? Die kuschte und tat nichts, um die Gläubigen gegen die Angriffe zu verteidigen.«
Pierre erinnerte sich an die unseligen Diskussionen, die in Medien und sozialen Netzwerken geführt worden waren. Als sich Hunderttausende erschrocken zeigten und ihr Erspartes spendeten, um den Wiederaufbau zu unterstützten, brach ein beispielloser Shitstorm los. Die Spender standen als mitleidslos da, denn was wäre dasselbe Geld in den Händen armer und hungernder Kinder. Er hatte die Diskussionen überrascht verfolgt, irritiert, mit welcher Härte sie geführt wurden. Als könne man Bedürftigkeiten gegeneinander ausspielen! Wer entschied eigentlich, wann Empathie richtig war und wann falsch? Es war alles eine Frage der Nähe und von Bildern. Als moralischer empfanden sich meist diejenigen, deren Bilder am eindringlichsten waren.
Er seufzte.
Empathie war gut und wichtig. Wenn sie jedoch jeden ausschloss, der anderer Meinung war, verkehrte sie sich in ihr Gegenteil. Entwickelte sich im Kern zur Intoleranz.
Und Notre-Dame ? Die brennende Kathedrale hatte auf ihn wie ein Symbol vom Niedergang des Christentums gewirkt und die erhöhte Spendenbereitschaft wie ein Akt kollektiver Reue und Trauer.
»Wann warst du eigentlich zuletzt in der Kirche?«, fragte er Luc.
Ein abfälliges Schnauben. »Ich? Um mich geht es doch gar nicht. Apropos Kirche, die ist auch nicht gerade ein Vorbild der Heiligkeit. Diese ganzen Missbrauchsfälle und erst recht deren Vertuschung, das ist geradezu ekelhaft. Es rückt die ganzen positiven Erlebnisse, das Bemühen der Geistlichen, ihren Gemeinden ein guter Hirte zu sein, in den Hintergrund. Ich begreife einfach nicht, wie es so weit kommen konnte …«
Pierre streckte sich. Sein Assistent schweifte ab, und er musste dringend pinkeln. »Luc, komm zur Sache.«
»In Ordnung. Die zweite Nummer, das mit dem Handauflegen, kann ich bisher nicht einordnen. Wahrscheinlich wissen wir erst dann mehr, wenn es ein weiteres Opfer gibt. Aber die dritte Weissagung ist eindeutig. Es geht um den Klimawandel. Die Camargue ist davon bedroht.«
»Ich weiß.«
»Wusstest du auch, dass die Region bald komplett verschwinden wird? Es ist nur eine Frage der Zeit, bis das Wasser alles verschlingt. Simulationen zeigen, dass das Meer noch in diesem Jahrhundert Arles erreichen wird. Die Stadt, heute noch knapp vierzig Kilometer vom Meer entfernt, wird irgendwann zur Insel.«
»Ich unterbreche deine Horrorszenarien nur ungerne, aber ich kenne derlei Simulationen. Bis dahin vergehen mehrere Jahrzehnte, und in der Zwischenzeit wird man weitere Dämme bauen, die dieses Szenario verhindern und Maßnahmen zum Schutz ergreifen.«
»Das wäre ja schön, aber so einfach ist es leider nicht. Es ist bereits beschlossene Sache, in den wilden Gebieten der Camargue nicht länger gegen die Erosion der Küstenlinien anzukämpfen. Sie wollen das Land dem Wasser überlassen.«
»Das kann ich mir nicht vorstellen.«
»Ist aber so, das haben die Forscher des Tour du Valat selbst in einem Interview so gesagt.«
»Die bewohnten Gebiete werden doch sicher geschützt?«
»In der Theorie schon, es gibt umfangreiche Dossiers zum Erhalt der Orte, das kann man alles im Netz nachlesen, seitenweise kluge Maßnahmenkataloge. Aber die Realität sieht anders aus. Es gibt da diesen Deich vor der Küste, die Digue à la mer . Der ist komplett marode, das Wasser untergräbt längst das Fundament. Bei Südwind fressen sich die Wellen über das Land. Die Erosion schreitet voran, und zwar so schnell, dass man zusehen kann. Die ganze Küstenlinie bricht weg, jährlich um die vier Meter, und es ist seit Jahren geplant, den Deich zu sanieren, um wenigstens den Ort zu schützen. Aber die Kosten gehen in die Millionen, und es kommt keine Finanzierung zustande.«
»Und warum nicht?«
»Weil die Kommunen das nicht alleine stemmen können und der Etat aus den Ministerien begrenzt ist. Der ehemalige Umweltminister hat fünfzehn Millionen Euro zum Schutz der Küstenerosion im Senegal ausgegeben, statt Geld für die Camargue lockerzumachen. Das hat der Bürgermeister von Saintes-Maries-de-la-Mer erst kürzlich in einem Interview erzählt, ich habe das alles genau recherchiert.« Er stieß mit einem schnellen Atemzug die Luft aus. »Die Menschen dort sind stinksauer, sie fühlen sich mit ihrem Problem alleinegelassen, während der Staat woanders den Wohltäter spielt. Es gibt einige, die sich aus diesem Grund dem rechtspopulistischen Rassemblement National anschließen. Das kann man überall lesen. Weißt du, was ich glaube?«
»Nein.« Der Druck auf die Blase nahm zu. Pierre stand auf und ging einige Schritte.
»Das macht einige Leute stinkwütend. Vor allem die Klimaaktivisten, die schon seit einigen Jahren Alarm schlagen. Nur dass die Politik nicht in die Puschen kommt und die Bürger glauben, mit ein paar Milliönchen werde sich das von alleine regeln. Die wollen es alle nicht wahrhaben. Wir haben zurzeit eine große Hitzewelle, ja, und was machen die Menschen? Sie ändern nichts. Sie erinnern sich an die heißen Sommer von früher und tun so, als sei dies normal. Vergessen dabei das Frühjahr, wo das Wasser die Straßen flutete und alles mitriss, was nicht niet- und nagelfest war.« Er schnaubte. »Weißt du, wie hoch in der Camargue der Anteil an Wählern ist, die bei der Europawahl für den Rassemblement National gestimmt haben?«
Pierre überlegte, das Telefon einfach beiseitezulegen und rasch auf die Toilette zu gehen, Luc würde es nicht einmal merken, aber er verwarf den Gedanken wieder. »Du wirst es mir sicher gleich sagen.«
»Auf der okzitanischen Seite waren es einundvierzig Prozent. Und auf der provenzalischen siebenunddreißig. Der Großteil der Wähler besteht aus Rentnern, die aus ganz Frankreich dorthin gezogen sind, aber man findet sie laut Analysen quer durch die Bevölkerung, selbst bei den roms , manouches und gitans , weil sie nicht möchten, dass sich ihr gewohntes Leben verändert. Aber es wird sich ändern. So viel ist sicher. Egal in welchem Bereich. Wir dürften nicht länger die Augen verschließen und so tun, als sei es eine Frage der regierenden Partei.«
»In Ordnung, ich bin ganz bei dir, aber was hat das alles mit unserem Fall zu tun?«
»Ähm, natürlich, Momentchen. Der entscheidende Hinweis liegt in der dritten Weissagung.« Im Hintergrund war das Rascheln von Papier zu hören. »Denn nicht Schafe oder Rinder brachte er dar, sondern opferte doppelt sich selber, und auch damit war er nicht zufrieden, sondern wollte noch den ganzen Erdkreis zum Opfer bringen, da er wie auf Flügeln über Land und Meer fuhr «, las Luc laut vor.
»Und was bedeutet das deiner Meinung nach?«
»Das ist doch ganz offensichtlich: Die Menschen opfern nicht nur Tiere, um ihr Bedürfnis nach Fleisch zu stillen, sondern auch sich selbst, weil die Tierhaltung schlecht für das Klima ist. Aber nicht nur das, sie wollen obendrein die ganze Erde mit dem Flugzeug erobern und tragen aufgrund ihres CO 2 -Verbauches eine Mitschuld am Klimawandel.«
»Auf Flügeln über Land und Meer? Luc, bitte!« Pierre hielt es nicht mehr aus, er musste das Gespräch abbrechen. »Lass uns ein andermal darüber …«
»Ja, ich weiß, das klingt seltsam, aber damals kannten die Menschen noch keine Flugzeuge, und die Nonne hat das in den Worten ihrer Zeit niedergeschrieben, was ihr übermittelt wurde: … wie auf Flügeln über Land und Meer. « Luc atmete tief ein und aus. »Wir stehen am Rande einer schrecklichen Katastrophe, und zwar nicht irgendwo auf der Welt, an einem fernen Ort, sondern hier, direkt vor unserer Haustür.« Er machte eine dramatische Pause. »Die ganze Zeit liegt das Problem ausgebreitet vor uns, jeder kennt die Fakten, doch wir sind alle wie erstarrt. Dabei ist es unser Untergang. Dieser Brief warnt die Leute davor, die Augen weiter zu verschließen.«
Jetzt wurde es Pierre doch zu viel. »Mateo Espinas ist von Menschenhand ermordet worden. Das war keine göttliche Vorsehung. Genauso wenig ist dieser Brief eine himmlische Botschaft.«
»Bist du dir da ganz sicher?«
»Ja.« Pierre verlagerte das Gewicht von einem Bein auf das andere. »Danke, dass du dir zu dem Fall so viele Gedanken gemacht hast. Aber ich muss jetzt los.«
Er beendete das Gespräch und rannte ins Bad, das er wenig später erleichtert verließ. Das war wirklich in allerletzter Sekunde gewesen.
Ob Louis bereits aufgestanden war?
Pierre öffnete die Tür zur benachbarten Kajüte und stellte fest, dass das Bett leer war. Er wandte sich um und eilte mit großen Schritten den Gang entlang in den Salon. Eine angenehme Frische durchzog den Schiffsbauch, sämtliche Bullaugen waren weit geöffnet. Die Sonne tastete sich in einem schrägen Streifen durch eines der Fenster und erhellte das bordeauxrot gestreifte Sofa, auf dem Louis saß. Die Beine angezogen, in der Hand das Schreiben, das er gestern achtlos auf dem Küchentisch hatte liegen lassen.
»Guten Morgen«, sagte Pierre.
Louis schrak auf und sagte nichts. Pierre bemerkte, dass er zitterte. Er setzte sich zu ihm.
»Alles in Ordnung?«
Der junge Mann sah ihn verstört an und hielt ihm den Brief entgegen. »Was ist das, woher hast du das?«
»Ach, das ist nur ein Kettenbrief, der zurzeit im Umlauf ist. Nichts Wichtiges, bloß Schmiererei.«
»Das ist keine Schmiererei«, flüsterte Louis. »Ich habe das Tier gesehen.«
»Deine Erinnerung ist zurück?«
Louis nickte. Die Morgensonne warf helle Reflexe auf sein Haar, und er sah aus, als würde er darauf warten, dass jemand die Geister unter dem Bett vertrieb.
»In Ordnung.« Pierre blies die Luft durch die Backen. Er dachte an die seltsamen Hufspuren am Étang de Vaccarès . »Was genau hast du gesehen?«
Der junge Mann atmete tief durch, und als Pierre dachte, er beginne zu reden, presste er die Lippen wieder aufeinander.
»Keine Angst, du kannst frei sprechen, ich höre nur zu, wenn du willst.«
Louis verbarg das Gesicht in den Händen und schüttelte den Kopf.
Pierre legte ihm eine Hand auf den Arm. »Du hattest einen Sonnenstich. Gut möglich, dass du Dinge anders wahrgenommen hast, als sie waren. Dieser Brief hier, das Ganze drumherum, es klingt wie eine Inszenierung, ein Theaterstück. Ich bin davon überzeugt, dass es eine Erklärung für all das gibt, wenn man nur genau hinsieht.«
Doch Louis schwieg noch immer.
Pierre dachte nach. So kam er nicht weiter. Er musste noch einmal mit dem jungen Mann zum Tatort fahren, ihn mit seinen Erinnerungen konfrontieren, damit er sich nicht darin verlor.
Von hier bis zum See waren es nicht ganz vierzig Kilometer, und er hatte kein Auto. Kurz erwog er, Bartissol zu bitten, ihn zu begleiten, verwarf den Gedanken jedoch gleich wieder. Er beschloss, Kalia zu fragen, und hoffte, sie zu erreichen, bevor ihre Arbeit begann.
Pierre erhob sich und schloss, da immer mehr der sich rasch erwärmenden Luft ins Schiffsinnere strömte, die Bullaugen. Dann ließ er die Raffrollos hinab.
»Ich mache uns erst mal einen Kaffee«, sagte er und ging nach oben.
Pierre fand Pulverkaffee und einen Espressokocher und befüllte ihn. Während der Kaffee blubbernd über den Trichter in die Kanne stieg, wählte er Kalias Nummer.
»Könntest du bitte deiner Reisegruppe absagen und herkommen?«, flüsterte er. »Ich zahle dir auch den Ausfall.«
»Was ist denn passiert?«
»Das erkläre ich dir später. Was ist, kommst du?«
»Du musst mir nichts zahlen. Ich bitte eine Kollegin, mich zu vertreten, und bin gleich bei euch. Habt ihr schon gefrühstückt?«