Schiras: Die schwierigste einfachste Sache der Welt

Darf ich ihm die Hand geben? Darf ich ihm überhaupt in die Augen schauen? Aber da hat mich Behrouz schon in eine Bärenumarmung geschlossen. Danach drückt mich Samaneh, seine Mutter. Sie zieht mein Kopftuch herunter und hilft mir aus dem unförmigen Manteau. Ihr Englisch ist zwar sehr wackelig, die Sprache der Gastfreundschaft spricht sie aber vorzüglich. Sie hat schon den Sofreh auf dem Boden ausgerollt – eine Art Tafel aus Stoff, auf der Schüsseln mit Reis und Ghormeh Sabzi stehen, dem »Grünen Eintopf« aus Lammfleisch mit einem Haufen Kräutern. Das Naan genannte Fladenbrot ist weich und weiß wie ein Wattepad und so warm, dass die Butter darauf zerfließt und durch die Löcher tropft.

Ich habe meine Gastgeber über Couchsurfing.org kennengelernt und werde drei Tage bei ihnen in Schiras bleiben. Samaneh hat ein altersloses Gesicht und eine Körperstatur, über die meine Oma zu sagen pflegt: »Ein kleiner Hund bleibt immer ein Welpe.« Ihr Sohn Behrouz ist riesengroß, hat den Schalk in den Augen und eine Kippe hinter dem Ohr. Die kohlschwarzen Haare und der Bart stehen von seinem Kopf ab wie ein düsterer Heiligenschein. Würde er nicht so oft lachen, würde er mich an die Abbildungen der Märtyrer erinnern, die im Iran überall Hauswände und Geldscheine zieren.

»Keine Angst! Ich bin kein Extremist, ich lerne nur seit Wochen für meine Medizinprüfungen!«, sagt er lachend. Behrouz schreibt morgen früh eine Klausur in Neurochirurgie, lädt mich aber trotzdem ein, bei ihm im Zimmer abzuhängen. Ich blicke fragend zu seiner Mutter. »Allah ist allwissend, und Eltern sind seine Augen auf der Erde«, heißt es in einem iranischen Sprichwort. Gehört es sich, dass wir zu zweit in einem Zimmer sind? Aber Behrouz lacht. »Mum ist cool. Wir waren letztes Jahr zusammen in Europa trampen. Und Mädchenbesuch ist in diesem Haus echt keine Seltenheit.«

Inzwischen weiß ich, dass im Iran hinter verschlossenen Türen ganz andere Regeln gelten als auf dem Papier. Die Reisewarnungen des Auswärtigen Amtes sind wie die Packungsbeilage eines Medikaments: Nach dem Lesen ist man sich sicher, dass man aus der Sache nicht lebendig herauskommt. In Wirklichkeit ist alles etwas entspannter.

In liberalen Häusern können Jungs und Mädchen ungestört unter vier Augen quatschen und sogar knutschen. Es gibt ungetraute Paare, die miteinander wohnen, und auch draußen finden sich genug lauschige Ecken. Trotzdem ist es so, als wäre ich wieder 13 und müsste noch lernen, wie die Mädchen-Junge-Sache funktioniert. Was sich gehört und was nicht, hängt sehr von der Einstellung der Familie ab: Manche iranische Frau weiß nicht, wo bei einem Tschador oben und unten ist. Andere würden ihn nie in Anwesenheit fremder Männer ablegen.

In diesem Haus scheint es niemanden zu kümmern, was die Regierung erlaubt und was nicht. Im Kühlschrank steht Bier, im Fernsehen läuft BBC, auf dem Computer sehe ich eine geöffnete Facebook-Seite – alles offiziell verboten. Behrouz murmelt medizinische Fachbegriffe, ich schreibe Tagebuch, wir machen viel zu oft Raucherpausen. Gegen Mitternacht sind die Zigaretten alle. Ich möchte neue holen, doch Behrouz will mich nicht allein gehen lassen, obwohl der Kiosk nur eine Straße weiter ist. Doch spätestens als er das »Du bist eine Frau«-Argument herauskramt, bin ich nicht aufzuhalten.

Draußen ist es doch etwas gespenstisch. Die Straßen sind leer, nur ein dicklicher Typ steht vor einer offenen Kühlerhaube und wühlt in den eisernen Gedärmen seines Autos.

»Miss Lady! Miss Lady!«, schreit er mir hinterher, als ich aus dem Laden komme. »Where’re you from?«

Ich habe die Frage so oft beantwortet, dass ich die Antwort auf Farsi kenne.

»Alman«, sage ich.

»Sex?«

»No, thank you«, sage ich. Der Typ macht ein paar Schritte in meine Richtung, und ich muss mich beherrschen, nicht loszurennen. Dann tu ich es doch und bilde mir ein, seine Schritte hinter mir zu hören.

»Erschrocken?«, fragt Behrouz nur, als ich atemlos in die Wohnung stolpere.

»Nee«, sage ich.

»Und warum sind deine Augen so groß wie Untertassen?«

Er hat recht. Ich hatte Schiss und bebe immer noch am ganzen Körper wie eine antike Waschmaschine. »Warum glauben hier so viele, nur weil europäische Frauen ungestraft Sex haben dürfen, würden sie es auch mit jedem Dahergelaufenen tun?«, frage ich.

»Du bist Ausländerin, also automatisch keine Jungfrau, also fehlt dir jeglicher Grund, nicht mit ihnen zu schlafen«, erklärt er und lacht. »Im Ernst: Es ist eher der Sieg der Hoffnung über den Verstand. In traditionellen Familien ist Sex vor der Ehe tabu, und heiraten kann man nur, wenn man genug Geld für eine Mitgift hat. Viele haben mit 25 noch kein nacktes Frauenbein gesehen. In offiziellen Filmen tragen die Frauen schon beim Aufwachen im Bett Kopftücher. Und der Westen erscheint natürlich als Hort der Sünde, wo alle Mädels mit freiem Oberkörper rumlaufen. Wenn sie dann blaue Augen und eine blonde Strähne sehen, drehen manche durch.«

Am nächsten Morgen ist Behrouz schon in der Uni, als ich aufwache. Ich fahre nach Persepolis – die über 2 500 Jahre alte Residenz der persischen Könige. Es ist atemberaubend. Vielleicht kriege ich aber auch einfach nicht genug Luft unter den zwei Lagen Klamotten bei 38 Grad.

Als ich zurückkomme, will Behrouz mir mit dem Auto die Stadt zeigen. Er trägt ein weißes T-Shirt und Jeans. Ich sehe in dem kittelartigen Mantel in den vorgeschriebenen unauffälligen Farben aus wie eine Mischung aus Putzfrau und Psychiatriepatientin.

»Können wir dafür angehalten werden, dass wir in einem Auto sitzen, ohne verwandt zu sein und beruflich miteinander zu tun zu haben?«

»Natürlich«, sagt er und tritt aufs Gaspedal. »Es ist paradox: Weil wir nicht zusammen mit Mädchen rausgehen können, im Park knutschen oder zusammen verreisen, bleiben wir zu Hause. Dort ist es langweilig, also haben wir Sex. Insofern bewirkt der ganze Keuschheitskram genau das Gegenteil.«

Wir fahren vorbei am prächtigen Bazar von Schiras, vorbei an Orangengärten, vorbei am Grabmal des großen Dichters Hafis, vorbei an rußenden iranischen Paykans, deren Vorhandensein auf der Straße ich mir nur mit der Liquidation eines Automobil-museums erklären kann.

Wir rasen vorbei an Reklameschildern mit Fruchtsäften, glücklichen Familien und Religionsführern mit weißen Rauschebärten, die aussehen wie strenge Nikoläuse. Alle paar Kilometer kommt eine Tafel mit Kriegsmärtyrern, wahlweise mit Flugzeugen oder mit Panzern, aus deren Mündungen rote Tulpen sprießen, die angeblich aus Heldenblut wachsen.

Aber wenn das Kopftuch im warmen Fahrtwind flattert, fühlt man sich eher wie in Fünfzigerjahre-Filmen, in denen Frauen beim Cabriofahren Seidenschals und riesige Brillen trugen, als in einer Islamischen Republik. Ich fühle mich sehr lebendig, sehr da und schwerelos zugleich. Endlich und unendlich. Unsterblich.

Autos mit grellgeschminkten Mädchen kommen uns entgegen, und Autos voller Jungs, die sich gegenseitig im Vorbeifahren ihre Handynummern zubrüllen. So lernt man sich also in diesem Land kennen.

Wie um mich auf den Boden der Tatsachen zu holen, referiert Behrouz über die Absurditäten der iranischen Gesetzgebung: Jungfrauen dürfen im Iran nicht hingerichtet werden; wird also eine unverheiratete Frau zum Tode verurteilt, vergewaltigt sie vorher ein Wärter. Für außerehelichen Sex drohen Peitschenhiebe. Dafür kann man bis zu vier Ehefrauen haben und unbegrenzt viele Ehen auf Zeit.

Die Sonne geht unter. Behrouz biegt in die Nour-Khan-Sand-Allee, die Hauptstraße von Schiras, und parkt sein Auto in einem Innenhof. Wir schieben uns ein paar Hundert Meter durch die Menschenlawine, dann biegen wir in ein Seitensträßchen ab. Ein zahnloser Penner schmeißt sich in einem Gebet mal zur linken, mal zur rechten Seite und schlägt seinen Kopf in gespielter Zerrissenheit gegen den Asphalt. Behrouz lacht. »Was sagt er?«, frage ich.

»Oh Gott! Oh Coca-Cola!«

In dieser Gasse gibt es unter dem Tresen alles zu kaufen, was sonst unmöglich in die Vitrinen kann. Alkohol. Dildos. Heroin. »Auch Kondome?«, frage ich.

»Nö, die gibt es gut sichtbar in jeder Apotheke.«

Anfang der Achtzigerjahre hatten iranische Frauen durchschnittlich sechs Kinder, die Bevölkerung verdoppelte sich. Seitdem ist der iranischen Regierung viel an Geburtenkontrolle gelegen.

In den zwielichtigen Läden faszinieren mich am meisten die Preisverhältnisse. Ein Fünfliter-Kanister Aragh kostet umgerechnet zehn Euro, Absolut Vodka 60 Euro, ein großes Glas Nutella kann man ganz legal für etwa neun Euro kaufen. Nur einen Euro kostet eine Pille Tramadol – ein verschreibungspflichtiges Schmerzmittel aus der Gruppe der Opioide, mit dem sich arabische Jugendliche gern zudröhnen. Behrouz kauft eine Packung davon, packt den Alkohol in eine Sporttasche und marschiert so selbstverständlich zurück zum Auto, als wären wir gerade beim Bäcker gewesen. Meine Knie klappern wie Kastagnetten, und ich bin mir sicher, dass jeder, der mir ins Gesicht blickt, sofort weiß, was wir dabeihaben.

In der Hauptstraße werden wir fast von den Menschenmassen erdrückt, müssen aber so schnell wie möglich vorbeiwieseln. Weniger wegen der Tasche voller illegalem Kram, sondern weil man uns für ein Paar halten könnte.

Es gebe in Schiras Bezirke, sagt Behrouz, in denen die Polizei lässiger sei. Welche das sind, wird per Mundpropaganda weitergegeben. Die Stimmung ist aber so wechselhaft wie Aprilwetter: Wo man gestern noch den Kopf auf dem Schoß der Liebsten ablegen konnte, kann heute schon ein unvorsichtiger Blick gefährlich sein. So richtig sicher sei man eigentlich nur zu Hause.

»Und was machen die mit den strengen Eltern?«, frage ich.

»Die zelten in der Wüste.«

Ich will natürlich sofort die Knutschorte von Schiras inspizieren. Behrouz fährt zu einem dunklen Hang, von dem man auf die ganze Stadt blicken kann. Jemand hat »Make Love« auf den Zaun gesprüht. Auf den Straßen parken doppelt so viele Motorräder und Autos wie die wenigen Häuschen Bewohner haben können. Als wir uns mit dem Handy den Weg leuchten, schreckt ein Pärchen hoch, beruhigt sich aber schnell wieder, weil sie uns für ihresgleichen halten.

Wir setzen uns ins Gras und trinken Aragh. Es schmeckt nach Rosinen und nach einer für mich bisher unbekannten Geschmacksrichtung: nach verboten. Ich schaue mich um. Man muss wahrscheinlich hier geboren sein, um trotz des Anstandskittels und Kopftuches sexy auszusehen und nicht so babuschkahaft wie ich. Die Kopftücher der meisten Mädchen thronen wie Accessoires auf ihren aufgetürmten Frisuren. Andere tragen Maghne’e – eine Art Stoffkapuze, die kein Härchen hervorblitzen lässt. Ein Mädchen auf dem Knutschhügel trägt sogar einen Tschador.

»Kann man an den Klamotten eines Mädchens ablesen, ob es sich lohnt, sie anzubaggern?«, frage ich.

»Nicht wirklich«, sagt Behrouz. »Natürlich gibt es gewisse Zusammenhänge. Aber manchmal sind die, die am wenigsten anhaben, prüder als die Verhüllten. Wie man sich anzieht, hat eher damit zu tun, was die Familie verlangt.«

»Ich stelle mir Anbandeln im Iran unglaublich kompliziert vor.«

»Quatsch. Das ist doch überall gleich: Die Liebe ist die schwierigste Sache der Welt. Und die einfachste zugleich.«