35
»Ja?« Charlotte klang müde. Und im nächsten Moment hellwach. »Pierre, bist du es?«
Er lachte leise. Es war schön, ihre Stimme zu hören. »Wie geht es dir?«
»Besser. Jetzt, da du anrufst.« Sie seufzte. »Ich habe mir Sorgen gemacht. Um dich. Um uns …«
»Das musst du nicht. Ich hätte mich früher melden sollen, aber der Fall hat mich den ganzen Tag beschäftigt.« Pierre stockte. »Nein, das stimmt nicht ganz. Du hattest recht, als du sagtest, ich würde vor den Problemen davonlaufen. Ich habe unser Gespräch auf die lange Bank geschoben, weil ich nicht darüber reden wollte. Dein Vorschlag, ich solle Hausmann …«
»Vergiss es«, unterbrach sie ihn, und ihre Stimme klang belegt. »Es war eine blöde Idee von mir, ich hätte wissen müssen, dass es dich kränkt. Wenn ich ehrlich bin, kann ich mir das auch nicht so richtig vorstellen. Du wärst dann nicht mehr der Pierre, den ich kenne und liebe.«
»Na, da bin ich aber froh.« Er schmunzelte. »Es war aber auch nicht richtig, das Thema Kinder komplett zu ignorieren, obwohl ich wusste, wie wichtig es dir ist. Ich … ich habe darüber nachgedacht.«
»Du hast deine Meinung geändert?«
Pierre strich sich übers Haar, überlegte kurz, bevor er antwortete. »Sagen wir besser: Ich bin nicht mehr total abgeneigt. Ich liebe dich und ich will dich nicht verlieren. Aber es macht mir Angst. Du weißt, dass ich auch die Freiheit und das Leben mit dir genieße. Ein Kind zu bekommen, ist eine große Aufgabe. Es verändert das ganze Leben, man trägt plötzlich Verantwortung.« Er dachte an Louis, und seine Sorge stieg ins Unermessliche. Was, wenn der Junge gerade versuchte, ihn zu erreichen? »Die schönen Momente werden überwiegen, das weiß ich«, schloss er. »Also … lass mich zumindest das Berufliche endgültig klären. Und dann sehen wir weiter.«
»Ein Kind zeugt man ja auch nicht, um den Partner zu halten«, flüsterte sie. »Sondern weil man dem kleinen Wesen Platz und Raum im Leben und im Herzen geben will. Du sollst die Zeit haben, die du brauchst.« Er hörte, wie sie ein- und ausatmete, und als sie fortfuhr, war ihre Stimme wieder ganz klar. »Das mit dem Beruflichen … Ich muss dir etwas erzählen. Marechal hat …«
»Ein anderes Mal, ja? Die Sache kann jeden Augenblick losgehen. Ich muss die Leitung offen halten.«
»Natürlich.«
»Schade, dass du gerade so viel zu tun hast. Es wäre schön, das Hausboot gemeinsam nach Bézier zu überführen. Ich meine, wenn der Täter rechtzeitig gefasst werden sollte.«
»Wir holen das nach, wenn alles vorbei ist. Bisou. «
Kaum hatte Pierre das Gespräch beendet, sah er nach, ob jemand versucht hatte, ihn zu erreichen. Ob Louis sich gemeldet hatte oder ob eine Nachricht von Bartissol eingegangen war, die von einem dritten Mord kündete. Aber nichts dergleichen war geschehen.
Pierre atmete tief durch. Dann legte er sich angezogen ins Bett und löschte das Licht.
Es war bald Mitternacht. Der Tag der letzten Abrechnung war gekommen.
Er wollte bereit sein, wenn es losging.
Pierre schreckte hoch. Sein Schlaf war unruhig gewesen, immer wieder hatte er zwischendurch auf die Uhr gesehen. Erst um zwanzig vor eins, dann um zehn nach. Nun war es bald halb zwei.
Seine Gedanken waren hin- und hergeflogen, wie bei einem Pingpongspiel. Er fühlte sich, als säße er vor einer Milchglasscheibe, hinter der die Kollegen agierten, während er vom Boot aus versuchte, etwas zu erkennen. Am liebsten hätte er sie nach Arles begleitet, aber er musste hierbleiben für den Fall, dass der junge Ornithologe ihn brauchte.
Louis …
Die Erinnerungen an die vergangenen Tage fluteten seinen Kopf mit immer neuen Bildern. Wie sie an Gallician vorbeigeprescht waren, mitsamt den winkenden Beamten. Oder wie Louis seine Erinnerungen wiedergefunden hatte, als er den Kettenbrief in den Händen hielt. Die seelische Erschütterung, als er den Abend des ersten Mordes am Étang de Vaccarès neu durchlebte, dann die Erleichterung. Am Ende der Streit.
Jedes Mal, wenn Pierre erwacht war, hatte er einen Blick auf das Display geworfen. Aber das Telefon blieb stumm.
Ein Boot fuhr in hohem Tempo vorbei. Das Wasser schwappte gegen die Bordwand, und ein sanftes Schaukeln setzte ein.
In der Ferne hörte er den Motor eines Wagens, der zum Stehen kam. Dann das Zuschlagen einer Autotür. Schritte, die über den Kai hasteten.
Pierre richtete sich auf und rieb sich über das Haar. Er konnte ohnehin nicht mehr schlafen. Nun, da der Tag gekommen war, an dem der Mörder – sofern der Professor recht behielt – ein drittes Mal zuschlug.
Er stand auf und wusch sich das Gesicht, als jemand an das Bullauge klopfte.
»Pierre? Bist du wach?«
Es war Louis!
Sein Herz machte einen Satz. »Ja!«, rief er durch das verschlossene Fenster. »Komm an Deck, ich mache dir auf.«
Wenig später stand der junge Mann mit geschultertem Rucksack in der Tür und sah ihn zerknirscht an.
»Ich hoffe, es ist in Ordnung, dass ich so spät noch vorbeikomme.«
»Aber sicher.« Pierre nahm ihn in den Arm. Er musste sich zusammenreißen, damit er ihn vor lauter Erleichterung nicht erdrückte. »Hast du meine Nachricht erhalten? Wo warst du denn die ganze Zeit? Geht es dir gut?«
»Hey, nicht so viele Fragen auf einmal, ja?« Louis trat zurück und grinste. »Nach unserem Streit bin ich am Strand entlanggelaufen, bis mir die Hitze den Schädel halb verbrannte und mir die Sache mit dem Sonnenstich wieder einfiel. Dann bin ich zurück zum Campingplatz, um die Zeit totzuschlagen. Aber ich habe mich nicht wohlgefühlt in der Hütte. Ich musste die ganze Zeit an die verschwundenen Speicherkarten denken. Also bin ich in den Ort gegangen und habe mich in eine Bar gesetzt, bis sie mich rauswarfen. Und da ist mir etwas eingefallen. Ich bat den Barkeeper, mir jemanden zu besorgen, der mich nach Aigues-Mortes bringen könnte. Und nun bin ich hier.«
»Was genau ist dir eingefallen?«
»Der Satz, den der Mörder seinem Opfer entgegengebrüllt hat.« Louis sah an Pierre vorbei zum Esstisch, auf den durch das Glasdach der Mond schien. Er zeigte auf den Topf. »Ist da noch was drin?«
»Ja, das hat Kalia mitgebracht, aber es enthält Fleisch.«
»Ist sie noch da?« Louis grinste und nahm auf der Bank Platz.
»Nein.« Pierre schaltete eine Küchenlampe ein und holte eine Gabel und einen Löffel aus der Schublade. »Hier. Und nun erzähl endlich. Was hat der Mann gesagt?«
Louis sortierte das Fleisch aus, schob dann Reis auf den Löffel und tunkte ihn in die kalte Sauce, bis er vollständig bedeckt war. Dann legte er sein Telefon neben den Teller und schaltete es ein.
»Warte, ich habe einen Screenshot gemacht.« Er beugte sich über das Display. »Viele werden an jenem Tag zu mir sagen: › Herr, sind wir nicht in deinem Namen als Propheten aufgetreten und haben wir nicht in deinem Namen Dämonen ausgetrieben und haben wir nicht in deinem Namen viele Wunder gewirkt? ‹ «, rezitierte er. »Dann werde ich ihnen antworten: › Ich kenne euch nicht. Weg von mir, ihr Gesetzlosen .‹«
Pierre ließ sich ihm gegenüber auf einen Stuhl sinken. »Das waren seine Worte?«
Louis schob sich den Löffel in den Mund und fuhr kauend fort: »Na ja, so in etwa. Das ist aus der Bibel, ich habe nachgesehen. Matthäus 7, Vers 22 bis 23. Das ist ein sehr interessanter Text. Da stehen viele kluge Dinge drin, das hat mich wirklich überrascht. Dass es nicht zählt, wenn man unentwegt zu Gott fleht, um ins Himmelsreich zu kommen, sondern nur, was für ein Mensch du bist und welche Früchte deine Taten tragen. Ein Spruch hat mir besonders gut gefallen: ›Alles, was ihr wollt, dass euch die Menschen tun, das tut auch ihnen an.‹ Das hat meine Großmutter schon gesagt. Und die hatte meistens recht.« Er grinste breit. »Und noch ein Spruch stand dort: ›Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht?‹«
Er wischte sich den Mund mit einer herumliegenden Serviette ab und reichte Pierre die Hand über den Tisch. »Deshalb bin ich zurückgekommen. Es war ein blöder Fehler, einfach davonzulaufen, und ich bitte um Entschuldigung.«
»Angenommen.« Pierre schlug ein. »Louis«, begann er und hielt gleich wieder inne. Ihm war ein Gedanke gekommen, der ihn elektrisierte. War es das? Das fehlende Detail? »Bist du dir sicher, dass der Mann, der auf das Tier zuging, derselbe war wie derjenige, der am Ende am Boden lag?«
»Ja, bin ich«, sagte der junge Mann fest.
»Du könntest dich irren. Schließlich hattest du einen Sonnenstich und warst in Panik.«
»Stimmt. Aber der Kerl hat dieselben Sachen getragen. Und er hatte ebenfalls glatte, beinahe schwarze Haare.«
Das war das Stichwort. Pierre tippte auf das Foto von dem Bild aus der Krypta und legte sein Mobiltelefon auf den Tisch. »Der Mann, der am Seeufer entlangspaziert ist und dich gewarnt hat, in deinem Versteck zu bleiben, also derjenige, der später ermordet im Sand lag. War es vielleicht der hier?«
Louis beugte sich über das Bild. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein, ganz sicher nicht.«
»Sieh noch einmal genau hin. Das ist Mateo Espinas.«
»Und wenn ich zehnmal hingucke, das war er nicht. Sein Gesicht war viel weicher. Außerdem hatte er keine Locken.«
»Und der hier?« Pierre öffnete das Interview, das Rani an Kalia weitergeleitet hatte.
»Ja, das war er, ganz sicher.« Mit vor Überraschung geweiteten Augen sah Louis ihn an. »Wer ist das?«
»Pasteur Romain Fernandez.«