São Luís: Renata und José – zehn Finger sind mehr als zehn Karat

Der Schweiß an meinem Kleid bildet ein Rorschach-Muster. Oder besser gesagt: Die trockenen Stellen an meinem durchgeschwitzten Kleid bilden ein Rorschach-Muster. Es ist heiß. So heiß, dass ich mir Sorgen mache, ob das Eiweiß in meinem Gehirn gerinnen kann wie ein Frühstücksei. Der Bus vom Flughafen tuckert entlang wackeliger Holzhütten; klebrig aussehende Kinder verkaufen klebrig aussehende Süßigkeiten; und jedes Mal, wenn man glaubt, dass gleich, gleich, gleich die Hochhäuser der Innenstadt erscheinen, gibt es mehr Hütten. Sie alle lösen sich langsam auf wie Sandburgen, auf die es draufgeregnet hat.

São Luís liegt etwa 3000 Kilometer nördlich von Rio de Janeiro. Gut eine Million Einwohner lebt hier. Es ist die Hauptstadt des Bundesstaates Maranhão – einem Stück Land so groß wie Deutschland, das aus Steppe und Dünen besteht und aus Mangrovenwäldern, die im Salzwasser entlang der Küste wachsen.

Überall blättert Farbe von den Häusern ab, als wollten sie aus der eigenen Haut fliehen. Bei diesen Temperaturen kann ich sie gut verstehen. Auch die Steinvillen der Altstadt verwittern majestätisch, fast als wäre Zerfall hier ein Stilprinzip. Freundliche alte Menschen zeigen fröhlich die Edelmetallsammlungen in ihren Mündern. Kinder in Unterhosen rennen herum wie aufgescheuchte Insekten. Fast sehen sie aus, als wäre das alles vom Kultusministerium inszeniert, damit Touristen authentische Fotomotive haben.

São Luís, das ist aber auch Glas, Stahl und Beton. Um zur Wohnung von Renata und José zu kommen, fahren wir an Shoppingcentern und Bürogebäuden vorbei, durch ein bewachtes Tor und dann durch ein weiteres. Dann sieht es plötzlich aus wie in Hannover, plus Palmen, plus Betonzaun drumherum.

José und Renata sind stolz auf die eingezäunte Idylle. José ist Ingenieur, Renata IT-Expertin. Sie sind 29 und 28 – nicht viel älter als mein Freund und ich. Wie wir mögen sie Reisen, Tanzen und Bier, wie wir haben sie studiert, wie wir sind sie stets bereit für Schabernack. Der Unterschied: Sie haben eine elfjährige Tochter. Joyce, riesige Augen, braun wie eine Nuss, tobt gerade unter Aufsicht des Kindermädchens auf einem Spielplatz innerhalb der Gated Community. Es fällt mir schwer, mir vorzustellen: Zwei Wesen, die kaum älter sind als ich, haben ein Wesen zur Welt gebracht, das schon Witze macht, über die man selbst lachen kann. Das seine eigenen modischen Vorstellungen hat, und ein Facebook-Profil. Mein Freund und ich haben es bisher nicht einmal geschafft, eine Zimmerpflanze großzuziehen.

Renata lächelt schüchtern aber herzlich – jedes Wort von ihr eine Umarmung. José zappelt, benutzt Arme, Beine, Kopf, Augenbrauen und Knie, um seine Geschichte zu erzählen.

Als er Renata zum ersten Mal sah, war er ein dürrer Teenager, dessen Arme aus dem T-Shirt hingen wie Fäden. Sie war eine Fünfzehnjährige im Körper einer Frau. Sogar einen Freund hatte Renata schon. Ein paar Mal sah José sie auf Partys, traute sich jedoch nie, sie anzusprechen.

Aber als Renata seine Schwester fragte, ob sie zum Fußballspielen mitkomme, trottete José den Mädchen hinterher. Und als er aufschnappte, dass mit dem Freund Schluss sei, startete er eine Offensive: Er komponierte MPB-Lieder für sie auf der Gitarre. Er flutete ihr Handy mit SMS, und als sein Guthaben aufgebraucht war, schickte er ihr Nachrichten aus dem Internet: »Heute wird der Tag sein, an dem du deiner Liebe eine Chance geben solltest.«

Renata hielt das zuerst für einen dieser Horoskop-Dienste aus dem Internet, aber als sie verstanden hatte, von wem die SMS war, musste sie so sehr lachen, dass sie Ja sagte. Sie trafen sich zum Abendessen in einem kleinen Restaurant am Strand von São Luís. José kratzte all seinen Mut zusammen und küsste sie. Zu seiner Überraschung drehte sie ihren Kopf nicht weg. Ihre Lippen lösten sich nicht voneinander, bis ein Autohupen sie aufschreckte. Josés Mutter holte ihn mit dem Auto ab. Er war 17 Jahre alt – zu jung für einen Führerschein.

Er wollte mit Renata zusammen sein, aber sie wollte nur Ficar, die leichte Liebe. Nach drei Wochen stimmte sie aber endlich zu. Acht Monate später kam ihre Tochter zur Welt.

Heiraten und Kinderkriegen standen bei Renata eigentlich nie auf dem Plan. Ihr Leben lang hatte sie sich die jungen Mütter aus der Favela mit Angst angeschaut, diese Babyfabriken, behangen mit Tüten und Sprösslingen. »Ich mag Kinder nicht einmal«, sagte Renata zu ihrer Mutter, nachdem sie von ihrer Schwangerschaft erfahren hatte. »Niemand mag Kinder«, antwortete diese. »Das heißt nicht, dass man sie nicht kriegt.« Renata weinte, die Mutter streichelte ihren Kopf und sagte immer wieder: »Alles wird gut.«

Alles wurde nicht gut, aber normal. Sie lebten von 400 Reais (umgerechnet etwas mehr als 100 Euro), die Renatas Vater zahlte, zusätzlich jobbte José für 200 Reais im Monat als Tippse in einem Büro. »Wir waren dumme Teenager. Wir haben eine Phase in unserem Leben ausgelassen«, sagt er. Die Flitterwochen verbrachten sie am Strand von São Luís. José hatte nicht einmal Geld für einen richtigen Verlobungsring. »Aber überall, wo du mit mir gingst, hieltest du meine Hand«, sagt Renata. »Zehn Finger können so viel mehr sein als zehn Karat.«

Sie dachte die ganze Zeit, dass sie noch nicht bereit war für die Hochzeit, für eine Familie. »Aber wann ist man schon bereit?« Alte Träume starben, neue wurden geboren. Als José den Master machte, blieb Renata mit Joyce zu Hause. Seit er eine Stelle als Ingenieur hat, können sie sich ein Kindermädchen leisten. Jetzt arbeitet Renata tagsüber, abends studiert sie. Manchmal bleibt sogar ein bisschen Geld übrig, um ein bisschen Jugend nachzuholen: Reisen, Hobbys, ein Zwergpudel. Im nächsten Jahr will Renata ein Auslandssemester in London machen.

»Und dann? Wollt ihr mehr Kinder?«, frage ich.

»Nein, eins ist genug«, sagen sie im Chor.

Mein Freund und ich übernachten auf dem Klappsofa im Wohnzimmer, zusammen mit dem Haushund. Am nächsten Morgen fahren wir zu den Lençóis Maranhenses, Brasiliens einziger Wüstenregion. Ja, Brasilien, der »grüne Riese«, hat tatsächlich eine. Lençóis heißt übersetzt Betttücher: Von oben soll die Sandlandschaft aussehen wie Laken, die im Wind flattern.

Die Klimaanlage im Bus spuckt, wie immer in Brasilien, eiskalte Luft aus, und wir pressen uns ineinander wie zwei Puzzlestücke. Ich frage mich, wie es sein muss, mit jemandem zusammen zu sein, den man kennt, seit man fast noch ein Kind war. Die Körper und Knochen von Renata und José veränderten sich noch, als sie anfingen, ein Bett zu teilen. Ihre Körper müssen zu Kurven und Biegungen verwachsen sein, die bequem füreinander waren.

Wir werden in Barreirinhas rausgeschmissen, einem kleinen Örtchen, wo man in einen Geländewagen nach Lençóis Maranhenses umsteigen kann. Der Jeepfahrer brettert betont waghalsig entlang der unbefestigten Straße zur Wüste, und wir kreischen brav mit.

Und dann liegt sie plötzlich vor uns, diese unmögliche Dünenlandschaft. Lençóis Maranhenses sieht tatsächlich aus wie weiße Laken, in deren Kuhlen sich Wasser angesammelt hat. Die kleinen Seen scheinen wie Inseln in einem Meer aus weißem Sand. Die Luft ist schwer und heiß, und wenn man eine der Dünen herunterrennt, kommt es einem vor, als würde man einem riesigen Föhn entgegenkommen.

Ich bin glücklich. Ich bin verknallt. In meinen Freund und in das Leben allgemein, verliebt in Brasilien, dieses ewige Land der Zukunft, das zu fett und zu hungrig zugleich ist; voller urkatholischer Sexbomben und Don Juans, die noch bei Mutti wohnen; das Land, das die größte Party der Welt feiert und eine Million Viagrapillen pro Monat schluckt.

Wie kann man die Liebe in einem Land verstehen, das aus so vielen gegensätzlichen Ländern besteht: dem Schwulenstrand in Rio; den kleinen Siedlungen im Süden, die blonder und konservativer sind als bayerische Dörfer; Dreizehnjährige in den Favelas, die mit Jungen schlafen, die noch keinen Bart haben und schon keine Zähne mehr. Ein Sexparadies ist Brasilien wohl kaum. Und was die Liebe angeht: Frei in ihren Herzvorlieben werden hier wohl nur die Reichsten und die Ärmsten sein. Die einen, weil sie alles haben, und die anderen, weil sie nichts haben – dafür aber auch nichts zu verlieren.