27

Kalia und Louis saßen an einem Tisch an der Hauswand des Restaurants. Vor ihnen stand eine große Platte mit Crevetten, Muscheln, kleinen Tintenfischen und mit persillade bestrichenen Rotbarben, dazwischen Kartoffelspieße und eine Schale aïoli . Daneben ein beschlagener Glaskrug mit Weißwein. Erst jetzt merkte Pierre, dass er einen riesigen Hunger hatte. Er sah auf die Uhr, es war kurz nach zwei.

»Wo warst du denn so lange?«, fragte Kalia mit besorgter Miene.

»Ich musste nachdenken.«

»Worüber?«, erkundigte sich Louis.

Pierre setzte sich zu ihnen an den Tisch. »Über das Leben und über den Tod.«

»Klingt ziemlich pathetisch.«

Pierre lächelte ihn an. »Ist es auch.« Er suchte nach einer guten Überleitung. Als er die Kirche verlassen hatte, war er fest entschlossen, die Lüge zwischen ihnen aufzuklären. Aber als er Louis nun gegenübersaß, dachte er, dass es vielleicht doch nicht der richtige Zeitpunkt sei. Dass er zuerst mit Bartissol sprechen sollte, bevor er wieder einmal eigenmächtig entschied.

»Wie war es in der Gendarmerie?«

»Furchtbar! Sie haben mich wie einen Verbrecher behandelt.«

»Ich dachte, sie brauchen nur deine Zeugenaussage?«

»Ja, das habe ich auch geglaubt. Aber dann wollten sie plötzlich nicht nur alles von dem Abend wissen, sondern auch warum ich ausgerechnet dort fotografiert habe, wo es doch Orte gibt, an denen mehr Vögel zu beobachten sind. Und bessere Uhrzeiten. Und dann«, er hob in einem Ausdruck größter Irritation die Arme, »haben sie mich gefragt, wo ich in der Nacht von gestern auf heute war. Ich wüsste gerne, was zum Kuckuck das mit dem Mord zu tun hat?«

»Es hat einen weiteren Mord gegeben. Eine Frau ist in ihrer Wohnung tot aufgefunden worden, mit geschwärztem Gesicht.«

»Dann haben die also tatsächlich gedacht …«

»Ja, aber du hast ein Alibi. Du warst die ganze Zeit bei mir auf dem Hausboot.«

»Nein, das zählt nicht. Du hast doch geschlafen, oder? Ich hätte mich jederzeit hinausschleichen können.«

Pierre seufzte. Offenbar wussten die Beamten nichts von den Aufpassern auf dem Nachbarboot, die ihn rund um die Uhr überwachten, um genau das zu verhindern.

»Hättest du nicht. Es wäre bemerkt worden.«

Louis riss die Augen auf. »Woher weißt du davon?«

»Weil ich Polizeibeamter bin.« Da war er, der richtige Moment. »Ich wollte es dir die ganze Zeit schon sagen, aber es hat sich nicht ergeben.«

»Du bist … was?« Louis schüttelte den Kopf und lachte verunsichert. »Du hast mich angelogen!«

»Nein, habe ich nicht. Ich habe nie behauptet, kein Polizist zu sein, ich habe dir nur nicht die ganze Wahrheit gesagt, das ist ein gewaltiger Unterschied. Aber das ist jetzt auch egal, es war mir wichtig, es endlich auszusprechen.«

Louis starrte ihn an, verzog dabei den Mund. »Jetzt wird mir so einiges klar. Und ich dachte, du fährst mit mir an den See, weil es dir um mich geht. ›Sie brauchen deine Zeugenaussage‹, hast du gesagt, ›sonst geschieht noch ein Unglück.‹ Und ich habe dir vertraut.« Louis sprang auf. »Ein feiner Freund bist du!«

»Louis …« Pierre erhob sich ebenfalls. »Natürlich ist es mir um dich und dein Wohlbefinden gegangen. Aber es sind auch andere Menschen in Gefahr, da kannst du mir doch nicht vorwerfen, einen Mord an ihnen verhindern zu wollen.«

»Nein, natürlich nicht. Aber weißt du, was richtig scheiße ist? Dass du die ganze Zeit gedacht hast, ich könnte der Täter sein. Und wäre dieser zweite Mord nicht geschehen, würdest du es noch immer tun.«

»Das ist nicht wahr. Das war vielleicht ganz am Anfang so, aber da kannte ich dich noch nicht.«

Der junge Mann antwortete nicht, er riss seinen Rucksack von der Stuhllehne und sprang auf. Pierre stellte sich ihm in den Weg und hielt ihn am Arm zurück.

»Das ist nicht fair! Du bist hier doch derjenige, der die ganze Zeit gelogen hat. Warum hätte ich dir denn vertrauen sollen, hm?«

»Das war Notwehr!« Louis riss sich los. »Lass mich in Ruhe.« Er wich Pierre aus, schlängelte sich durch die engen Tischreihen und warf im Eifer des Gefechts einen Stuhl um.

»Merde! « Pierre ließ die Hand sinken und sah Louis nach, der die Straße in Richtung Altstadt entlanglief.

»Lass ihn gehen.« Auch Kalia war aufgestanden und legte Pierre nun eine Hand auf die Schulter. »Er wird schon wiederkommen, wenn die erste Wut verraucht ist.«

»Und wenn nicht?«

»Louis ist alt genug, schließlich ist er vorher auch ohne dich zurechtgekommen.«

»Das ist nicht gerade das, was ich hören wollte.« Pierre setzte sich wieder, und Kalia tat es ihm nach.

»Diese ermordete Frau«, begann sie zögernd. »Ist sie eine von uns? Ich meine, ist sie eine gitane

Er schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, aber vielleicht kennst du sie ja. Sie heißt Josiane Simon und hat Reisen auf den Spuren von Maria Magdalena organisiert.«

»Nein, noch nie von ihr gehört.«

Aus Kalias Lächeln sprach Erleichterung, und er wollte gerade nach dem Grund fragen, als ihr Mobiltelefon brummte. Sie schielte auf das Display, las und begann einen Text zu tippen.

Pierre nutzte die Zeit und griff, noch immer verärgert über Louis’ plötzlichen Abgang, nach einer Gabel. War das der Dank für seine Ehrlichkeit? Hatte der Kerl denn nicht die Zuwendung bemerkt, mit der er ihn die ganze Zeit bedacht hatte?

Er spießte eine Crevette auf und tunkte sie in die aïoli , bevor er sie in seinem Mund verschwinden ließ. Die Crevette war bereits kalt, aber dennoch würzig. Er aß eine weitere. Und dann noch eine. Er hatte einen Bärenhunger. Hunger und Wut im Doppelpack waren das Schlimmste, sie schlugen ihm auf den Magen. Es wäre gut, wenn er zumindest Ersteren loswurde.

Zwei Frauen betraten die Terrasse des Restaurants, und Pierre ließ sich für einen Moment ablenken. Was eher etwas mit der enormen Präsenz der beiden zu tun hatte als mit ihrem auffälligen Äußeren, das auch die Blicke der anderen Gäste auf sich zog. Die größere trug ein figurbetontes Kleid, das lange schwarze Haar fiel ihr bis auf die Hüfte, und die Fingernägel der erhobenen Hand, mit der sie der Bedienung winkte, waren lang und sorgfältig lackiert. Die kleinere der beiden trug ein pink bedrucktes Shirt zu einer schwarzen knielangen Leggins. Über der Oberlippe funkelte ein kleiner Stein. Als sie Pierres Blick bemerkte, zog sie die Brauen zusammen.

Mit gespielter Gleichgültigkeit wandte er sich ab und widmete sich einer Kartoffel, die samt Schale in der Pfanne gebraten worden war. Sie schmeckte hervorragend, obwohl es nur eine simple Kartoffel war. Ihr hafteten Röstaromen an, als hätte der Koch sie im Bratsaft der Rotbarbe gegart. Obenauf feinste Flöckchen fleur de sel , vermischt mit kleinen roten Körnern, aus denen er die Schärfe von Piment herausschmeckte. Und – wie könnte es anders sein – den unverwechselbaren Geschmack von Safran. Ganz leicht nur und doch präsent. Ein Gewürz, das aus der provenzalischen Fischküche kaum noch wegzudenken war und das er über alles liebte.

Noch mehr aber liebte er es, alle Aromen gleichzeitig auf sich wirken zu lassen. Pierre teilte ein Stück des Fisches ab, das reichlich mit persillade bestrichen war, spießte obenauf eine Kartoffelhälfte und tauchte die Gabel in die aïoli .

»Ach …«, sagte er nur, als die Aromen ihre Wucht in seinem Gaumen entfalteten. Er schenkte sich etwas Weißwein ein und trank einen Schluck, dann lehnte er sich im Stuhl zurück. Nun ging es ihm besser.

Sein Blick glitt über den Hafen, wo ein Segelboot mit lustig flatternden Wimpeln ablegte, und weiter zu Kalia, die noch immer auf ihrem Mobiltelefon herumtippte und dabei auf der Unterlippe kaute.

»Ist etwas«, fragte er, »mit deinem Frauenchat? Da scheint ja richtig was los zu sein.«

»Ja …« Kalia hob kurz den Blick. »Die Frauen haben einen Verdacht, aber ich denke nicht, dass sie damit richtigliegen.«

»Aha.« Pierre sah sie aufmerksam an.

Kalia steckte das Telefon ein. »Marie hat mit ihrer Freundin Roseline gesprochen. Deren Schwester Bijoux hat gerade ein Baby bekommen und in der Nacht von Donnerstag auf Freitag kaum geschlafen, weil es die ganze Zeit geschrien hat. Sie stand zufällig am Fenster und hat gesehen, wer den Brief an sie eingesteckt hat. Es war Mayron, ein Großcousin von mir. Marie hat Bijoux besucht und den Umschlag mit denen der anderen Frauen verglichen. Die Schrift ist dieselbe, sie stammen alle von ihm.«

»Mayron?« Den Namen hatte er irgendwo schon einmal gehört.

»Er war ein langjähriger Freund von Mateo Espinas, ich hatte ihn neulich kurz erwähnt.«

Pierre richtete sich auf. »Und die Frauen glauben, dass er der Verfasser ist?«

»Ja. Aber ich kann es mir nicht vorstellen. Jetzt, da es dieses zweite Opfer gibt. Der Zustand seines Vaters Felipe, der vor wenigen Wochen einen Herzinfarkt hatte, hat sich seit gestern verschlechtert. Mayron weicht ihm keine Minute von der Seite, auch nachts nicht. Seine Frau Deborah kann das bezeugen.« Kalia hob die Schultern. »Davon abgesehen ist Mayron ziemlich einfach gestrickt, er ist nicht dazu in der Lage, sich einen solchen Text auszudenken, noch dazu mit all den symbolischen Verknüpfungen. Aber ich denke, dass er den Brief dazu benutzt hat, einige von uns einzuschüchtern. Inzwischen ist klar, dass er bestimmt zwanzig Kopien davon gemacht und verteilt hat, wenn nicht noch mehr. Roseline hat ihn darauf angesprochen, aber er hat alles abgestritten, obwohl es da gar nichts mehr zu leugnen gibt.«

»Der Brief«, überlegte Pierre, »ist also zu Beginn an einen guten Freund von Mateo Espinas gegangen. Ich wüsste nur zu gerne, ob Mayron sein Exemplar noch besitzt.«

Kalia nickte. »Ich rufe Deborah gleich an.«

Während sie telefonierte, ging Pierre hinein, um die Rechnung zu begleichen, und als er rauskam, strahlte Kalia übers ganze Gesicht.

»Sie hat den Brief. Wir können ihn sofort abholen.«