Epilog

»Bereit?«

»Aber sicher.«

Pierre strich sich einen imaginären Fussel von seinem dunkelblauen Poloshirt mit den azurblauen Streifen, direkt dort, wo das Logo der police municipale prangte. Dann sah er seinen Assistenten an, der in der Tür zur Wache stand, flankiert von Penelope, und ihn breit angrinste.

»Ist alles in Ordnung mit euch?«, fragte er irritiert.

»Na klar, alles bestens.« Luc nickte mit gespieltem Ernst.

»Viel Glück, Pierre«, sagte Penelope und zog Luc rasch wieder nach drinnen, wo die Klimaanlage für frische zweiundzwanzig Grad sorgte.

Pierre schüttelte verwundert den Kopf und ging die Rue des Oiseaux hinauf, bog schließlich nach links in Richtung der Place du Village . Die beiden verhielten sich den ganzen Vormittag über schon so merkwürdig. Und zwar seit er Luc erzählt hatte, dass er sich um zwölf Uhr bei Marechal zurückmelden wolle.

Als Pierre dem Dorfplatz zustrebte, flogen ein paar Spatzen auf und ließen sich auf der Terrasse des Chez Albert nieder. Bereit, sich auf jede Brotkrume zu stürzen, die von den Tischen fiel. Unter einem der Schirme entdeckte er Arnaud Rozier, der mit dem Anwalt François Pistou, dem Leiter der Poststelle und Madame Levy, der Kuratorin des Burgmuseums, beisammensaß. Pierre überlegte, hinzugehen und sie zu begrüßen, verwarf den Gedanken jedoch aus Sorge, am Ende unpünktlich zu sein.

Er würde später noch einmal herkommen. Erst wollte er dieses Gespräch hinter sich bringen.

Die Sonne schien vom stahlblauen Himmel, und die Luft flirrte. Für die kommenden Tage war leichter Wind angesagt und der eine oder andere Regenschauer. Eine kleine Abkühlung, bevor die Hitze unvermindert weitergehen sollte.

Als Charlotte und er am vergangenen Samstag in Aigues-Mortes abgelegt hatten, waren es drei Grad mehr gewesen. Pierre hatte sich telefonisch von Kalia verabschiedet, ihr für die unschätzbare Hilfe gedankt und sie nach Saintes-Valérie eingeladen. Dann hatte er die péniche den Canal du Rhône à S è te hinabgesteuert, der sich bald seinen Weg zwischen der Lagunenlandschaft und dem Mittelmeer bahnte.

»Was wolltest du mir eigentlich am Telefon noch erzählen?«, fragte Pierre Charlotte, als sie sich mit zwei Gläsern frisch gemachter citronnade neben ihn stellte und ihm eines reichte. »Du sagtest, es gehe um Marechal?«

Sie nickte. »Der Bürgermeister ist so ein falscher Hund. Er hat einen Plan ausgeheckt, um dich wieder loszuwerden.«

»Ein weiteres Mal?«

»Ja. Du glaubst gar nicht, was Gisèle herausgefunden hat! Ich soll dich ganz herzlich grüßen und dir sagen, wie sehr sie sich freut, dass du deinen Dienst wieder aufnimmst.« Charlotte erzählte ihm von dem verschwundenen Anschreiben, dem Protokoll, laut dem Marechal vorgegeben hatte, Pierre habe die versammelte Runde versetzt, und von dem Gespräch mit dem unbekannten Bewerber, das die Empfangsdame belauscht hatte. »Der Bürgermeister hat dich suspendiert, um seinen Duzfreund auf den Posten zu heben«, schloss sie. »Und er hat ihm in die Hand versprochen, dafür zu sorgen, dass er den Plan trotz der Einmischung des Präfekten auch durchzuziehen gedenkt.«

»Wieso erstaunt mich das nicht?«, entfuhr es Pierre, und er musste lachen, obwohl er hätte wütend sein sollen. »Keine Sorge, an mir wird er sich die Zähne ausbeißen.«

»Das hoffe ich. Es gibt eine Menge Menschen im Dorf, die dir den Rücken stärken. Gisèle, Luc, Penelope und Arnaud haben eine großartige Idee, wie wir Marechal mit seinen eigenen Waffen schlagen können.«

»Eine Idee?«

Sie grinste. »Luc hat inzwischen herausgefunden, wie der Kerl heißt, der deinen Job übernehmen soll. Das war recht einfach, weil er aus demselben Ort stammt wie der Bürgermeister. Wir haben überlegt, ihn im Namen von Sainte-Valérie in die mairie einzuladen, um diese unselige Intrige vor Zeugen auffliegen zu lassen.«

»Wie das?«

»Ganz einfach. Die Einladung ist neutral gehalten, aber auf offiziellem Papier verfasst. Damit muss Marechals Duzfreund davon ausgehen, dass der Bürgermeister dich losgeworden ist und er nun doch den Vertrag erhält. Während Gisèle ihn nach oben zu Marechals Zimmer begleitet, führt Arnaud einige Mitglieder des Gemeinderats unter einem Vorwand in die Empfangshalle und schaltet den Lautsprecher der alten Telefonanlage ein, die eine Verbindung zum Amtszimmer herstellt. Der Bürgermeister und sein Duzfreund werden sich irritiert über das Missverständnis austauschen. Zeitgleich drängen sich unten im Erdgeschoss die anwesenden Gemeinderatsmitglieder um den Lautsprecher und werden Zeugen der Intrige.«

Pierre entfuhr ein Lachen. »Ganz ehrlich? Das klingt nach einem Schwank aus dem Volkstheater. Hat Luc sich das ausgedacht?«

»Ja.« Charlottes Grinsen wurde breiter. »Du hast recht, es ist ausbaufähig. Aber sie machen alle mit, wenn du es willst.«

Pierre musste heftig schlucken. Der gute Luc. Und erst Gisèle … Sie begab sich in die Schusslinie, um ihm den Rücken zu stärken, obwohl es sie mit Sicherheit den Job kostete. Denn Marechal würde sich für diese Demütigung rächen.

Entschlossen schüttelte Pierre den Kopf. Er wollte seine Zukunft nicht länger in die Hände anderer legen, sondern selbst aktiv werden.

»So sehr mich euer Engagement begeistert, es ist mir schon unangenehm genug, dass der Präfekt sich eingemischt hat. Das fühlt sich an, als müsse man mich zum Jagen tragen. Nein, ich muss die Sache selbst klären.«

Mit einem Strahlen beugte sie sich zu ihm und gab ihm einen Kuss. »Das ist der Pierre, den ich kenne.«

Sie waren den ganzen Samstag durchgefahren und erreichten am frühen Abend Frontignan, wo sie auf die Öffnung der Hebebrücke am nächsten Morgen warten mussten, um in den Étang de Thau zu gelangen.

Und weil sie noch am Sonntag bis Béziers durchfahren wollten, damit Pierre gleich Montagfrüh seinen Dienst antreten konnte, liehen sie sich Fahrräder aus und besuchten Bouzigues. Jenen zauberhaften Fischerort am nördlichen Ufer des Sees, von dem Martin Cazadieu Pierre vorgeschwärmt hatte. Sie stellten die Fahrräder am alten Hafen ab und spazierten Hand in Hand durch die Gassen, machten Fotos von bunten Fischerhäusern, schlenderten die sandige Promenade entlang. Schließlich nahmen sie in einem winzigen, aber sehr atmosphärischen Restaurant Platz, das sich Le petit Bouzigues nannte. Sie bestellten als entrée überbackene Muscheln mit Knoblauch und Petersilie, frische Austern und Piementos mit Meersalz und aßen zum Hauptgang butterzarten poulpe grillé . Dazu tranken sie einen blumig-intensiven Viognier von der Rhône.

Es waren schöne Tage gewesen, wenn auch ein wenig kurz. Pierre hatte Charlotte von dem Fall erzählt und von Kalia, deren Schicksal ihn zutiefst berührt hatte, ebenso wie das des kleinen Alejandro.

Sie redeten über alles Mögliche, nur nicht über die Zukunft. Genossen einfach nur das Beisammensein, die Nähe des anderen. Und als Pierre kurz vor Béziers den Impuls verspürte, Charlotte einen Heiratsantrag zu machen, hielt er kurz vorher inne. Er dachte, dass er die Frage aller Fragen an einem besonderen Ort stellen sollte, der der Größe des Anlasses entsprach. Er wollte vorbereitet sein, einen Ring besorgen und Champagner. Denn dass er es tun wollte, dessen war er sich sicher.

Die Glocken der Église Saint-Michel schlugen zwölf und schreckten Pierre aus seinen Gedanken. Die Mittagssonne warf ihr weißes Licht auf die Fassaden der umliegenden Häuser und auf den Balkon der mairie , den der Bürgermeister in diesem Moment betrat. Marechal stützte die Hände auf das Geländer und ließ den Blick über die Place du Village schweifen wie ein König über sein Reich. Und gerade als Pierre dachte, er hebe die Hand, um seinen Untertanen zu huldigen, blickte Marechal in seine Richtung. Er runzelte die Stirn und ging wieder hinein.

Pierre nickte. Es war an der Zeit, die Höhle des Löwen zu betreten.

Maurice Marechal saß an seinem Schreibtisch, den Blick auf einige Papiere geheftet, und ließ ihn Platz nehmen, bevor er Pierre endlich ansah.

»Das sind Sie ja wieder! Herzlich willkommen zurück. Ich denke, wir sollten unseren alten Streit begraben und noch einmal von vorne beginnen.«

Er sah gut aus mit dem faltenfreien weißen Oberhemd und dem gewinnenden Lächeln. Wüsste Pierre nicht um seinen wahren Charakter, man hätte meinen können, vor ihm sitze ein junger, dynamischer Bürgermeister, der nur das Beste für den Ort und seine Polizei wollte.

Aber Pierre würde sich nicht länger von ihm einwickeln lassen.

»Hören Sie auf mit dem Getue«, sagte er. »Ich weiß, dass Sie mich am liebsten dort sähen, wo der Pfeffer wächst.«

Marechal runzelte die Stirn. »Nanu? Wie kommen Sie darauf?«

»Sie haben einen schweren Fehler begangen. Sie haben geglaubt, Sie könnten dem versammelten Gemeinderat vormachen, ich sei nicht an einer Aussprache interessiert. Sie dachten, es würde niemandem auffallen, weil ich mich verkrochen und dem Dorfleben den Rücken zugekehrt hatte. Ja, das war mein Fehler, aber diese Zeiten sind vorbei. Ich bin wieder da.«

»Allerdings, das sind Sie«, kam es eisig zurück. Marechal verschränkte die Arme. »Und nun? Was haben Sie vor? Sind Sie hergekommen, um mir eine Szene zu machen?«

Pierre schüttelte den Kopf. »Ich möchte nur, dass Sie mich ernst nehmen. Und mich meinen Job machen lassen. Sparen Sie sich in Zukunft Ihre Trickserei, damit kommen Sie nicht mehr durch.«

»Soll das etwa eine Drohung sein?« Marechals Stimme klang schneidend.

»Nein, nur ein guter Rat.«

Der Bürgermeister beugte sich vor und stützte die Hände auf. »Sehen Sie sich vor, Monsieur Durand«, zischte er. »Noch ist nicht aller Tage Abend. In meinem Team kann ich keine Beamten brauchen, die nicht auf meiner Linie sind. Sie sind kein Mann, der sich in ein Korsett pressen lässt. Ich brauche mich also nur zurückzulehnen und abzuwarten, bis Sie einen Schritt zu weit gehen und diese Linie übertreten. Und dann werde ich da sein und zuschlagen.« Er erhob sich. »Ich freue mich schon darauf. Au revoir , Monsieur le policier

Auch Pierre stand auf. Sie standen sich gegenüber und funkelten sich an.

»Eine Frage noch«, knurrte Pierre. Er wollte Klarheit haben, bevor er ging. »Was ist mit der anonymen Anzeige gegen Arnaud Rozier? Waren Sie das?«

Marechal hielt überrascht inne, dann zuckte ein Lächeln über sein Gesicht. »Touché! « Er bleckte die Zähne. »Ich glaube, Sie verkennen den Ernst der Lage. Sainte-Valérie ist etwas ganz Besonderes. Es gibt einige Maßnahmen, mit denen sich das Dorf hier im Luberon bis an die Spitze bringen lässt, noch vor Gordes. Die Entlassung unfähiger Politiker voranzutreiben ist nur eine davon.«

»Sie sind ein Riesenarsch, wissen Sie das?«

»Danke, gleichfalls.«

Pierre wandte sich um und verließ den Raum.

Er hatte also tatsächlich Arnaud die Behörden auf den Hals gehetzt, er hatte es gerade eben zugegeben. Schade nur, dachte Pierre, während die Treppe hinab ins Erdgeschoss stieg, dass es dafür keine Zeugen gab.

Als er die Empfangshalle betrat, wich er überrascht zurück. Vor ihm stand Arnaud Rozier mitsamt dem Anwalt François Pistou und dem Leiter der Poststelle, Roland Germain, neben Madame Levy, der Kuratorin des Burgmuseums. Sie sahen ihm mit offenen Mündern entgegen, bis sich Pistou aus der Erstarrung löste und ihm anerkennend auf die Schulter klopfte.

»Was macht ihr denn hier?«, entfuhr es Pierre.

»Tja«, meinte Arnaud Rozier gedehnt. »Wir haben die neue Ausstellung besprochen und wollten gerade weiter ins Burgmuseum. Ich wollte eigentlich nur schnell ein paar Formulare holen, bevor die mairie über Mittag schließt. Wir sind zufällig hinzugekommen, als …« Er hob die Schultern und setzte einen unschuldigen Blick auf.

Pierre schmunzelte. Der Triumph in Roziers Augen war ihm nicht entgangen. »Sagen Sie nicht, der Lautsprecher war an.«

In diesem Moment trat Gisèle hinter ihrem Empfangstisch hervor und zwinkerte Pierre zu.

»Das ist mir wirklich schrecklich unangenehm«, sagte sie mit einem verschmitzten Lächeln. »Ich habe wohl die falsche Taste gedrückt. Aber Sie wissen ja, wie das bei mir ist. Mit der Technik stehe ich auf Kriegsfuß.« Sie reckte sich an sein Ohr. »Ich konnte einfach nicht widerstehen«, wisperte sie. »Sind Sie mir sehr böse?«

»Böse?« Pierre nahm sie in den Arm. »Sie sind die Beste!«

Die Sache würde Maurice Marechal nicht vom Thron stoßen. Seine Intrigen waren rechtlich gesehen kein schwerer Verstoß gegen die Gemeindeordnung, sondern nur ein Charakterfehler. Kein Disziplinargericht der Welt würde ihn deswegen des Amtes erheben.

Aber Arnaud Roziers Ruf war endlich wiederhergestellt. Und das war das Wichtigste.