Teheran: Ghazal und Ali – die Welt drinnen, die Welt draußen
Als das Flugzeug in Teheran landet, hängt mein Herz immer noch in der Luft, in 10 000 Metern Höhe. Die Passkontrollminuten sind die längsten Minuten der Welt; das Gesicht des dicken Grenzbeamten: undurchdringlich. Zwei Kohleklumpen, gepresst in ein Stück blassen Teig.
Der Mann hätte gute Gründe, mich nicht in den Iran zu lassen. Ich bin Journalistin. Ich war schon einmal in Israel – auch wenn er den Einreisestempel nicht sieht, weil ich danach einen neuen Pass bekommen habe. Ich übernachte bei Kenan3, und auch das macht mich verdächtig. Erstens habe ich ihn über Couchsurfing.org kennengelernt (laut den Warnungen des Auswärtigen Amts ist es vorgekommen, dass Reisende »die ihre Unterkunft in Iran über soziale Netzwerke im Internet organisiert hatten, von den iranischen Behörden überprüft und um sofortige Ausreise gebeten« worden sind). Zweitens ist er ein Mann (und es muss »beim Umgang mit iranischen Frauen oder Männern in der Öffentlichkeit mit Polizeikontrollen gerechnet werden. (…) Nach iranischem Verständnis unzüchtiges Verhalten wird streng geahndet; teilweise ist es mit der Todesstrafe bedroht.«)
Doch der Beamte blättert nur schläfrig in meinem Pass. Es ist fünf Uhr morgens. Die Augen, die mir noch vor einer Sekunde so misstrauisch schienen, sehen einfach nur müde aus. Er verlangt nicht nach der Buchungsbestätigung des Hotels, das ich alibimäßig reserviert habe. Keine Fragen, was ich im Iran vorhabe. Kein zweiter Blick auf mein Gesicht, das ich mit einem Kopftuch eng umwickelt habe, sodass kein unzüchtiges Härchen hervorblitzt.
Nur ein Abschiedsgähnen, so groß, dass ich bis in seinen Dickdarm sehen kann.
Und der ersehnte Stempel.
Dann landet endlich auch mein Herz.
Ich bin im Iran. Einem Land mit einer langen Liste von Verboten: Alkohol trinken. Fahrrad fahren. Öffentliche Gebäude fotografieren. Nackte Haut zeigen, wenn man eine Frau ist, abgesehen von Gesicht und Handgelenken. Iraner dürfen »über das normale Maß hinaus« nicht mit Ausländern in Kontakt treten, was auch immer das heißen mag.
Ich laufe noch ein wenig im Zickzack auf dem Flughafengelände herum, wie in einem B-Movie über Spione, um einen eventuellen Beschatter abzuhängen. Mein konspiratives Manöver wird etwas davon beeinträchtigt, dass mir ein Rudel Taxifahrer im Zickzack hinterherläuft. Einem von ihnen ergebe ich mich schließlich, gestehe Kenans Adresse und lasse mich dorthin abführen.
Hinter der staubigen Fensterscheibe ziehen staubige Straßen vorbei. Würfelhäuser flimmern in der Hitze, und dann und wann zieht ein Baum in der Farbe von getrocknetem Popel vorbei. Und überall Autos. Ein Meer von hupenden, stinkenden Autos. Im Reiseführer steht: »Während Esfahan oder Persepolis die Seele des Irans sein könnten, ist Teheran unbestritten sein großes, lautes, chaotisches, dynamisches, hässliches Herz.«
Eine Stunde später trinke ich Tee aus Kenans SpongeBob-Tasse und weiß – alles wird gut gehen. »Na, Schiss gehabt?«, fragt er. Ich schüttle den Kopf und werde rot. Kenan grinst. Seit einer Woche beantwortet er fast täglich meine panischen E-Mails und beschwichtigt, dass in seinem Land alles weniger gefährlich sei, als es scheint. »Normale Iraner haben nichts mit den Spinnern von der Regierung zu tun«, sagt er.
Vielleicht hat er recht: Schon am Flughafen habe ich Paare gesehen, die sich zur Begrüßung in den Armen lagen, Facebook kann man problemlos über VPN erreichen, und der Alkohol ist immer nur einen Anruf entfernt – man muss lediglich die Nummer des »Alkoholtaxis« wählen, das die gewünschten Getränke dann bis vor die Tür fährt. Kenan braut sogar sein eigenes Bier, im Esszimmer, das gleichzeitig das Unterrichtszimmer ist. Die Wirtschaftslage ist gerade sehr mies, daher muss er drei Jobs gleichzeitig stemmen: als Englischlehrer, Ingenieur und Filmkritiker. Sein regulärer Arbeitstag beginnt um 6.30 Uhr und endet um 19.00 Uhr. »Kommst Du allein klar?«, fragt er, bevor er geht, und ich nicke und höre gar nicht mehr auf zu nicken.
Nachdem die Tür hinter Kenan ins Schloss fällt, macht sich die schlaflose Nacht im Flugzeug bemerkbar. Ich döse ein und träume wirre Träume von der Religionspolizei, die herausgefunden hat, dass eine unzüchtige Journalistin bei einem unverheirateten Mann übernachtet, und nun an die Tür hämmert.
»Wla-dah! Wla-daahh! Mach Tür auf!«
Auch nachdem ich die Augen öffne, bleibt das Klopfen. Ich wage kaum zu atmen.
»Ich Freund Kenan!«, sagt die Stimme im Flur. Im Türspion sehe ich eine zierliche Frau um die 30. Sie hat schwarze Knopfaugen und eine Püppchennase, ihr Kopftuch liegt locker auf den kurzen schwarzen Haaren. Als ich mein Auge an den Türspion halte, hält sie von der anderen Seite eine Schüssel hin. »Frühstück!«
Das Frühstück heißt Kashk E-Bademjan, eine Art Auberginenaufstrich. Und die vermeintliche Religionspolizei heißt Ghazal – sie ist eine Nachbarin, die Kenan damit beauftragt hat, seinen übernervösen Gast zu babysitten.
Ghazals Gedankenzüge fahren auf ruckeligen englischen Gleisen, aber dennoch mit der Geschwindigkeit eines ICE. Ich werde sofort mit Essen, Instantkaffee und Instantliebe versorgt und zu ihr nach Hause eingeladen. Die Wohnung liegt direkt gegenüber, trotzdem muss ich ein Kopftuch überziehen, als wir rüberhuschen – wegen der wachsamen Nachbarn, die am Türspion lungern.
»Miss Germany! Willkommen!«, sagt Ghazals Freund Ali und trommelt einen Begrüßungswirbel auf seiner Plauze. Danach ist sein Englischwortschatz erschöpft. Dafür, dass wir uns kein bisschen verstehen, verstehen wir uns super. Ali verkauft Autos und spielt in einer traditionellen iranischen Band. Unter der Halbglatze, hinter der dicken Brille verbergen sich schelmische Koboldaugen. Seine Gesichtsteile sind disproportional und stehen irgendwie jeder für sich. Aber wenn Ali lacht – und das tut er oft – rücken sie an die richtige Stelle und ergeben ein Ganzes.
Außer ihm übernachten Ghazals Schwester Nasrin und deren Freund Amin gerade in der Wohnung. »Ich dachte, im Iran dürfen Unverheiratete nicht zusammenwohnen«, sage ich. »Möglich, möglich«, sagt Ghazal und reibt Daumen und Zeigefinger. Soll heißen: Wenn man genug zahlt, dann geht das. Die Mieten für Paare wie Ali und sie sind oft doppelt so hoch wie die verheirateter Paare. Und die Todesstrafe? Ghazal winkt ab. Die Sittenpolizei klingelt manchmal tatsächlich an der Tür – ohne Durchsuchungsbefehl dürfen sie aber nicht eintreten. Und bis sie einen besorgt haben, ist der Liebste mit seiner Zahnbürste längst über alle Berge.
Ghazal ist Sängerin – kein einfacher Beruf im Iran: Frauen dürfen nur vor einem weiblichen Publikum und als Teil eines Chors auftreten. Eine einzelne Frauenstimme, die einem Frauenkörper zugeordnet werden kann, würde bei den Männern unsittliche Reaktionen hervorrufen. Auf den Musikvideos, die im Internet kursieren, schminken Sängerinnen ihr Gesicht bis zur Unkenntlichkeit oder tragen riesige Sonnenbrillen. Niemand soll sie erkennen. Aufnahmen und Auftritte finden im Untergrund statt. Als Ali Ghazal zum ersten Mal im Aufnahmestudio sah, drohte er ihr im Scherz, sie zu verklagen, wenn sie seine Einladung zu einem Abendessen ausschlägt.
Ich würde die Geschichte gern weiterhören. Aber Ali und Amin haben schon ihre Instrumente für ein Willkommensständchen ausgepackt. Ali spielt Daf – eine Art flache Riesentrommel, die nur auf einer Seite mit Fell bespannt ist. Amin spielt Setar – ein Zupfinstrument mit einem langen Hals. Ich mag persische Musik, in der die Traurigkeit und die Freude dieser Welt gespeichert zu sein scheinen. »Wie das Leben«, sagt Amin. »Wie die Liebe.« Dann küsst er seine Freundin.
Ghazals Wohnzimmer beherbergt die Welt, wie ich sie kenne. Aber Hinter der Türschwelle befindet sich die Islamische Republik Iran. Um rauszugehen müssen Ghazal, Nasrin und ich Jeans anziehen und darüber einen Manteau – ein mantelartiges Oberteil, das unsere Kurven verhüllt. Ich kämme meinen Pony streng zurück und binde das Kopftuch eng um den Kopf, wie eine Sturmhaube. Ghazal und Nasrin lachen mich aus und zupfen Haare hervor: Jede Strähne ist Protest. Die Regierung fordert, dass Frauen unsichtbar bleiben. Vielleicht sind sie deswegen so stark geschminkt wie im Kabuki-Theater. Vielleicht entspricht es auch einfach dem iranischen Schönheitsideal. Ghazal und Nasrin tragen Skinny Jeans unter ihren knappen Manteaus, die sie extra in der Kinderabteilung gekauft haben, damit sie eng sitzen. Mit unbedecktem Kopf nach draußen zu gehen – das würden sich aber selbst die Mutigsten nicht trauen.
Und auch die Sonne hat sich verschleiert – mit Abgaswolken. Um zwölf Uhr ist die Stadt eine Autolawine, die mit gefühlten drei Stundenzentimetern vorankriecht. Ali raucht, flucht, raucht, flucht. Die Autos hupen. Anderthalb Stunden später sind wir am Basar angekommen – einem Paradies von Gewürzen, Granatapfelbergen, Teppichen und preisgünstigen »Chanel«-Taschen von »Louis Vuitton«. Viele Mädchen recken stolz ihre Nasen in die Höhe, über denen breite Pflaster kleben. Operierte Nasen im »Europa-Style« seien nicht nur schöner, erklärt Ghazal, sondern auch ein Wohlstandsbeweis. Eine Schönheitsoperation, könne man, anders als die »Markentaschen« auf dem Basar, nicht faken.
Ich bekomme zwei neue, halb durchsichtige Kopftücher geschenkt und eine Tüte Goudje – unreife, grüne Pflaumen, die die Iraner mit Salz bestreuen und unaufhörlich essen, wie Kühe das Gras. Danach gibt es eine dreistündige Stadtrundfahrt im Stautempo bei 37 Grad. Um sieben werde ich an Kenan übergeben.
Das ist die Blaupause für die nächsten fünf Tage: Frühstück, Tee, Goudje, Musik, Goudje, Stadtrundfahrt, Goudje, Hitze, Goudje, philosophische Gespräche mit Kenan. Ich schaffe es kein einziges Mal, allein auf die Straße zu gehen oder selbst zu bezahlen. Der Gast ist König. Und bedarf daher einer königlichen Bewachung und Betreuung. Privatsphäre, die gütigere Schwester des Alleinseins, kennt man hier nicht. Alleinsein ist für Perser das Traurigste, was einem Menschen zustoßen kann. »Allein im Iran«, erklärt Ghazal, »ist ein bisschen wie tot.«
Ich bin gefangen zwischen unendlicher Dankbarkeit für die Gastfreundschaft, die ich niemals werde zurückzahlen können – und unendlicher Genervtheit. Ein Gefühl, das ich in dieser Form nur gegenüber meinen Eltern kenne. Egal wie früh ich aufstehe, Ghazal steht fünf Minuten später vor der Tür. Zufällig will sie immer genau dahin gehen, wohin ich an diesem Tag gehen will: ins Teppichmuseum, in den L†leh-Park, ins Museum für zeitgenössische Kunst, sogar zur Damentoilette muss sie, wenn ich auch muss. Jeden Abend falle ich um neun Uhr auf Kenans Sofa und schlafe traumlos, ausgelaugt von Stadttouren bei 40 Grad unter zwei Schichten Kleidung und drei Zentimeter Schminke. Ghazal und Nasrin bestehen jeden Tag darauf, mich anzumalen: »Im Iran Frauen dürfen zeigen allein Gesicht. Deshalb muss besonders schön sein.«
3 Alle Namen in den Iran-Kapiteln sind geändert, um die Menschen, die mir so viel Gastfreundschaft entgegengebracht haben, nicht in Gefahr zu bringen.