Auf dem Weg in die Hauptstadt ist es, als würde ganz Teheran von einem Ausflug ans Meer zurückkehren. Stau. Kriechmodus. Noch 120 Kilometer bis Teheran. Anderthalb Stunden später sind es immer noch 107 Kilometer. Am 98. Kilometer kommen wir für eine Weile völlig zum Stillstand. Die Sonne knallt auf das Blechdach. Ich schwitze leise vor mich hin und vermisse meinen Freund.
In Deutschland ist jetzt Sonntagnachmittag, er spielt wahrscheinlich gerade schief Gitarre. Seit drei Wochen wacht er ohne mich auf, schläft ohne mich ein und tut vor allem eines: Er fehlt. Vor drei Wochen trennten uns drei Straßenbahnhaltestellen. Jetzt sind es fast 5000 Kilometer und zweieinhalb Stunden Zeitunterschied. Früher war unser Wiedersehensgeräusch das Schlüsselumdrehen im Schloss, jetzt ist es das Tüdeldü von Skype. »Kannst du deine Kopfhörer einstecken«, fragt er immer wenn er anruft, »damit ich dir zärtlich ins Ohr flüstern kann?« Ich denke an seine Männerwohnung, voll und kahl zugleich, an seine Schuhe, die mit ihren Spitzen Viertel nach zwölf zeigen, und spüre meine Kehle enger werden. Und das hier ist erst die Generalprobe: Vor zwei Tagen ist eine Zusage gekommen – ab September werde ich an der New York University Kreatives Schreiben studieren.
Wir sind nicht die Ersten, und wir werden nicht die Letzten sein, die eine Fernbeziehung führen. Und bisher läuft die Generalprobe ganz gut: Wenn ich morgens meinen Handywecker ausmache, ist auf dem Display sein zerknittertes Morgengesicht zu sehen. Das schickt er mir, damit wir ein bisschen zusammen aufwachen. Wir schreiben uns E-Mails in der Länge von »Krieg und Frieden«, streicheln uns mit Worten, zwinkern uns mit Semikolons zu und lächeln einander mit Klammern an. Und trotzdem: An Tagen wie diesem sehe ich in jedem Gänsefüßchen zwei Apostrophe, die sich aneinanderschmiegen.
»Keine Angst«, sagt Ghazal, die meinen sehensüchtigen Gesichtsausdruck mit Existenzangst verwechselt hat. »Ali fährt so, so langsam. Ganz sicher kein Unfall.«
Weil der Sommerhaus-Freund nach Teheran mitfährt, haben wir uns auf zwei Autos aufgeteilt. Ghazal und ich fahren bei Ali mit. Weil er kein bisschen Englisch spricht, ist es ein bisschen so, als seien wir allein im Wagen.
Mir wird mit jeder Minute klarer, dass sie eine außergewöhnliche Frau ist. Ghazal spricht laut, und sie lacht laut. Sie nimmt sich den Raum, der meistens den Männern vorbehalten ist. Wenn einer uns mit seinen Augen begrabscht, spielt sie so lange Tauziehen mit Blicken, bis der Kerl aufgibt.
Ghazal ist 27. Sie kennt nur das konservative Regime, das bei Gründung der Islamischen Republik im Jahr 1979 an die Macht kam. Damals versprach Revolutionsführer Ajatollah Chomeini, das Land von der »westlichen Unzucht« zu befreien, also von außerehelichem Sex, Alkohol, Sturmhaarfrisuren, Hotpants und Lippenstift. In den folgenden Jahren wurde die Gesellschaft islamisiert, Frauen wurden gezwungen, Kopf und Körper zu verschleiern, die Schulen nach Geschlechtern getrennt.
»In der dritten Klasse sagten sie uns: Mädchen, ihr habt ein Loch. Und Männer wollen immer, immer, immer ihr Ding in das Loch tun. Alle Männer, ohne Ausnahme«, erzählt Ghazal. »Und gleichzeitig sagten sie immer, dass einer dieser Männer später das Wichtigste in unserem Leben sein wird.«
Ghazal weinte an ihrem Jashn-e Taklif – das Fest der Pubertät oder das Fest der Regeln, das iranische Mädchen mit neun in den Schulen feiern müssen. Danach müssen sie das Kopftuch tragen, Jungs meiden, am Ramadan fasten und beten.
Die Moscheen hat Ghazal so selten wie möglich betreten: »Seit ich neun war, hatte ich jeden Tag meine Tage.« Denn wenn eine Frau menstruiert, darf sie nicht in eine Moschee. Den Jungs fernzubleiben war schwieriger: Wenn ein Mädchen Sex hatte, war sie eine Schlampe, hatte sie keinen, war sie naiv oder prüde. Und außerdem war Sex ein Weg, seinen Protest gegen das Regime zu demonstrieren.
»Der Staat und Mullah machen so ein großes Ding aus … aus …« Ghazal fehlt die Vokabel, also versuchen wir es mit Körpersprache und Scharade. Sie nimmt ein Stück ihres Kopftuches in die Hände und zieht es auseinander, wie in einer Zerreißprobe.
»Stoff? Seide? Kaputt?«
»Nein«, sagt sie und wird rot.
»Kleidung, verhüllen, Kopftuch?«
»Wie Kopftuch, nur zwischen den Beinen.«
Dann dämmert es mir.
»Hymen?«
»Hymen wie ›human‹ – der Mensch? Was für ein schönes Wort für eine komische Sache!« Sie lacht und schüttelt den Kopf: »Auf jeden Fall: Das ist ein großer Unsinn.«
Mit 22 hat Ghazal beschlossen, diesen Unsinn loszuwerden. Es dauerte zweieinhalb Minuten, in der Wohnung eines Freundes, dessen Eltern im Urlaub waren.
»Ich dachte: Was, das war’s? Das ist der Grund für all die Verrücktheiten, das Kopftuch, die Frauenabteile in der U-Bahn? Dieses Ding zwischen meinen Beinen war der nutzloseste Körperteil von allen.«
»War es nicht trotzdem eine große Sache, als du es nicht mehr hattest?«
Ach, es gäbe Wege, erklärt sie. Für weniger als 100 Euro wird das Jungfernhäutchen im Iran wiederhergestellt. Aber es geht auch einfacher: Man kann eine Kapsel mit roter Flüssigkeit in die Scheide einführen, die beim Geschlechtsverkehr platzt. Das Laken ist dreckig – die Ehre der Frau rein. Manche würden sogar die Schamhaare verknoten, um es den Männern schwer zu machen, erzählt sie kichernd.
Aber was ist mit all den leicht bekleideten Mädchen im Satellitenfernsehen und den Sexsymbolen? Ist den Männern denn nicht klar, dass eine Sexbombe Sex haben muss, um gut darin zu werden?
»Klar.« Ghazal zuckt mit den Schultern. »Aber es gibt genug Idioten, die mit möglichst vielen schlafen wollen und dann eine Frau mit Kopftuch heiraten – auf dem Kopf und zwischen den Beinen.«
»Und Ali?«
»Ali ist es nicht wichtig. Wir lieben uns wirklich.«
Vom Fahrersitz grinst Ali, der gerade seinen Namen und das Wort Liebe verstanden hat.
»Ali Liebe Ghazal«, sagt er, hebt seine Arme vom Steuer und reckt beide Daumen in die Höhe.
»Wirst du Ali heiraten?«
»Wenn ich überhaupt jemals heirate – dann ihn.« Eine Hochzeit würde viele Freiheiten mit sich bringen, aber auch einige rauben: Ghazal dürfte zum Beispiel nicht mehr ohne Alis Zustimmung das Land verlassen.
Am liebsten würde sie auswandern. Ja, sie kann hier singen. Ja, sie lebt mit ihrem Freund zusammen. Aber sie will mehr: Sie will ihr wahres Leben nicht verstecken müssen.
»Manchmal wünsche ich, jemand hätte nach meiner Erlaubnis gefragt, bevor er mich in diese Welt schickte. Ich hätte gesagt: Danke, aber nein, danke.«