Eine sehr einfache Liebesgeschichte

Es ist kurz vor fünf Uhr morgens, und das Auto braust mit 120 Stundenkilometern durch die Morgendämmerung, immer weiter weg von der Innenstadt. Niemand reagiert auf mein Flehen anzuhalten, selbst als ich äußerste Blasennot simuliere.

»Ich muss ganz dringend raus!«, winsele ich von der Rückbank. »Ich muss so stark pinkeln, dass ich mir gleich in die Hose mache!«

»Später«, sagt Aladin, und das Auto fliegt weiter durch die menschenleeren Straßen Kairos.

»Bitte, mir ist ganz schlecht!«, flehe ich.

»Wir sind gleich da«, sagt Aladin bestimmt und beugt sich herunter zum Ohr des Fahrers, woraufhin dieser das Pedal noch weiter durchdrückt.

Ich weiß nicht, wovor ich mehr Angst habe: davor, dass meine Entführer mich an einen Ort bringen, von dem meine Eltern nie erfahren werden? Oder davor, dass sie ihn doch erfahren und mir bis ans Lebensende Predigten über meine Blauäugigkeit halten? Zu einem fremden Mann ins Auto steigen, um Liebesgeschichten in seinem Heimatdorf zu sammeln? Ich bin dumm. Dumm. Dumm. Dumm. Und viel zu stolz, um nach Hilfe zu rufen. Ich habe noch immer nicht mein Handy gezückt, um Nazir eine Hilfe-SMS zu schicken.

Andererseits: Was sollte ich auch schreiben? Als ich mir beim Einsteigen das Kennzeichen merken wollte, stellte ich fest, dass ich seit dem letzten Sommer alle arabischen Zahlen verlernt habe. Der Name des Dorfes ist eine Aneinanderreihung knarziger Silben, die ich niemals im Gedächtnis behalten könnte, geschweige denn verschriftlichen. Und wer sagt, dass Aladin wirklich Aladin heißt?

Ich lernte ihn an meinem ersten Nachmittag in Kairo kennen, als ich allein durch die Innenstadt wanderte – und Nazirs Begleitung ziemlich vermisste. Selbst mit Schlabberklamotten und Kopftuch war ich mit meinen blauen Augen und dunkelblonden Haaren eher Paradiesvogel als Chamäleon, begleitet von einem mehrstimmigen Chor: »Natascha! Nicole! How are you? I love you! Special price for you!«

Ich flüchtete in einen Innenhof, der leer war, bis auf einen Kerl in meinem Alter, und fotografierte Liebeserklärungen an einer Wand. Einige Initialen liebten einander, Omar war der Beste, jemand namens Eshe war »eine sexy bitch«.

Der Typ saß auf der Bordsteinkante und las Zeitung. Er trug trotz 28 Grad im Schatten eine Lederjacke und rauchte eine Zigarette, die er aus bereits gelesenen Zeitungsblättern drehte. Die ersten Worte, die er auf Englisch zu mir sagte, sprach er deutlich und mit feierlicher Miene.

»Wie. Geht. Es. Dir?«

»Danke, gut.« Ich hatte es geschafft, genau vier Minuten allein zu sein.

»Willst du besseres Graffiti?«, sagte der Kerl. »Ich zeige dir!«

»Danke, nein.«

»Keine Sorge. Ohne Geld. Ich möchte nur Englisch üben.«

»Vielen Dank, aber ich wäre lieber allein«, sagte ich. Mein Reiseführer hatte mich ausführlich vor eifrigen Englisch-Lernern gewarnt.

»Schönen Tag dir«, sagte er. »Mehr Graffiti: links und dann rechts, und dann fünf Minuten laufen.«

Ich machte ein paar Schritte in die angegebene Richtung, schämte mich aber sofort für die misstrauische Haltung, die ich mir schon nach drei Stunden Alleinreisen angewöhnt hatte, und drehte mich um.

»Wie heißt du eigentlich?«, fragte ich.

Er hieß Aladin, studierte Archäologie, und er konnte nicht verstehen, warum Menschen aus Deutschland ständig verreisen wollten, wegfahren aus diesem Land, in dem es an nichts fehlte. Noch weniger verstand er, warum ich morgen in ein ägyptisches Dorf fahren wollte, um dort nach Liebesgeschichten zu fahnden. »Einfache Menschen – einfache Geschichten«, sagte er. »Nicht viel zu schreiben.«

Aber wenn ich schon fahren musste, dann nur mit ihm. 30 Minuten nach unserem Kennenlernen fühlte er sich schon vollkommen verantwortlich für mein Schicksal. Er würde mich am nächsten Tag um 4.30 Uhr abholen, sagte er, zu einem Trip in sein Dorf. Keine Widerrede, Bus und Taxi seien viel zu gefährlich.

Warum sie gefährlicher sein sollten als diese Schrottkiste, die jetzt mit Formel-1-Geschwindigkeit über löchrige Straßen brettert, fällt mir nicht mehr ein. Im Rückspiegel ist Kairo nur noch ein Nadelkissen voller Minarette. Noch mehr Sorgen bereitet mir Aladins gehetzter Gesichtsausdruck. Als ich 15 Minuten zu spät zur verabredeten Stelle kam, erhob der gestern noch so sanfte Kerl sogar seine Stimme. In Dörfern ticken die Uhren doch langsamer, oder? Warum hetzen wir dann hin wie Frankfurter Manager, die zum morgendlichen Jour fixe zu spät dran sind?

Ein paar Kilometer hinter der Stadtgrenze macht das Auto eine Vollbremsung.

»Schnell! Raus! Sonst verpassen wir sie!«, schreit Aladin. »Scheiße! Ausgerechnet hier!«

Ich mache die Tür auf, trete auf eine leere Waschpulverpackung und stelle fest, dass um uns herum eine Müllhalde ist. Ich verstehe gar nichts mehr.

»Himmel! Schau auf den Himmel!«, brüllt Aladin.

Und dann verschlägt es mir den Atem. Die Sonne taucht langsam hinter der Müllhalde auf und schwimmt im Himmel wie eine Blutorange in einer Schüssel Milch. Ich habe noch nie eine so rote Sonne gesehen.

Aladin setzt sich auf einen kaputten Kühlschrank, zieht ein langes Gesicht und sieht einem Entführer überhaupt nicht mehr ähnlich.

»Ich wollte dir den Sonnenaufgang an einem schönen Ort zeigen, aber bis dahin sind es noch zehn Kilometer. Du kamst ja zu spät«, sagt er. »Und jetzt …! Ach! Alles Müll. Romantik kaputt.«

Er kickt einen leeren Milchkarton weg und kratzt sich die flaumigen Wangen.

»Ist dir immer noch schlecht?«, fragt er dann. Ich schäme mich in Grund und Boden für meine Angst.

»Ich, also … Jedenfalls: Danke!«

In der Ferne heult ein Hund.

Wir fahren noch 20 Minuten mit dem Auto, dann verabschiedet sich unser Chauffeur, der sich als Aladins Onkel entpuppt. Für die Weiterfahrt halten wir einen Lastwagen an – natürlich kennt Aladin den Fahrer – und tuckern auf der Ladefläche weiter ins Dorf.

Man sagt, es sei so ruhig auf dem Land. Das ist Blödsinn. Es gibt Hahnengeschrei, Mopedmotoren, Ziegengemecker. Als wir gegen sechs Uhr ankommen, ist die Siedlung so wach, wie ein verpenntes Dörfchen nur sein kann. Für den Reisenden, der sich einfach zurücklehnen und nichts tun will, wäre dieses Örtchen ideal – es gibt hier einfach nichts zu tun. Esel ziehen Schubkarren, Palmen wiegen sich im Wind, ein Flüsschen fließt träge vorbei: braune Soße mit Plastikklumpen. Die Häuser sehen aus, als würden sie in Slow Motion wetteifern, welches zuerst zusammenbricht. Hier und da sind kaputte Möbel und Baumaterialen in der Landschaft verstreut, wie Überreste des Umtrunks einer höheren Macht.

»Ist es nicht manchmal deprimierend, hier zu leben?«

Aladin lächelt bis über beide Ohren, und sagt stolz, als würde er mit einer wichtigen lokalen Sehenswürdigkeit angeben: »Und ob!«

Wir setzen uns draußen vor das einzige Café des Dorfes. Tische aus Plastik, Stühle aus Plastik, Teller aus Plastik. Nach Benutzung werden sie abgespült und weiterverwendet. Je nach Bedarf ist das Café eine Shisha-Bar, ein Eckladen, Restaurant, Festsaal oder Teestube. Am Wochenende wird getanzt. Um sechs Uhr morgens gibt es gebratene Kartoffeln, Eier, dünne Brotfladen, eingelegtes Gemüse und frisch frittierte Falafel; die Kichererbsen dafür stampft ein kräftig gebautes Mädchen in einem riesigen Steinmörser. Und Tee gibt es natürlich auch, literweise starken, süßen Tee aus bauchigen Gläsern.

Aladin kommt aus dem Hallo-Sagen kaum heraus – als einer der wenigen im Dorf, die zur Uni gehen, ist er eine lokale Berühmtheit. Er muss mit jedem Tee trinken und zwei Mal Haschisch rauchen.

Ich trinke mein fünftes Glas Tee, gucke das Dorf an und das Dorf guckt mich an. Frauen mit Backblechen voller Brot auf dem Kopf und unzähligen Tüten in ihren Händen finden dann doch zwei Finger, um mich in die Backe zu zwicken. Ein Esel probiert mein grünes Kleid. Arbeiter mit entblößten Oberkörpern, die zu zwanzigst auf der Ladefläche eines Lastwagens irgendwohin gekarrt werden, drehen kollektiv ihren Kopf in meine Richtung, senken aber synchron das Haupt, sobald ich ihren Blick erwidere. Im Gegensatz zu Kairo traut sich niemand, mich anzusprechen.

Außer einem ziemlich schmutzigen Krabbelkind. Das robbt auf dem Boden herum und isst unter der Aufsicht seines Vaters, des Sohns des Cafébesitzers, ein paar Staubflusen von der Erde. Omar heißt das Kind, Hossam sein Papa. Er ist 21 und verheiratet mit dem Mädchen, das vorher die Kichererbsen stampfte. 17 Jahre ist sie, oder 18, so genau weiß es Aladin nicht. Wie sie heißt, weiß er auch nicht – das gehört sich nicht. Wenn er sie anspricht, nennt er sie »Frau von Hossam« oder »Mutter von Omar«. Bevor es Hossam oder Omar gab, nannte er sie »Tochter von Ahmad«. Den richtigen Namen zu kennen ist nur den engsten männlichen Verwandten und dem Ehemann vorbehalten.

Die Geschichte von Hossam und seiner Frau ist tatsächlich schnell erzählt. »Liebst du sie?«, frage ich, und Aladin übersetzt. Hossam zuckt mit den Achseln. »Sie ist eine gute Frau«, sagt er. Als er ins heiratsfähige Alter kam, hat seine Mutter ein Mädchen aus dem Dorf ausgesucht, die Tochter eines Bauern. Hossam schaute sie an und fand sie schön genug. Dann kamen die Familien zusammen und regelten die Finanzen: wie viel Hossams Familie bezahlt, was die Frau in die Ehe mitbringt, wie viel Geld der Ehefrau im Falle einer Scheidung zusteht. Zur Hochzeit kamen 500 Menschen. Anderthalb Jahre später kam das Baby zur Welt. Keine besondere Sache. So hat es Hossams Vater gemacht, so hat es dessen Vater gemacht, und so wird es auch Omar machen.

»Liebst du ihn?«, frage ich die Frau mit Aladins Hilfe. »Es geht mir gut mit ihm.« »Bist du glücklich?« Sie lacht, zwickt mich in die Backe, und widmet sich wieder ihren Kichererbsen. Dann ruft die Schwiegermutter, und sie verschwindet in den hinteren Räumen. Vielleicht fand sie meine Frage nach dem Glück zu hochtrabend. Vielleicht ist diese Frage hier auch gar nicht so wichtig. Nicht, dass man in diesem Dorf nicht lacht oder weint und generell das Erste vorzieht. Aber vielleicht ist Glück hier nicht das größte Kriterium, nach dem man sein Leben beurteilt. Vielleicht macht man sich hier nicht so viele Sorgen wie bei uns, nicht das Maximum aus seiner Zeit auf der Erde zu quetschen. Glück ist hier nichts, wonach man sucht; nichts, was man vom Leben einfordert. Man nimmt das Leben wie es kommt, als etwas Gottgegebenes. Man macht seine Arbeit, das Frühstück am Morgen, das Mittagessen, ein Tag vergeht, eine Nacht, man stampft Kichererbsen, kocht Tee, ein weiterer Monat ist vorbei, ein weiteres Kind kommt, dann noch eins, die Enkelkinder, die Zukunft, der Tod. Das Flüsschen treibt Liter um Liter brackige Soße vorbei. Es scheint so einfach: Mann und Frau, vereint bis ans Lebenende, egal was kommt und wer was verbockt. Ich will nicht das Leben führen, das sie führt, aber manchmal wünschte ich, ich würde wollen, was sie will. Das Leben scheint aus dieser Perspektive irgendwie einfacher.

Vielleicht fehlt mir aber auch die Fähigkeit, mich in dieses Leben mit all seinen Härten zu versetzen, und der Wortschatz, genauer nachzufragen. Ich hätte Hossams Frau so gerne so viele Fragen gestellt. Ob sie verliebt ist. Ob sie jemals verliebt war. Ob sie gelacht oder geweint hat, als sie erfuhr, dass Hossams Familie der Heirat zustimmte. Aber sie flitzt schon wieder durch die Küche.

»Gibt es einen höflichen Weg, sie zu fragen, ob sie Angst hatte, das Bett mit einem Mann zu teilen, dessen Namen sie kurz zuvor noch nicht einmal kannte?«, frage ich Aladin.

»Wieso ist das was Besonderes? Ich habe gehört, dass man bei euch den Namen manchmal auch danach nicht weiß«, sagt Aladin.