Vorwort

Die Minutenzeiger schneiden ein immer größeres Stück von unserer letzten Stunde ab. Noch zwanzig Minuten, bis ich zum Flughafen muss. Noch sechzehn Minuten. Noch fünfzehn Minuten und 56 Sekunden. 55. 54.

In drei Stunden geht mein Flieger nach Kairo. Mein Freund und ich haben uns vor dem Schellen des Weckers in seinem Bett verschanzt, unsere Körperteile verknotet wie ein Topf Spaghetti. Ein Klumpen aus Beinen, Armen, Decke, Füßen und Knubbelknien, seinen Locken und meinen Schnittlauchhaaren, ein Klumpen, der sich bald für Monate trennen wird.

Ich fahre los, um Liebesgeschichten aus aller Welt zu sammeln: Ägypten, Türkei, Iran, Kambodscha, China, Brasilien, Russland, USA. Fünf Monate, fünf Kontinente. In den Moscheen von Teheran will ich nach der Liebe suchen, in den Wolkenkratzern von New York, auf dem Basar von Kairo, am Strand von Rio de Janeiro, in der Pekinger U-Bahn, in Moskauer Studentenwohnheimen und im kambodschanischen Regenwald.

Ich habe mir schon immer gern Liebesgeschichten angehört, von Freunden, Bekannten und gänzlich Unbekannten. Irgendwann fing ich an, sie festzuhalten. Ich schrieb eine Liebeskolumne für Spiegel Online; und für jetzt.de, dem Jugendmagazin der Süddeutschen Zeitung, habe ich mit insgesamt 60 Menschen über ihre Beziehung gesprochen.

Und Reisegeschichten liebe ich mindestens genauso wie Liebesgeschichten. Seit ich in der fünften Klasse Jules Verne gelesen habe, träume ich von einer großen Expedition. Leider hat das Leben meist mieses Reise-Timing: Hat man Zeit, fehlt das Geld. Hat man Geld, fehlt die Zeit. Hat man endlich beides, irgendwann im fortgeschrittenen Rentenalter, fehlen funktionierende Kniescheiben. Zu Hause hat man Fernweh, und wenn man zum Flughafen muss – hat man keinen Bock.

Aber zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich keine Ausrede: Ich hatte genug Geld für die Flüge beisammen und genug Mut, mich von meinem Job am Büroschreibtisch zu verabschieden. Die Knie waren in Betrieb, der Rücken beschwerte sich noch nicht angesichts von Doppelstockbetten und Klappsofas.

Und trotzdem mischten sich skeptische Stimmen in den Lockruf der fernen Länder: Wie hält man sich selbst fünf Monate lang aus – so ganz ohne Aufgabe? Waren Weltreise-Individualisten wie ich nicht alle unglaublich gleich, mit ihren Ponchos und Lonely Planets? Ans andere Ende der Welt zu fahren, um sich über billiges Essen und kaputte Häuser zu freuen, das schien mir irgendwie zu wenig.

Also beschloss ich, die beiden Sachen zu vereinen, die ich am liebsten tat: reisen und über die Liebe quatschen. Wann immer es ging, wollte ich bei Einheimischen übernachten, und mit ihnen darüber reden, wie es um die Herzensangelegenheiten in ihrem Land bestellt ist. Welche Kosenamen flüstern sich Verliebte in Ägypten zu? Streiten sich brasilianische Paare darum, wie viel Prozent Fett die Milch haben soll? Und hat vielleicht ein Land in dieser Welt das Mittel gegen Liebeskummer gefunden?

Jetzt war ich ein Lonely-Planet-Individualist mit einer Minimission. Ich hatte ein Alibi fürs Gewissen.

Der Wecker klingelt wieder. Noch fünf Minuten.

»Und du bist dir wirklich sicher, dass du dir die ganze Liebessache nicht lieber aus der Nähe anschauen willst?«, fragt der Freund und deutet mit beiden Daumen auf seine Brust.

»Ganz, ganz sicher«, sage ich und schüttele den Kopf.

Der Freund verstand. Er wäre sogar mitgekommen, wenn er nicht gerade seinen ersten, sehr ernsten Krawatten-Job angefangen hätte. Er spielte nicht die beleidigte Leberwurst, sondern wälzte stattdessen mit mir Reiseführer und drehte am Globus herum, um die Länder auszusuchen (die Kriterien: zu einem Drittel – spannende Liebesgeschichte; zu einem Drittel – bin noch nie dort gewesen; zu einem Drittel – Sonnenschein). Außerdem versprach er, mir in Brasilien Gesellschaft zu leisten. Aber natürlich bemüht er sich, kurz vor dem Abschied ein wenig motzig zu sein, damit wir vom Abreisedrama abgelenkt sind.

Es sind die Momente, in denen kleine Sachen ganz groß erscheinen und große Sachen ganz klein. Weltreise, pah. Meine Welt ist in diesem Bett! Seit anderthalb Jahren teilen wir es schon. Seit anderthalb Jahren wohnt meine Ersatzzahnbürste in seiner Wohnung, und am Wochenende auch ich. Es ist ein Sonntagmorgen im Mai. Wäre es ein ganz normales Wochenende, wir würden noch schlafen, bis uns die Sonne im gardinenlosen Fenster aus dem Bett schmeißt. Wir würden aufstehen, oder auch nicht. Wir würden klumpige Pfannkuchen machen. Wir würden uns darüber kabbeln, wer das blaue Hemd tragen wird: er, der rechtschaffene Besitzer, oder ich, die mal wieder zu wenig Klamotten mitgebracht hat. Wir würden wetten, wer für zwei Euro das hässlichste Ding auf dem Flohmarkt vor unserer Haustür bekommt. Oder poppende Hunde im Park angucken. Oder einfach zusammen ausdauernd gar nichts machen.

Der Wecker klingelt wieder. Wir schmus-snoozen weiter, bis für Drama überhaupt keine Zeit mehr bleibt.

Das ist ein Teil der Strategie: Man hat keine Zeit vor Abschiedsschmerz zu sterben, wenn man gleichzeitig Strumpfhosen anziehen, Zähne putzen und überlebenswichtigen Last-Minute-Kram wie den Augenbrauenzupfer im Rucksack verstauen muss. Zusätzlich verpassen wir noch den Bus, damit es spannend bleibt.

Aber als wir endlich losfahren, verschwindet der Freund unter dem Bussitz, kramt in der Tasche, und als er wieder hervorkommt, hat er eine schäumende Flasche Sekt in der Hand. »Trink«, sagt er nur, und das ist gerade genau das Richtige. Normalerweise verstärkt Alkohol nur emotionale Grundzustände. Sekt aber walzt alles zu Euphorie platt. Der Rest der Fahrt ist getränkt von Weltuntergangsfröhlichkeit und frühlingshafter Aufbruchstimmung.

Natürlich bin ich die Letzte, die eincheckt.

»Ein schlauer Mensch hat einmal gesagt: Abschiedsworte müssen kurz sein wie eine Liebeserklärung.«

»Komm wieder.«

»Mach ich.«