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Als Pierre Louis erzählte, dass gleich eine Freundin vorbeikommen werde, merkte der sofort auf.

»Die Freundin?«

Pierre lächelte nur. »Sie stammt von hier und kennt sich in der Gegend gut aus. Ich dachte, ein wenig Abwechslung wird dir guttun.«

Louis sah ihn misstrauisch an. »Du willst mit mir zum See, nicht wahr?«

»Ja«, gab Pierre zu. Er hob abwehrend die Hände, als sein Gegenüber zum Protest ansetzte. »An jenem Abend hattest du einen Sonnenstich. So etwas kann schon mal die Erinnerungen durcheinanderwirbeln. Ich möchte, dass du dir den Ort noch einmal ansiehst, bei Tageslicht.«

»Und … diese Frau?«

»Sie fährt uns hin. Du wirst sie mögen. Sie ist sehr nett, und vor allem kann sie ein Geheimnis für sich bewahren.«

Louis kaute auf seiner Unterlippe, dann nickte er. »Vielleicht hast du recht. Danke, dass du … Danke.«

Pierre erwartete Kalia am Kai. Sie hatte das Haar zu einem lockeren Knoten aufgesteckt und trug wieder Jeans, dazu eine weiße Bluse mit Spitzenborte am Halsausschnitt.

»Du hast dich ja rasiert«, rief sie ihm entgegen. »Jetzt siehst du wieder aus wie früher.«

Sie waren sofort vertraut, als läge die Zeit in Paris nicht mehrere Jahre zurück, sondern nur wenige Wochen. Mit knappen Worten skizzierte Pierre die Situation, dann betraten sie gemeinsam das Hausboot.

Kalia hatte Baguette mitgebracht und süße fougasse , die noch warm war – eine Spezialität aus Aigues-Mortes, die er, wie sie betonte, unbedingt probieren müsse. Sie begrüßte Louis mit einer Herzlichkeit, die ihn sichtlich entzückte. Er bot ihr sogar den Platz neben sich auf der Bank an, was sie dankend annahm.

Nach dem Frühstück fuhren sie los. Rhythmische Gitarrenmusik begleitete sie aus den Lautsprechern, während der offene Jeep die Landstraße entlangpreschte. Vorbei an Verkaufsständen, an denen die Händler Reis und Schinken anpriesen, frisch geerntete Pfirsiche und Aprikosen. An Restaurants, die inmitten der Einsamkeit am Wegesrand auftauchten und deren Terrassen mit winzigen Sonnenschirmen aus Stroh geschützt waren. An bunt beflaggten Ranches und an Touristen, die am Straßenrand geparkt hatten und mit gezückten Kameras über die Wiesen stapften, um die hinter provisorisch wirkenden Zäunen grasenden Camargue-Pferde zu fotografieren, deren Fell nicht mehr ganz so strahlend weiß war.

Louis saß ganz am Ende der längs verlaufenden Sitzbank und verfolgte den Flug eines Purpurreihers, der aus dem Buschwerk aufstob, als sie eine der unzähligen Feuchtwiesen passierten. Er hatte das gestreifte T-Shirt und die neuen Shorts angezogen, auf dem Kopf Cazadieus Hut, und hielt den Rucksack fest umklammert.

Nach einer Weile überquerten sie die Petit Rhône auf einer Brücke mit grünen Eisenpfählen.

»Willkommen in der Region Provence-Alpes-Côte d’Azur«, sagte Kalia schmunzelnd, als sie den Hinweis mit dem gelb-rot-blauen Wappen passierten. Dann zeigte sie auf das nächste Schild. »Hier beginnt der Parc naturel régional de Camargue

Pierre betrachtete die Landschaft, die sich nicht im Wesentlichen von der unterschied, durch die sie soeben gefahren waren. Die Straße war von Schilfreihen gesäumt, sie fuhren an einem einsam liegenden Gehöft vorbei, auf dessen Mauer ein Stier gemalt war, an Tamariskenbüschen und Reisfeldern.

»Ich habe übrigens einige interessante Informationen zu dem Kettenbrief«, raunte Kalia Pierre unvermittelt zu, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass Louis sich auf die vorbeiziehende Landschaft konzentrierte. »Gestern Abend habe ich die Frage nach dem Ursprung in unseren Familien-Chat gestellt. Über dreißig Frauen sind darin miteinander verbunden. Ich schrieb, dass ich das Gefühl hätte, jemand erlaube sich einen schlechten Scherz im Namen der Gottesmutter, und dass ich mich frage, von wem das wohl ausgegangen sein mochte. Sofort hat sich eine rege Diskussion entsponnen, einige boten von sich aus an, in der Nachbarschaft herumzufragen. Die Frauen waren richtig aufgekratzt und äußerten die unterschiedlichsten Vermutungen.« Sie lächelte schief, und es war ihr anzumerken, dass auch sie Spaß an solchen Spekulationen hätte, wenn der Hintergrund nicht so ernst wäre. »Ich hatte das Gefühl, einige waren regelrecht erleichtert darüber, dass jemand den Brief endlich thematisierte.«

»Und, was ist dabei herausgekommen?«

»Die ersten Briefe sind bei uns am Freitag vergangener Woche eingegangen, und zwar in Saintes-Maries-de-la-Mer, Vauvert und Le Grau-du-Roi. Die in Le Grau-du-Roi haben alle keine Briefmarke.«

Le Grau-du-Roi … Der Absender hatte offenbar das Porto sparen wollen, was dafür sprach, dass er aus dem Ort stammte. »Sind die Adressen mit der Hand geschrieben?«

»Nein, es sind bedruckte Etiketten. Das Interessante dabei ist, dass weit mehr als die geforderten zehn Kopien verteilt wurden.«

»Und sämtliche Empfänger waren Frauen?«

»Das weiß ich nicht, ich habe ja nur die Frauen in meiner Gruppe befragt, keine Männer.« Sie warf ihm einen Seitenblick zu. »Es sieht fast so aus, als hätten wir den Täter, nicht wahr?«

»Möglich, aber auf jeden Fall sind wir ein Stück näher an ihm dran.«

Wenn Kalia mit ihrer Vermutung recht hatte, dann stammten die Briefe nicht aus dem Missionarscamp. Zu dieser Zeit hatte sich die Karawane noch auf dem Weg nach Le Thor im Vaucluse befunden. Aber es war zu früh, davon auszugehen. Jedenfalls solange sie nicht sicher waren, ob es weitere Briefe gab, die früher eingetroffen waren.

»Kommst du an die Umschläge ran?«, fragte er leise. »Ich würde sie gerne erkennungsdienstlich untersuchen lassen.«

Kalia lächelte grimmig. »Ich habe im Chat schon rumgefragt, wer sie aufgehoben hat, und die Frauen gebeten, mir alles zu melden, was ihnen auffällig erscheint. Es gehen laufend Nachrichten ein, sie befragen auch ihre Freundinnen. Ich habe übrigens auch mit meiner Cousine Sylvie telefoniert, die in der Pfingstgemeinde von Vauvert ist.«

»Hat sie ebenfalls einen Brief erhalten?«

»Nein. Aber ich wollte von ihr wissen, was passieren würde, wenn sie austreten wollte. Erst sagte sie, dass sie nicht daran denke, schließlich sei sie so glücklich wie nie zuvor. Aber als ich nachhakte, meinte sie nur, das würde niemand wagen, man wisse doch, dass dann die Hölle auf einen warte.«

»Klingt nach einem psychologischen Zwang. Oder auch ein tätlicher?«

»Davon hat sie nichts gesagt. Sie meinte nur, ein jeder müsse sich im Leben entscheiden, was er wolle: den Pfad gehen, den Gott für einen bereitet hat, oder den Weg des Teufels. Man könne nicht gleichzeitig aus dem Kelch des Herrn trinken und aus dem der Dämonen. Es gebe nur Entweder-oder, keinen Mittelweg. Und eine Heerschar böser Geister, die im Namen des Teufels versuchen, einen vom rechten Pfad abzubringen. Es …« Kalia schürzte die Lippen, bevor sie weitersprach. »Es klang, als befinde sie sich in einem ständigen Kampf.«

Pierre nickte. Entweder-oder. So war das gerade in der Welt. Die Mitte schien nicht mehr existent. Nur, dass die Dämonen an beiden Enden saßen und der Kampf jenen galt, die dem propagierten und als einzig wahr empfundenen Glauben nicht folgen wollten.