Rio de Janeiro: Bianca und Louis – Liebe = Herz + Kopf + Bett
Es war Karnevalssonntag und Rio pochte wie ein riesiges Herz. Das Leben zirkulierte durch die Gassen wie Blut durch Arterien. Jede Minute wurde ein neuer Stoß von knapp bekleideten Schönheiten vor seine Füße gespült. Louis stand in der Partymenge in Leblon und schaute sich lose nach jemandem zum Knutschen um. Es war der dritte Tag des Karnevals, und er hatte erst zwei Mädchen geküsst.
Die Menge spuckte sieben Prinzessinnen in rosa Kostümen vor ihm aus. Die eine von ihnen, brünett und gebräunt, war das nicht …? Das war doch …! Er fasste ihr an die Schulter. Die Brünette drehte sich um und scannte ihn von Kopf bis Fuß, die Augen zwei Schlitze, der Mund ein Strich, der stumm fragte: »Was ist?«
Es war Karnevalssonntag, und Rio war heiß wie ein Grill. Karneval kommt vermutlich von den lateinischen Worten carne vale – »Fleisch, lebe wohl!«, weil nach den Festlichkeiten die Fastenzeit beginnt. Aber bis dahin war ganz Rio ein Fleischfest. Eingeölte Keulen, goldbraune Ärsche und Hunderttausende Männer, die nur ein Ziel hatten: comer uma mulher – eine Frau vernaschen.
Prinzipiell hätte Bianca nichts dagegen gehabt. Aber dass man ständig begrabscht wurde wie ein Türgriff! Fünf Tage ging der Karneval, aber die Männer verlangten präventiv schon einen Monat vorher eine Auszeit bei ihren Freundinnen, um über ihre Beziehung nachzudenken. Und dieses Muskelpaket mit dem nackten Oberkörper war garantiert genau so einer.
»Schwimmst du noch?«, fragte der Muskelprotz. Woher …?, dachte Bianca, aber da hatte die Menge sie schon fortgerissen. Erst wenige Sekunden später lieferte das Gedächtnis den Namen zum Gesicht. Louis aus dem Schwimmverein! Mit zehn war sie ein bisschen in ihn verknallt gewesen. Er war drei Jahre älter, der beste Sportler im Club. Doch bevor Bianca sich traute, ihm ihre Liebe zu gestehen, zog er mit seinem Vater weg. Jetzt tat es ihr leid, dass sie in der Karnevalsmenge so abweisend gewesen war.
Louis könnte sich die Haare ausreißen. Wo war denn seine Reaktionsschnelligkeit geblieben? Er war Berufssportler, verdammt, ein Fünfkämpfer, und er konnte nicht einmal ein Mädchen festhalten. Und wieso bloß war ihm damals im Schwimmverein entgangen, wie heiß sie war? Gut, sie war damals ein kleines Fröschlein gewesen, und wie alle Mädchen generell hatte er sie doof gefunden.
Zu Hause suchte er Bianca bei orkut – dem brasilianischen Facebook –, wusste aber ihren Nachnamen nicht mehr und fand sie nicht. Um neun tröpfelte eine Nachricht in seinem Postfach ein. Bianca! Sie schrieb, dass sie ihn und seine Familie in guter Erinnerung habe, entschuldigte sich für die Unhöflichkeit und schickte ihm ihre Nummer. Louis atmete ein, atmete aus, testete ein paar Mal, ob seine Stimme funktionierte, und rief sie an. Morgen werde ich mit meinen Freunden in Ipanema sein, sagte er. Sie vielleicht auch, sagte Bianca, und sein Herz machte einen Satz.
Louis’ Freunde wussten noch nichts von ihrem Glück. Eigentlich waren alle verkatert und wollten eine Pause einlegen. Er rief jeden einzelnen an, versuchte zu überzeugen, flehte, versprach, Bier auszugeben. »Ein bisschen viel Aufwand für eine Karnevalsknutscherei, oder?«, sagte einer der Kumpels.
Bianca hatte zwei Stunden vor dem Spiegel gestanden, aber dann brach das Chaos los. Die eine Freundin wollte nach Santa Teresa, die zweite auch, und die dritte war gestern mit einem Kerl in der Menge verschwunden und ging bis heute nicht an ihr Telefon. Es war wirklich ein bisschen viel Aufwand für eine Karnevalsknutscherei. Einen festen Freund wollte Bianca gerade nicht. Seit einem Jahr war sie erst Single, nach einer sechsjährigen Beziehung. Die Liebe, da war sie überzeugt, »gab es sowieso nur in Telenovelas«. Und küssen – wer fährt dafür schon ganz allein nach Ipanema? Als ein weibliches Wesen mit einem Puls und einem vollständigen Satz von Zähnen musste man fürs Knutschen nur eins tun: anwesend sein.
Am Dienstag schafften sie es endlich. Eine bloco – eine Straßenparty – im Botanischen Garten. Sie hatten sich so viel zu sagen, kamen aber kaum zum Sprechen vor lauter Trubel, Tänzern, Trommlern. Freunde, die weiterwollten, zupften an ihnen. Louis’ Schwester klingelte sein Handy heiß, weil er nicht zum Familienessen kam. Er ging nicht ran. Seine Lippen hatten Besseres zu tun.
Es wäre nicht einmal unhöflich gewesen, sich am nächsten Tag nicht mehr zu melden. »Knutschen bedeutet nichts«, erklärt Bianca. »Selbst Sex bedeutet nichts.« Für Louis und Bianca war es aber der Anfang. »Er war mir gleich vertraut«, sagt sie. »Ein Freund von damals, ein Stück Kindheit.« Sie interessierten sich beide für Sport, beide liebten den Strand und verstanden sich gut mit den Freunden des jeweils anderen. Mal schauten sie zusammen Fußball, mal feuerte sie ihn bei seinen Wettbewerben an.
Es dauerte trotzdem anderthalb Monate, bis Louis sie offiziell fragte, ob sie seine namorada sein wolle – seine feste Freundin. Er fuhr zu einem Wettbewerb nach Budapest und wollte ihr eine Bestätigung geben, dass er ihr auch in den drei Wochen treu bleiben würde. Es war keine große, glamouröse Erklärung – aber eine notwendige. Ohne ein Liebesgeständnis hätte man gar keine Rechte, man hätte eine ficar – eine Liebe light ohne Anspruch auf Treue.
So richtig verstanden, dass sie zusammen sind, hat Bianca aber erst zwei Wochen später. Am Muttertag stand um sieben Uhr morgens der Postbote mit einem Blumenstrauß vor der Tür der Wohnung, die sie gemeinsam mit ihrer Oma bewohnte. Am Sonntagmorgen! Welcher ihrer Onkel und Tanten hatte bloß die Auslieferung des Muttertagsstraußes für ihre Oma so früh angefordert, ärgerte sich Bianca und wankte zurück ins Bett. Beim Frühstück sagte die Oma: »Da sind Blumen für dich gekommen.« Und Tatsache: Den Strauß hatte Louis von Budapest aus für sie bestellt. Es waren genau zwei Monate vergangen, seit sie sich beim Karneval gesehen hatten.
»Bianca war meine erste richtige ›romance‹, mein erster richtiger Roman«, scherzt Louis. »Alles davor waren eher Kurzgeschichten.« Er hatte sich schon immer gefragt, wie sie sich eigentlich anfühlt, diese Liebe, von der alle sprachen.
»Und?«
»Ich fürchte, ich habe keine poetische Antwort darauf, außer: gut«, sagt er. »Jeden Tag wacht man auf und weiß: Es wird ein guter sein. Einfach weil es diesen einen Menschen gibt.«
Sie schreiben sich bestimmt zwanzig SMS am Tag; sehen können sie sich meist nur am Wochenende. Da beide bei ihren Großeltern wohnen, treffen sie sich eher draußen, oft schon Samstag früh. Dann gehen sie an den Strand, ins Kino oder zusammen aus. Am Ende des Jahres wollen sie zusammenziehen.
»Was ist für euch Liebe?«, frage ich.
»Wenn sich zwei Herzen verstehen«, sagt Bianca. »Und zwei Köpfe.«
»Und was ist mit den Lenden?«
»Ja, die sind natürlich auch wichtig«, sagt Bianca. »Sagen wir es so: Liebe ist 30 Prozent Herz, 30 Prozent Kopf, 30 Prozent Bett.«
»50 Prozent Herz, 40 Kopf, 10 Bett«, korrigiert Louis.
»Ach, du lügst!«, sagt sie.
»Aber so ist es doch! Wenn die Gefühle nicht da sind, ist alles andere zwecklos!«
»So ist sie, die Liebe in Brasilien«, sagt Bianca und lacht. »Der Brasilianer liebt für immer und ewig. Und am nächsten Tag liebt er eine andere. Für immer und ewig.«
»Und stimmt das eigentlich, dass die jungen Brasilianer so unglaublich viel Sex haben?«, frage ich.
»Wie viel ist viel?«, will Louis wissen.
»Die Deutschen schlafen zwei oder drei Mal die Woche miteinander. Wenn man den Studien glaubt.«
»Ha! Darüber würden wir uns freuen!«, sagt Louis. »Zwei oder drei Mal die Woche? So viel Geld fürs Motel hat keiner!«