Das Herz ist, wo das Bett ist

Fast vier Monate habe ich aus dem Rucksack gelebt, Joghurts mit Kreditkarten ausgelöffelt, mich aus Platzspargründen mit dem Kopftuch aus dem Iran abgetrocknet, meine Socken im Waschbecken gewaschen und zum Trocknen an den Rucksack geknotet. Jetzt bin ich wieder in Berlin, nur für ein paar Wochen zwar, bevor mein Masterstudium in New York anfängt, aber trotzdem: Es ist schön, wieder blind zu wissen, wo sich die Lichtschalter befinden. Es gibt wieder eine Dusche, in der meine Haare den Abfluss verstopfen und nicht die von Fremden. Die Mitbewohnerin freut sich, mich wiederzusehen; die Zimmerpflanzen hätten lieber die Zwischenmieterin zurück. Es ist schön, wieder dort zu sein, wo mein Name auf dem Klingelschild steht.

Bloß, dass ich irgendwie nie da bin. Ich bin dort, wo der Name meines Freundes auf dem Klingelschild steht und wo sich unsere Haare im Abfluss verknoten. Eines Tages – die letzte Palme ist an Dehydrierung gestorben – stelle ich fest, dass ich mal wieder seit sechs Tagen nicht mehr zu Hause gewesen war. Und dass das Konzept »Zuhause« überhaupt sehr schwammig geworden ist. Mein Schminkzeug und meine Bücher immigrieren nach und nach in die Wohnung meines Freundes. Der Großteil meines Krempels ist zwar noch in meiner WG, aber ich kaufe schon lange nicht mehr ein, weil die Hälfe der Lebensmittel in meiner Abwesenheit schlecht wird. Wenn ich von meinem Freund komme, laufe ich verloren von einer Ecke in die andere, wie ein Hund, der nicht in den Urlaub mitgenommen wurde.

Ich solle nicht so rummemmen, sagt meine Freundin Lena: »Zu Hause ist da, wo dein Herz ist? Quatsch, zu Hause ist da, wo dein Bett ist!« Aber welches Bett ist nun meins: das, das ich bezahlt und zusammengeschraubt habe? Oder das, in dem ich öfter schlafe? Holen mein Freund und ich gerade all die Nächte nach, in denen wir in den letzten Monaten getrennt waren? Oder ist es tatsächlich passiert: der Endspurt des schrittweisen Zusammenziehens?

Wer schon mal eine Beziehung hatte, wird die einzelnen Stationen kennen: Station eins, in der man sich morgens die Haare mit seiner Gabel kämmt und sich mit seinem Rasierbalsam abschminkt. Das Übernachten passiert immer »ganz spontan«, als Nebenwirkung von Sex quasi, und es scheint anmaßend, seinen Kulturbeutel mitzubringen. Station zwei, die »Zara«-Tüten-Station, in der man seine Lotions und Unterhosen morgens und abends in einer Papiertüte hin- und herkutschiert. Das Übernachten ist zwar geplant, aber man ist sich noch nicht sicher, ob der Platz in seinem Herzen sich schon in einen Platz in seinem Zahnputzbecher übersetzt. Wer es bis Station drei geschafft hat, hat im Schrank des anderen ein eigenes Regalbrett mit sauberen Klamotten und den Lieblingsjoghurt im Kühlschrank.

Mein Freund und ich sind in Station viereinhalb, in der man mehr Nächte zusammen als getrennt verbringt und immer automatisch für den anderen mit einkauft. Aber trotzdem hat bislang keiner von uns das Zusammenziehen angesprochen. Das Gewicht der eigenen Schlüssel in der Hosentasche nahm jeglichen hypothetischen Riesenstreitanbahnungen die Schärfe. Die Mieten in Berlin waren noch vergleichsweise bezahlbar. Und Zusammenziehen, das hörte sich gleichzeitig groß und kleinlich an, nach gemeinsamem Leben, nach »nächstem Schritt«, aber auch nach Keifereien um leere Klopapierrollen und offene Zahnpastatuben.

Ich habe so etwas gesehen. In den letzten paar Jahren sind einige Freunde zu dekobesessenen Zwitterwesen verwachsen, die nur noch auf IKEA-Schwedisch miteinander redeten, dann schleichend zu genervten Mitbewohnern wurden und jetzt nicht mehr miteinander sprechen, wegen des Toasters, den sie beim Auseinanderziehen nicht aufteilen konnten.

Zusammenziehen schien wie etwas, was oft schiefging, aber trotzdem irgendwann Pflicht war. Der Autor Philipp Mattheis schreibt: »Es ist, als sei eine Beziehung ein fahrender Zug, der an bestimmten Bahnhöfen hält: Beide steigen verliebt ein und fahren los. Nach drei Monaten hält der Zug nochmals, der Schaffner fragt: ›Wollen Sie sitzen bleiben?‹ Beide nicken. Ein Jahr später taucht der Schaffner wieder auf und fragt: ›Wenn Sie weiterfahren wollen, dann müssen Sie sich bitte eine Schlafkabine teilen. Ist ein bisschen eng da und riecht schlecht, aber machen alle so. Wenn sie nicht möchten‹, sagt der Schaffner, ›dann setzten Sie sich in den Wagon am Ende des Zugs, auf dem ›Freaks‹ geschrieben steht. Wahrscheinlich müssen wir den dann aber irgendwann abhängen.‹«

Bisher fühlte ich mich recht wohl im Freak-Wagon. Ich hatte nicht wirklich Angst, auf der Strecke zu bleiben. Gelegentliche Ausflüge in die Schlafkabine fand ich zwar auch ganz gemütlich: Mein Freund und ich verbrachten die Wochenenden fast immer zusammen, wir haben schon Ferienwohnungen geteilt und Hunderte von klapprigen fremden Sofas. Und in meinem Fall wäre Zusammenziehen für die nächsten zwei Jahre eher symbolischer Art: Wegen meines Studiums würden wir hauptsächlich in meinen Semesterferien zusammen wohnen.

Doch genau die Symbolhaftigkeit der Entscheidung jagte mir vor der Weltreise Gänsehaut über den Rücken. Dass unsere Unterhosen gemeinsam ihre Runden in der Waschmaschine drehen würden war schon o.k. Aber dass meine Adresse fortan unsere Adresse sein wird, dass er mich morgens fragen würde, wann ich nach Hause komme … puh! Ich stellte mir vor, dass zusammen mit uns der Alltag in die Wohnung einzieht: Wo früher die Bässe wummerten, dröhnt samstags nun höchstens die Waschmaschine, statt kleiner Liebeserklärungen gibt es per SMS nur noch Einkaufslisten. Am allermeisten machte ich mir um ein gemeinsames Klingelschild Gedanken, unsere beiden Nachnamen nebeneinander – die Generalprobe für das Standesamt?

Doch in den letzten paar Monaten fing meine Entschlossenheit, nicht zusammenzuziehen, an zu wackeln. Viele Paare, die ich auf der Reise traf, wohnten zusammen: Hossam und seine Ehefrau in Ägypten, Kian und Samira im Iran, Benson und Nan in China, Renata und José in Brasilien. Mir war schon klar, dass sie nicht deswegen zusammengezogen waren, weil sie es nicht abwarten konnten, gemeinsame Pfannen zu besitzen, sondern weil es oft die einzige Möglichkeit war, bei den Eltern auszuziehen.

Und trotzdem: Anstatt sich alle Möglichkeiten offenzuhalten, entschieden sie sich füreinander. Sie waren glücklich trotz Abwasch, Alltag und Socken. Sie waren bereit, den anderen in seiner Ganzheit zu akzeptieren, mit seinem Schnarchen und den Badezimmergeräuschen. Sie hatten keine Angst davor. Vielleicht hat meine Oma recht. Vielleicht ist es für eine erwachsene Liebe nötig, mehr Haushalt zu teilen als ein Festivalzelt. Nicht, dass ich die Beziehung meiner Großeltern nachleben will (oder kann), aber ein bisschen recht hat sie schon: Liebe ist mehr als eine ephemere Liebeserklärung. Liebe, das ist tatsächlich auch Klopapier. Und wenn man ständig nur Sahnehauben frisst, davon wird einem auch schnell schlecht.

Bis zu meinem Flug in die USA bleiben zwei Wochen. Ich bin gerade dabei, 25 Jahre meines Lebens in Kartons zu verstauen, als mein Telefon klingelt: Oma. Die üblichen drei Fragen in der üblichen Reihenfolge: »Lebst Du?«, »Was hast du gestern gegessen?« und »Hat er endlich gefragt?« Die Antworten sind gut einstudiert: »Ja.«/Kalorienhaltige Halblüge./Und: »Nein, er hat mir noch keinen Antrag gemacht.« Oma kann nicht verstehen, dass jemand, der seit mehr als anderthalb Jahren einen Freund hat, sich noch keine Gedanken um seine Hochzeitsfrisur macht. Zu meinem letzten Geburtstag hat sie mir Porzellanfiguren für die Hochzeitstorte geschenkt. »Eieiei«, sagt sie jetzt. »Und wie macht ihr das, wenn du so weit weg bist? Ohne Garantien? Ohne einen Verlobungsring?« Schon will ich ihr antworten, dass ich kein Zugvogel bin, der beringt werden muss, bevor er in die fernen Länder zieht. Aber dann platzt es doch aus mir heraus: »Also gut, er hat gefragt«, sage ich. »Ob ich meine Kartons und meine Möbel bei ihm unterstellen will.«

»Oh, ihr zieht zusammen?!«, sagt Oma entzückt.

»So ähnlich«, sage ich.

Es war eigentlich geplant, dass ich meinen Krempel in seiner Wohnung ablade, weil Lagerfläche zu mieten teuer ist und umständlich und überhaupt. Aber als die Kartons da sind, ist der Keller nass, in der Wohnung stehen sie nur im Weg, also fange ich an, sie auszupacken. Für mein altes Bett ist sowieso kein Platz, also verkaufe ich es an meine Nachmieterin. Der Gang zum Bürgeramt, um mich umzumelden, fühlt sich weniger nach Standesamt an, sondern – nun ja, nach einer stinknormalen Formalität.

In der ersten Nacht kann ich trotzdem kaum schlafen. Dieses Bett, unser Bett. Dieser Mensch neben mir, der im Schlaf pfeift. Und wenn alles klappt – was ja der Plan ist –, dann hieße das: für immer!

Am nächsten Morgen wate ich durch halb ausgepackte Kisten und flüstere mir zu: Zuhause, Zuhause, Zuhause. Aber schon am dritten Tag habe ich mich daran gewöhnt. Überraschenderweise steht mein Mädchenkrempel der Wohnung meines Freundes gar nicht so schlecht, der vorher zwar sechs Sets von Lautsprechern besaß, aber keinen Mixer. Es ist schön, nicht panisch in meine WG radeln zu müssen, weil ich festgestellt habe, dass ich dort die Pille vergessen habe. Als eines Morgens der Hausmeister die Klingelschilder austauscht ist es zwar immer noch gruselig – aber gruselig schön.

Auf der Reise ist mir klar geworden, dass Freiheit nicht bedeutet, jede Sekunde ans andere Ende der Welt aufbrechen zu können, ohne jemandem Bescheid sagen zu müssen. Ich habe gelernt, dass der Alltag und die Verpflichtungen, die viele für Ketten halten, auch ein Ariadnefaden sind, an dem man sich festhält, während man sich durchs Leben hangelt. Wie viele meiner Freunde wechsle ich meine Städte so oft, dass ich den Begriff »Zuhause« nicht mehr an einem Ort festmache, sondern an einem bestimmten Menschen. Aber vielleicht hat auch Lena recht: Wo dein Bett steht ist wichtig. Vielleicht ist in unserer flüchtigen Welt, in der alles so übergangsweise und »mal schauen« ist, eine gemeinsame Adresse ein Anker. Mein Herz und mein Bett sind jedenfalls am rechten Platz.