Kaspisches Meer: Der Ganzkörperbikini

Als ich erzähle, warum ich zu spät zu meiner eigenen Party komme, sind alle ein bisschen erschrocken, aber nachdem ich versichert habe, dass mir nichts Schlimmeres passiert ist, lächelt Ghazal sogar. »Du bist richtig Iran«, scherzt sie. Von der Sittenpolizei angehalten zu werden sei hier neben Stau die häufigste Ausrede fürs Zuspätkommen. Und was meinen Begleiter angeht: Bestenfalls schafft er es, die Beamten zu schmieren, schlimmstenfalls drohen ihm eine saftige Geldstrafe oder ein paar Nächte in der Zelle.

Es ist 20.30 Uhr, und ich bin der letzte Gast, der noch fehlte. Ich habe noch nie gesehen, dass eine Party, die laut Einladung um 20 Uhr beginnt, eine halbe Stunde später bereits voll ist. In Berlin lädt man die Leute für neun Uhr ein, und vor Mitternacht ist keiner da, außer dem leicht seltsamen Cousin, der gerade aus Göttingen zu Besuch ist. Im Iran ist das Fest raketenschnell in vollem Gange: Zu einer Party, die jede Minute aufgelöst werden kann, kommt man lieber pünktlich – und nutzt jede Minute. Rumstehen ist out. Niemand lehnt lässig mit angewinkeltem Bein an der Wand, kaut gelangweilt an der Innenbacke und mustert die anderen. Für Coolness ist keine Zeit. Vielleicht hat man sie im reichen Teheraner Norden, wo die Polizei für eine runde Summe gern beide Augen zudrückt. Hier wird sofort getanzt, mit viel Einsatz, fliegenden Händen, Beinen, Haaren, Kopftüchern und stimmlicher Eigenbegleitung.

Zu trinken gibt es eine Unmenge starken Schwarztee und Aragh – selbstgebrannten Rosinenschnaps. Jedes Mal, wenn es an der Tür klopft, gefrieren alle mitten in der Bewegung, wie bei einem Kinderspiel. Dann lösen sie sich in rauschhafter Freude auf, weil es doch nur einer ist, der kurz Zigaretten holen war.

Stünde die Polizei vor der Tür, würden die Frauen den Alkohol ins Klo kippen. Die Männer würden aufs Dach klettern und von da aus auf das nächste und das nächste, bis sie in Sicherheit wären. Eine Party ist ein Delikt, weil nicht verwandte Frauen und Männer in einem Raum sind, ohne einen triftigen Grund, außer Spaß zu haben. Ist Alkohol im Spiel, verschärfen sich die Strafen.

Viele Feste werden deshalb allein vom schwarzen Tee befeuert: Alkohol ist teuer, umständlich zu beschaffen, und ohnehin trinken viele Muslime keinen.

Ich habe mich das nie richtig gefragt: Wie kommen Menschen eigentlich ohne Alkohol zusammen? Wenn ich darüber nachdenke, hat sich keines der Paare in meinem Freundeskreis an der Supermarktkasse kennengelernt. Wenn sie sich nicht ohnehin beschwipst über den Weg liefen, dann haben sie zumindest beschwipst auf einer Party zum ersten Mal geknutscht, oder nach einer gemeinsamen Flasche Wein. Wie spricht man so ganz ohne Biermut ein unbekanntes Menschenwesen an? Und wie bewältigt man mit null Promille diese meilenlangen letzten Zentimeter zwischen den Lippen?

Sicher ist eines: Auch im Iran ist Alkohol ein gutes Schmiermittel fürs Zwischenmenschliche. Und auch im Iran leert sich die Party, sobald es nichts mehr zu trinken gibt. Um halb drei Uhr morgens ist der Aragh alle, um drei sind nur Kenan, Ghazal, Ali, Nasrin und ich in der Wohnung. Und alle haben Lust weiterzumachen. Das Alkoholtaxi ist zu teuer, und wir sind voller Tatendrang. Fünf Minuten später ist es beschlossen: Wenn der Alkohol nicht zu uns kommt, fahren wir zum Alkohol. Ali hat einen Freund, der Wein anbaut. Er wohnt in einem Sommerhaus am Kaspischen Meer.

»Am Kaspischen Meer?«, frage ich. »Ist das nicht vier Stunden entfernt?«

»Am Wochenende eher fünf«, sagt Ghazal. »Wenn Ali fährt, zweieinhalb.«

Alle finden die Idee super. Der Preis des Benzins ist im Iran, verglichen mit einer Flasche Wodka, ein Kleckerbetrag. Und was mich angeht: Einerseits gibt es nach fünf Tagen im Aschenbecher Iran gar nichts, auf das ich mich mehr freuen würde als auf das Meer. Andererseits gibt es eine Reihe schwergewichtiger Aber.

Aber 1: Polizeikontrollen, die unverheiratete Urlauberpärchen aus dem Verkehr ziehen. Aber 2: Alis Auto hat kein Nummernschild. Aber 3: sein Kamikaze-Fahrstil. Im Iran gibt es nur zwei Fahrmodi: Kriechen und Rasen. Die Zeit, die Iraner in Staus verlieren, holen sie auf, sobald die Straßen frei sind. Und wir haben fünf Tage im Stau verbracht.

»Komm«, sagt Kenan. »Man lebt nur einmal.«

»Eben!«, sage ich. »Eben!«

Mein einziges Leben scheint plötzlich zu wertvoll, um es aufs Spiel zu setzen.

Natürlich steige ich trotzdem ins Auto. Die Straßen sind frei, und schon bald haben wir die Stadtgrenze hinter uns gelassen. Die Polizei lässt uns in Ruhe. Der Sonnenaufgang — ein Himbeersorbet. Ich schließe die Augen. Ich bin glücklich.

Als ich sie wieder öffne, kommt ein Laster direkt auf uns zu, weil Ali auf der Gegenfahrbahn überholt. Ich schreie. Ali lacht. Als ich versuche, einen Gurt anzulegen, ist er beleidigt.

Wir rasen mit sehr deutschen Geschwindigkeiten über sehr undeutsche Serpentinen und Schlaglöcher, aber außer mir scheint es niemanden zu stören. Ich tröste mich damit, dass Ali ein himmlischer Fahrer sein muss, wenn er mit einem solchen Fahrstil das dreißigste Lebensjahr erreicht hat, kralle mich am Türgriff fest und schlafe vor Angst ein. Als ich aufwache, sind die sandgelben, glatzigen Berge moosgrünen Laubwäldern gewichen. Es sieht ein bisschen aus wie in der Schweiz. Die Sonne kriecht langsam über den Wäldern hoch, die Luft ist feucht. Und: wow, Reisfelder! Im Iran! Es ist, als hätten wir drei Vegetationszonen in einer Stunde durchquert. Vielleicht haben wir es wirklich: Bei Alis Fahrgeschwindigkeit wundert mich nichts mehr.

Das Sommerhaus verfügt über zwei Stockwerke, drei Schlafzimmer und sogar europäische Toiletten (also eine richtige Kloschüssel statt eines Klolochs). Alis Freund hat schon Schaschlik zum Frühstück vorbereitet – eine Männeraufgabe, erklärt Ghazal.

Abspülen ist eine Frauenaufgabe. Die Männer setzten sich vor den Fernseher, um sich Musikvideos mit leicht bekleideten Mädchen auf einem Satellitensender anzuschauen, der irgendwo in den USA von Exiliranern ausgestrahlt wird. Ghazal und Nasrin räumen den Tisch ab. Ich bin bis zu den Ellenbogen im Schaumwasser mit Bratfett versunken und schrubbe eine Pfanne, als Amin mir auf die Schulter tippt. Ich freue mich auf Hilfe. Aber er lächelt mich nur breit an und sagt: »Ich hoffe, du bist nicht müde!« Dann dreht er sich um und geht.

Kenan muss die Empörung um die Geschlechterrollenverteilung auf meinem Gesicht gesehen haben. Er erklärt: Amin wollte sich nicht lustig machen, sondern höflich sein. Chaste Nabaschid – »mögest du nicht müde werden« – ist ein traditioneller Gruß an alle, die man bei der Arbeit antritt. Es ist Taarof, ein System der formalisierten Höflichkeit im Iran.

Nach dem Frühstück gehen wir satt und übernächtigt zum Meer. Es ist Mai, und die Absperrung zwischen dem Männerstrand und dem Frauenstrand wurde noch nicht errichtet. Das heißt, die Geschlechter müssen gemeinsam einen Strand benutzen. Und das wiederum heißt: Die Männer springen in Unterhosen ins Meer; Ghazal, Nasrin und ich laufen an der Wasserkante entlang und werfen sehnsüchtige Blicke aufs Wasser, wie Fischerfrauen in Erwartung ihrer Helden auf hoher See. Theoretisch dürfte ich in Jeans, Manteau und Kopftuch schwimmen, bezweifle aber den Spaßfaktor.

Stattdessen gehe ich mit Kenan in der Siedlung spazieren. Die Häuschen sind nach letzten Standards ausgebaut. In einer Bude kann man Schnorchel, Neoprenanzüge und andere Ausrüstung leihen. Ich werfe einen Blick hinaus aufs Meer, auf die Wakeboards und Motorboote. Und dann auf die Mütter im Tschador, die mit besorgten Gesichtern an der Wasserkante entlanglaufen und nach ihren badenden Kindern rufen. Wieder fängt Kenan meinen Blick auf: »Mit einem Fuß in der Vergangenheit und dem anderen ständig nach vorne schreitend ist der Iran wahrlich ein Land, das sich ständig im Kreis dreht.«

Ich verstehe, was er meint. Der Iran ist wie ein furchtbarer Mensch, der geniale Musik schreibt: großartig und abartig zugleich. Ja, ich glaube allmählich, der Iran ist das großartigste abartige Land der Welt. Hier gibt es die gastfreundlichsten Menschen, die ich jemals getroffen habe, diese traurig-glücklichen Melodien, atemberaubende Natur, wunderschöne Gedichte und Kashk E-Bademjan.

Andererseits habe ich vier Stunden Todesangst in Alis Auto gelitten und wurde dafür nur mit 15 Minuten nassen Füßen entlohnt – wegen der Geschlechtstrennungsgesetze.

Und da habe ich den Rückweg noch nicht eingerechnet.