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Die Sonne wurde erst milder, als sie hinter den Häusern am gegenüberliegenden Kanalufer verschwand. Sie hinterließ dunstige Wasser, einen Fluss, der wie ausgestorben schien, müde und erschöpft von ihrer Unbarmherzigkeit. Einzig die Zikaden wirkten munter und die Mauersegler, die kreischend ihre Runden zogen.
Doch als die verbliebenen Strahlen einige versprengte Wölkchen pastellfarben beleuchteten, erwachte auf den Booten und Gassen wieder das Leben. Musik schallte über den Kai, und in der Ferne erklangen Lachen und Gläserklirren, als gäbe es etwas zu feiern.
Pierre hatte das Glasdach der péniche weit geöffnet, sodass er nun unter freiem Himmel saß, umgeben von schützenden Wänden. In der Hand hielt er ein Glas Rosé, den er nach dem kargen Mahl aus trockenen, dick mit Butter bestrichenen Brotscheiben geöffnet hatte.
Von der üppigen Essensauswahl vom ersten Tag war nicht mehr viel übrig, aber es hatte ja auch niemand mit dem blinden Passagier rechnen können.
Pierre seufzte.
Als er vorhin das Boot betreten hatte, rief er als Erstes im Camping le Clos du Rhône an und fragte nach Louis. Erst als die Frau an der Rezeption sagte, sie habe in der vergangenen Woche niemanden mit diesem Namen gehabt, fiel ihm ein, dass der Junge in Wirklichkeit Emil Allombert hieß. Ein Name, der ausgesprochen so fern klang wie der eines Fremden.
»Ich habe leider keinen Überblick über die Anwesenheit der Gäste«, hatte die Frau gesagt. »Seinen Schlüssel hat er bisher jedenfalls nicht abgegeben, ich kann ihm gerne eine Nachricht zukommen lassen.«
»Ich möchte, dass Sie zu seiner Hütte gehen und nach ihm sehen«, beharrte Pierre. »Ich bleibe so lange in der Leitung.«
»Aber Monsieur …«
»Es ist wichtig, bitte. Er ist … wie ein Sohn für mich.«
Sie atmete aus. »Na, schön. Bleiben Sie dran.«
Die Hütte war leer gewesen, und auch in der Snackbar, die zur Anlage gehörte, saß niemand, auf den die Beschreibung passte. Am Ende hatte Pierre seine Mobilnummer weitergegeben und die Frau gebeten, ihm Bescheid zu geben, falls Louis auftauchte.
»Schreiben Sie auf den Zettel, dass ich mir Sorgen um ihn mache. Und dass er sich melden soll.«
Seitdem lag das Telefon auf dem Esstisch, reglos und stumm. Pierre war eingefallen, dass er Charlotte versprochen hatte, sich heute bei ihr zu melden. Aber er schob es auf, weil er fürchtete, Louis’ Rückruf zu verpassen.
Also saß er mit dem Weinglas in der Hand da und starrte auf den Kanal, in dessen graugrünem Wasser sich der Himmel mit den rosafarbenen Wattewölkchen spiegelte.
Pierre hasste es zu warten. Auf den Anruf und auf das, was als Nächstes geschehen würde.
Seine Gedanken wanderten zu Alejandro, und es fiel ihm schwer zu ermessen, wie es den Eltern ergangen war, als sie die niederschmetternde Diagnose erhielten. Wäre es anders verlaufen, wenn der behandelnde Arzt den Ängsten und Sorgen der Mutter einfühlsam begegnet wäre? Wenn er sich bemüht hätte, religiöse und spirituelle Überlegungen unvoreingenommen einzubeziehen? Vielleicht hätte ein vermittelndes Gespräch die Akzeptanz eines ärztlichen Eingriffs erhöht. Was wäre schon dabei gewesen, die Kraft des Glaubens unterstützend in Anspruch zu nehmen?
Das Schicksal hatte Minette Vigier für ihre Entscheidung hart bestraft. Und dennoch gab es vielleicht jemanden, dem dies nicht ausreichte und der ihr deshalb den Tod wünschte.
Vor ihrer Wohnung stand nun ein Wagen mit zwei Polizeibeamten, bereit einzugreifen, sobald sich ein Verdächtiger näherte. Und auch Mayron wurde in dieser Nacht beschattet.
Pierre trank noch einen Schluck.
Plötzlich überkam ihn die Angst, dass sie die falschen Schlüsse gezogen hatten. Er fürchtete, etwas übersehen zu haben, irgendein Detail, das sein gesamtes Konstrukt umwarf. Aber so sehr er auch nachdachte und den Fall rekapitulierte, er wusste nicht, wo er hätte anders abbiegen sollen. Einem anderen Weg folgen, einer anderen Spur.
Eine Bewegung am Boot ließ ihn hochfahren. Er erhob sich und sah, dass Kalia an Deck geklettert war und ihm nun zuwinkte. Sie hatten vereinbart, dass er sich meldete, wenn etwas vorfiel. Ihr unerwartetes Erscheinen erschreckte ihn.
Rasch öffnete er die Glastür.
»Was machst du denn hier? Ist etwas passiert?«
»Nein. Aber ich habe es nicht mehr ausgehalten. Ich hasse es zu warten, und ich dachte, zu zweit wartet es sich leichter.«
Sie lächelte zaghaft, und ihm fiel auf, dass sie frisch geduscht hatte. Ihr schwarzes Haar glänzte noch feucht und fiel ihr offen bis auf den Rücken. Das weiß-rot geblümte Kleid brachte ihre Rundungen vorteilhaft zur Geltung, und sie wirkte auf einmal sehr weiblich.
»Du hast recht, komm rein.«
Kalia folgte der Aufforderung und stellte eine Korbtasche ab. »Hast du schon gegessen? Ich habe uns etwas mitgebracht.«
»Was denn?«
»Eine Agriade Saint-Gilloise . Das ist, wie der Name schon sagt, eine Spezialität aus Saint-Gilles, auch Eintopf der Flussfahrer genannt. Das Rindfleisch wird über Nacht mit einer Paste aus Petersilie, Knoblauch, Sardellen, Zwiebeln, Kapern und Gurken mariniert und dann mehrere Stunden gekocht.«
»So lange braucht das? Dann kannst du also zaubern?«
Sie lachte. »Ich hatte vor zwei Tagen Gäste, und es war noch genügend übrig. Aufgewärmt schmeckt es sowieso am besten.«
Pierre nickte und holte Teller und Besteck, dazu Gläser für Wasser und Wein. Im Küchenschrank entdeckte er noch eine Flasche Rotwein, einen Côtes du Rhône , und entkorkte ihn. Zuletzt nahm er Servietten aus der Schublade und legte ein Holzbrett auf den Tisch, bevor er auf der Bank Platz nahm. Mit Blick auf die zunehmende Dunkelheit erhob er sich wieder und entzündete einige Windlichter. Charlotte wäre stolz auf mich, dachte er mit einem Schmunzeln.
Er sah Kalia zu, die einen Topf aufsetzte, um das Fleisch zu erwärmen, und eine Schale mit Reis in die Mikrowelle stellte. Pierre beobachtete ihre Bewegungen und dachte, dass sie eine sehr attraktive Frau war.
»Warum bist du wirklich aus Paris zurückgekehrt?«, fragte er, als Kalia den Topf auf dem Holzbrett abstellte. In einer aromatisch duftenden grünbraunen Sauce schwammen große Fleischstücke. »Ich dachte immer, Bernard und du, ihr passt gut zueinander.«
»Das war auch so. Glaubte ich zumindest, bis wir ein ernsthaftes Gespräch geführt haben.«
»Ihr habt euch gestritten?«
»Nein. Aber wir waren wohl zum ersten Mal ehrlich zueinander.« Sie nahm den Reis aus der Mikrowelle und füllte die Teller. Prostete ihm mit einem Lächeln zu. »Bon appétit , Pierre.«
Sie aßen schweigend. Es schmeckte hervorragend. Das Fleisch war zart, die Sauce würzig und durch die geschmorten Zwiebeln leicht süß. Über ihnen funkelten erste Sterne am immer dunkler werdenden Himmel. Die Musik, die vom Kai herüberklang, wurde lauter. Ein rhythmisches Klopfen zur Gitarre und ein heiserer und zugleich kraftvoll klingender Gesang.
»Du hast meine Frage nicht beantwortet«, sagte er schließlich, als er die Stille nicht mehr ertrug. »Warum, Kalia?«
Sie seufzte und legte die Gabel beiseite. »Es gab etwas, das zwischen uns stand.« Sie sprach, ohne ihn anzusehen, den Blick auf den halb vollen Teller gerichtet.
»Es gab eine andere?«
»Nein.« Sie hob den Kopf und sah ihn an. »Bernard wollte keine Kinder.«
Pierre erschrak und fühlte sich ertappt. »Aber du wolltest welche.«
»Ja, ganz viele sogar. Ich stamme aus einer kinderreichen Familie, ich liebe meine Nichten und Neffen, will aber mehr sein als nur Tante. Ich will wissen, wie es sich anfühlt, wenn ein Kind in mir heranwächst. Es in den Armen zu halten, ihm ein Zuhause zu geben.« Sie lächelte matt. »Aber als ich ihm sagte, dass es langsam Zeit werde, mit der Familienplanung zu beginnen, antwortete er, es gehe uns doch gut. Er wolle nichts ändern. Mit Kindern könne man nicht von einem auf den anderen Tag verreisen oder ausgehen. Außerdem habe er Angst davor, was mit uns beiden geschehe, als Paar. Er wolle keine Partnerin, die in ihm nur den Vater sieht und er in ihr die Mutter. Tja, und da bin ich gegangen.«
»Und Bernard?«
»Er hat versucht, mich zurückzuhalten. Aber seine Meinung hat er nicht geändert.« Kalia atmete schwer. »Ich war siebenunddreißig, als ich ihn verließ. Alles, wonach ich mich sehne, ist eine Familie, und ich dachte, ich müsse es unbedingt versuchen, bevor es zu spät ist. Aber ich habe bisher niemanden kennengelernt, mit dem ich mir vorstellen kann, diesen Traum zu leben. Bernard dagegen hat recht schnell eine Neue gefunden.« Ihre Augen schimmerten. »Letzte Woche habe ich erfahren, dass er mit seiner Freundin eine Tochter gezeugt hat. Er hat mich angerufen, um es mir zu erzählen. Er hat gesagt, wie sehr er sich darüber freue. Obwohl er ganz genau weiß, dass ich mir nichts mehr wünsche als das!«
Tränen liefen ihr über die Wangen, und Pierre nahm eine frische Serviette, um sie ihr zu reichen.
»Merde! «, sagte er nur. Was für ein Mistkerl, das hätte er nie von Bernard gedacht.
Kalia putzte sich die Nase und straffte dann die Schultern.
»Aber das war es nicht allein.« Sie wippte zum Takt der Musik, ein rhythmischer Klangteppich, der sich rasch auf ihren Körper übertrug. »Ich liebe meine Kultur. Ich habe sie so sehr vermisst! Die Geselligkeit, das Familienleben, das Essen. Und den Tanz. In unserem Freundeskreis in Paris hat niemand Flamenco getanzt. Hier lieben ihn alle Frauen. Vor allem die rumba flamenca .«
Sie erhob sich und stand stolz und kerzengerade vor ihm. Dann begann sie auf dem engen Raum zwischen Steuerstand und Esstisch zu tanzen, bewegte die Arme weit und elegant, als schlage sie mit unsichtbaren Flügeln. Wiegte den Oberkörper, schwang die Hüfte. Blieb schließlich atemlos vor ihm stehen. Endlich warf sie den Kopf in den Nacken und lachte gelöst.
»Das ist etwas anderes als die himmlische Verzückungsmusik der Pfingstler. Das hier ist pure Leidenschaft. Komm, versuch es auch einmal.«
Sie nahm seine Hände und zog ihn hoch. Umtanzte ihn, während er auf der Stelle wippte und sich wie der letzte Tölpel vorkam.
»Ich kann das nicht«, wehrte er ab.
»Ich weiß, dass du es kannst. Du brauchst nur ein bisschen mehr Körperspannung«, sagte sie. Dann hob sie die Hände über den Kopf und klatschte im Takt. Ihre Bewegungen wurden sinnlicher, fordernd. Sie drehte sich und lockte, blieb schließlich vor ihm stehen und umfasste seine Handgelenke, sah ihn mit glühenden Augen an.
Früher, während ihrer Zeit in Paris, hatte es einmal eine Situation gegeben, in der er Kalia gerne geküsst hätte. Es war an einem Silvesterabend, sie hatten sich lange unterhalten und ein bisschen zu viel getrunken. Dann getanzt, enger, als Freunde es tun. Sie waren sich dabei nahegekommen, so wie jetzt. Aber sie war verheiratet gewesen, und er hatte Respekt davor gehabt. Dennoch hatte er damals das Gefühl, ihr ergehe es genauso.
Sie lächelte. »Erinnerst du dich noch an damals, an unseren Tanz?«
Pierre schluckte. »Ja.«
»Ich musste später noch oft daran denken. Ich habe mich immer wieder gefragt, wie es dir wohl geht, was aus dir geworden ist. Aber ich hatte nie den Mut, deinen Aufenthaltsort herauszufinden und dich anzurufen. Und dann standest du plötzlich vor mir, am Kai von Saint-Gilles.«
Er trat einen Schritt zurück, und sie ließ los.
»Ich hätte mich sicher über einen Anruf gefreut«, sagte er. »Aber die Zeiten haben sich geändert. Ich lebe in einer festen Beziehung.«
»Liebst du sie?«
Er nickte.
»Die Frau ist ein Glückspilz.«
»Da wäre ich mir nicht so sicher.«
Pierre wandte den Blick ab. Er fühlte sich schrecklich. Er hatte Charlotte nicht zurückgerufen und er wusste, dass es sie verletzte. Aber er hatte es einfach nicht fertiggebracht. Die ganze Zeit stand das Thema Kinder zwischen ihnen, und er hatte irgendwie gedacht, dass es sich wieder lege, wenn er es nur hartnäckig genug ignorierte.
Bis jetzt.
Er hatte immer geglaubt, der Höhepunkt einer Beziehung sei zusammenzuziehen, für ihn die äußerste Form von Nähe. Aber das stimmte nicht. Zumindest nicht für Charlotte. Sie strebte auf einen anderen Höhepunkt zu, der da hieß: heiraten und eine Familie gründen. Aber er war noch nicht so weit. Heiraten ja, aber Kinder? Niemals. Nicht er. Doch seit der Fahrt in die Camargue hatte sich etwas in ihm bewegt. Durch Louis und nun auch durch das Gespräch mit Kalia.
Er liebte Charlotte und er wollte sie nicht verlieren. Aber war er wirklich bereit, diesen Schritt zu mit ihr gehen?
»Alles in Ordnung, Pierre?«
Er sah sie an. Kalias Augen schimmerten dunkel im Schein der Windlichter.
»Ja«, sagte er. »Aber ich glaube, es ist besser, wenn du jetzt gehst.«
Kalia nickte. Sie nahm ihre Korbtasche und öffnete die Glastür. Bevor sie hindurchschritt, drehte sie sich noch einmal um.
»Ruf mich an, wenn du mich brauchst.« Sie lächelte. »Ich meine natürlich, bei deinem Fall. Oder als Reiseführerin.«
»Auch als gute Freundin, so wie vorher?«
»Na, klar.«
Damit ließ sie ihn alleine.