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Kalia und Pierre schlüpften durch die Öffnung unterhalb der Bank, zogen die Polster zu sich heran und drückten die Klappe von außen zu. Bei der leisesten Erschütterung würde sie wieder aufspringen. Pierre sammelte einen streichholzdünnen Ast vom Boden, brach ein Stück ab und klemmte es zwischen den Spalt, bis die Klappe provisorisch schloss. Dann entfernte er mit einem Taschentuch ihre Fingerabdrücke. Ein hilfloser Akt, wie er zugeben musste, aber er fühlte sich danach besser.

Als sie hinter dem Wohnwagen hervortraten, strömten die Gläubigen gerade schwatzend und lachend über den Platz.

Sie sahen glücklich aus, fand Pierre. Es schienen gute Menschen zu sein, denen die Hinwendung zu Gott, das direkte Erleben der Religion und die wortgetreue Umsetzung der Bibeltexte Sinn gaben. Er erinnerte sich an einen Bericht über die Sozialbaughettos Südfrankreichs, in denen viele ehemalige Drogenabhängige und Straftäter wie verwandelt waren, seit der Evangelikalismus dort Einzug gehalten hatte. Und er fragte sich, wo wohl der Grat zwischen Glaubensgemeinschaft und Sekte verlief. Wann tiefer Glaube Halt und Zukunft gab. Und ab wann er gefährlich wurde.

Für Mateos Sohn Alejandro war der Absolutheitsanspruch der Mission de la Lumière das Todesurteil gewesen.

Zielstrebig eilten sie auf den Ausgang zu. Nachdem sie das große Zelt passiert hatten, klingelte Pierres Telefon. Er zögerte, doch als er sah, dass der Professor anrief, gab er Kalia ein Zeichen. Dann suchte er sich einen ruhigen Platz am Rande des Geschehens und ging ran.

»Danke, dass Sie sich zurückmelden«, sagte Pierre. »Es ist ein zweiter Mord passiert, uns bleibt nicht mehr viel Zeit.«

»Am heutigen Tag?«

»Ja, genau.«

»Das habe ich mir beinahe gedacht.«

»Wie meinen Sie das?«

Thiebaud Nguyen schnaufte, bevor er antwortete. »Ich bin inzwischen in Paris angelangt und rufe Sie von der bibliothèque der theologischen Fakultät aus an. Ich bin Ihrer Bitte also nachgekommen, obwohl ich es vorgezogen hätte, diesen Brutofen von Stadt erst wieder zu betreten, wenn die Temperaturen erträglicher sind. Ich bin auch nicht mehr der Jüngste, wie Sie wissen. Aber ich will mir später nicht vorwerfen lassen, nicht mit der Polizei kooperiert zu haben. Und ich gebe zu, es war wohl eine gute Idee hierherzukommen. Denn ich weiß jetzt, woher die Texte stammen.«

»Wirklich?« Pierre erschrak über die Lautstärke seiner eigenen Stimme und fuhr deutlich leiser fort. »Woher denn?«

»Aus der Legenda aurea . Das ist eine Sammlung von Heiligenlegenden aus den unterschiedlichsten Quellen, mit zahllosen volkssprachlichen Übersetzungen und Bearbeitungen. Es gibt übrigens auch okzitanische Versionen davon. Die Urfassung stammt aus dem dreizehnten Jahrhundert, zusammengestellt vom späteren Erzbischof von Genua, Jacobus de Voragine. Er hat sie in lebendige, teils recht grausame Erzählungen verwandelt, dazu ausgelegt, die Zuhörer in den Bann zu ziehen. Ursprünglich kamen diese Heiligenlegenden bei Tischlesungen in Klöstern zum Einsatz oder um Predigten auszuschmücken. Irgendwann verbreitete sich das Buch im Volk, und die Lebensgeschichten der Heiligen wurden zu einer moralischen Anleitung. Historisch ist das Ganze nicht besonders zuverlässig, es gibt etliche verdrehte Namen und Fakten, aber das hat die Menschen nicht davon abgehalten, es fleißig zu lesen und den Leseunkundigen vorzutragen. Damit haben sie es zu einem der erfolgreichsten Bücher des Mittelalters gemacht.«

»Und was bedeutet das für unseren Fall?«

»Nun mal langsam, junger Mann, ich bin gerade dabei, es Ihnen zu erklären.« Der Professor räusperte sich. »Die angeblichen Weissagungen in dem Kettenbrief sind Auszüge aus drei verschiedenen Legenden. Die erste entstammt der Legende der beiden Heiligen Johannes und Paulus. Die zweite der des heiligen Papstes Leo und die dritte der des heiligen Apostel Paulus. Na, fällt Ihnen etwas auf?«

»Nein.« Pierre sah sich um, der Platz hatte sich geleert, die Menschen versammelten sich mittlerweile um einige Tische und Bänke, die zwischen den Wohnwagen standen. Kalia hingegen war nicht zu sehen.

»Die Heiligen sind bestimmten Tagen im Jahr zugeordnet.« Thiebaud Nguyen machte eine kunstvolle Pause, bevor er fortfuhr. »Drei Tage. Eine mythologische Zeitspanne, die in der Bibel häufig vorkommt. Drei Tage ist Jonas im Bauch des Fisches, drei Tage, in denen Saulus blind ist, bevor er zum Paulus wird. Drei Tage, in denen der Tod und die Wiedergeburt vollzogen werden. Drei Tage, in denen ein Mord geschieht. Nun ja, wenn man es genau nimmt, sind es sogar vier.«

»Bitte, ich habe keine Zeit für Knobelaufgaben.«

»Ich sehe, Sie sind nicht besonders vertraut mit dem Heiligenkalender. Aber das würde Ihnen in diesem Fall auch nicht weiterhelfen. Die einzelnen Kapitel der Legenda aurea sind nach dem Kirchenjahr geordnet und nach einem Heiligenkalender, der dem römischen Kanonisationsrecht jener Zeit entspricht. Was von dem heute gebräuchlichen stark abweicht. In jener Anordnung gedenkt man des heiligen Johannes und Paulus am 26. Juni, des heiligen Leo am 28. Juni und des heiligen Apostels Paulus am 29. Juni. Na, klingelt es nun?«

Pierre spürte, wie sich sein Pulsschlag jäh beschleunigte. Heute war der 28. Juni. Josiane Simon war das zweite Opfer. Ein angeblicher Sünder fehlte noch. »Das heißt, nicht die Textauszüge sind von Bedeutung, sondern die Daten.«

»Ich kann nicht beurteilen, ob Ihr Täter versucht hat, Stellen herauszusuchen, die einen Bezug zu den Opfern herstellen, dazu kenne ich die Einzelheiten des Falls nicht genug. Aber eines weiß ich sicher: Der letzte Mord ist für morgen geplant.«

Pierre legte auf. Er stand ganz still, war furchtbar müde. Was für ein krankes Hirn hatte sich das alles ausgedacht? Wie sollte man als vernunftbegabter Mensch da noch mitkommen?

Am liebsten würde er sich einfach treiben lassen, am Fluss entlanggehen und sich ausklinken aus diesem wahnsinnigen Karussell, das sich immer schneller und schneller drehte. Aber dann würde es bald einen weiteren Toten ausspucken, und das konnte er nicht zulassen.

Er sah auf die Uhr. Es war Viertel nach sechs. In fünfzehn Minuten begann die Teamsitzung. Er musste sich dringend mit den Kollegen besprechen, damit er den roten Faden nicht verlor.

Auf der Suche nach Kalia rannte Pierre durch die Reihen der Wohnwagen, rief dabei immer wieder ihren Namen. Schließlich fand er sie bei einer Gruppe Frauen, die aufgeregt redeten und kicherten. Eine bildhübsche gitane mit hüftlangem, glattem Haar stand in der Mitte, tränenüberströmt und heftig schluchzend, was die anderen irgendwie zu erfreuen schien.

»Wir müssen sofort los«, rief er Kalia zu und eilte davon, ohne sich zu vergewissern, ob sie ihm folgte.

Nach einigen Metern hatte sie ihn eingeholt.

»Warte. Ich will noch kurz mit Rani wegen Josiane Simon sprechen. Aber sie ist furchtbar ergriffen, weil sie Gottes Liebe gespürt hat. Sie sagt, sie wolle sich bekehren lassen.«

»Lass sie«, brummte Pierre, der allmählich genug von alldem hatte. »Ich muss zurück nach Aigues-Mortes, und zwar sofort.«

»Was ist denn passiert?«, fragte Kalia erschrocken.

»Ich weiß, dass es wieder geschehen wird. Und zwar morgen. Und ich habe keine Ahnung, wie wir es verhindern können.«