New York: Yakov und Raisa – <3-Briefe aus der Vergangenheit

Das Papier sieht aus wie Haut. Das Leben hat es zerknittert, hat es altern lassen. Es riecht nach Seife, die längst nicht mehr produziert wird, nach alten Menschen und nach Dachboden. Oder vielleicht ist es andersherum: Dachböden riechen wie Papiere, die weder weggeschmissen noch gänzlich verstanden werden können.

Die Briefe in der Kiste vor mir sind über ein Jahrhundert alt, vier Mal älter als ich. Sie sehen so fehl am Platz aus auf meinem weißen IKEA-Schreibtisch, zwischen dem Laptop und dem dauervibrierenden Handy. Ich bin es nicht gewohnt, dass Information so physisch aussieht, so verwittert. Vergilbte Seiten, bröckeliges Siegelwachs, Fotos in Sepia, speckige Postkarten mit Sicht auf ein Städtchen namens Grodno. Ich hole ein Foto von einem jungen Mann im Sakko aus der Kiste. Er hat verträumte, große Augen und Flaum auf der Oberlippe. »Yakov4, 1905« steht auf Russisch auf dem Fotorücken.

»Die Kiste hat meinem Urgroßvater gehört«, erklärte mir Ben, ein Freund aus New York. »Ich weiß nur zwei Sachen über ihn: Er kam aus Russland nach New York. Und er war kein glücklicher Mann.« In der Kiste seien die Briefe seiner großen Liebe. Und natürlich nicke ich wie eine Glückskatze aus dem Asia-Laden, als er mich fragt, ob ich sie aus dem Russischen übersetzen will. Wie oft bekommt man schon die Chance, in einem fremden Leben zu schnüffeln?

Russisch ist meine Muttersprache, aber es ist mühsam, die alte Schnörkelschrift zu entziffern und die veralteten Ausdrücke zu verstehen. Ganz oben in der Kiste liegt ein Einberufungsbescheid für Yakov Brodsky, geboren 1887, »Rasse«: jüdisch. Ist er aus Russland geflohen, um dem Militärdienst zu entkommen? Oder wegen der Nachwehen der russischen Revolution von 1905? Was war sein Beruf? Was hat er studiert? Wäre Yakov in meinem Alter, ich hätte ihn sofort gegoogelt und alle Antworten bei Facebook oder LinkedIn gefunden.

Unter den Dokumenten ist ein großer Umschlag voller kleinerer Umschläge. Die Handschrift auf ihnen allen ist die gleiche, die Empfängeradresse wechselt: Zuerst ist es Grodno in Russland, dann unterschiedliche Straßen in der Bronx. Insgesamt gibt es 16 Umschläge, der erste ist von 1906, der letzte von 1925, zwischen 1914 und 1925 gibt es keine Korrespondenz. Zwischen den Briefen liegt auch eine lose Seite ohne Umschlag, mit Bleistift und in einer anderen Handschrift beschrieben. Die Buchstaben sind wackelig, viele Worte sind durchgestrichen. Das Blatt sieht aus wie ein Schmierzettel. Es ist datiert auf den 25. April 1925.

Du wirst vermutlich sehr überrascht über diesen Brief sein. Zehn Jahre sind ohne ein Wort vergangen. Das Schicksal hat uns getrennt. Aber die Bilder der vergangenen Tage können nie aus meiner Erinnerung gelöscht werden. Die Jahre, die ich mir Dir verbrachte, erleuchten meinen Lebensweg wie Feuerfunken, geben mir Kraft weiterzuleben.

Was ist mit Dir geschehen? Diese Frage raubt mir immer noch den Schlaf. Hast Du einen Freund fürs Leben gefunden, der Deiner würdig ist? Bist Du glücklich? Hast Du Deine wahre Liebe getroffen, nachdem Du meine Hand abgelehnt hast? Oder hast Du Dich, wie Tausende Mädchen hier in Amerika, für die Bequemlichkeit entschieden, beautiful furniture, beautiful home?

Glaube nicht, es sei banale Neugier, die diese Zeilen diktiert. Lange, lange Zeit – jahrelang! – konnte ich meine Feder nicht zwingen, Dir zu schreiben. Vielleicht habe ich auch jetzt moralisch nicht das Recht dazu. Aber um unserer Jugend willen, der seligen Jahre, als wir so jung waren, so naiv – beantworte diesen Brief.

Yakov Brodsky

Wie ein hungriges Tier durchwühle ich die Kiste nach einem Umschlag, der eine Antwort auf diesen Brief beinhalten könnte. Es gibt einen Brief vom 13. Mai 1925. Der Absender ist Raisa Shapiro, Detroit, Michigan. Es ist der letzte Brief im Stapel.

Yakov, liebster Freund meiner Kindheit,

um ehrlich zu sein, ja, ich war sehr überrascht von Deinem Brief und sehr berührt von Deinem Interesse an meinem stillen Leben. In Amerika fragen nur wenige nach. Die Seele verhornt, und die Menschen vertrocknen von innen.

Wie Du an meiner Adresse erkennen kannst, lebe ich jetzt in Detroit. Ich habe Deinen Brief erst heute bekommen. Meine Tante leitete ihn mir weiter, und ich setzte mich sofort hin, um Dir zu antworten.

Du fragtest mich, ob ich einen würdigen Freund fürs Leben fand.

Ja, ich fand ihn. Von 1918 bis 1921 arbeitete ich als Übersetzerin in einem Militärkrankenhaus auf Staten Island. Dort traf ich Konstantin Shapiro. Es war zu der Zeit, als verwundete Soldaten aus Frankreich ankamen, und er war einer von ihnen. Wir heirateten am 13. April 1920.

Ob ich glücklich bin, fragst Du. Sehr. Mein Ehemann hat einen einzigartigen Charakter und eine wahre russische Seele. Verwundete Soldaten haben kein beautiful home und keine beautiful furniture. Wir leben sehr bescheiden. Ich arbeite in einer Bibliothek, und er studiert Ingenieurwissenschaften.

Was geschah mit Dir? Eines Sommerabends 1915 ging ich, erschöpft und einsam, bei Deinem Bruder vorbei. Er war sehr kalt und gab mir zu verstehen, dass Du Dein Leben mit einer anderen verbandest. An diesem Abend dachte ich viel nach. Oh, wie einsam war meine Seele! Ich schwor mir, niemals den Frieden Deiner Ehe zu stören. Und bis heute blieb ich meiner Entscheidung treu.

Wie könnte ich unsere glücklichen Tage vergessen? Freund Yakov, nie wird der Garten an der Muravejnoj-Straße aus meinem Gedächtnis verschwinden, der Stadtpark in Grodno und unsere Verabredungen dort. Heilige Zeit der Jugend! Wie unbeschwert wir doch waren.

Aber Du siehst, alles hat sich zum Guten gewendet. Es war uns nicht bestimmt, den Lebensweg zusammen zu beschreiten. Die, welche Du in Erinnerung hast, ist noch ein halbes Kind. Damals war ich rein, und das Leben schien voller Bedeutung, leuchtend und sonnig. Wer weiß, welches Bild Du von mir jetzt hättest. Wie viel glücklicher es doch ist, sich in kräftigen Leuchtfarben zu erinnern.

Ich wünsche Dir alles Gute, und richte auch Deiner Familie herzliche Grüße aus.

Deine Raisa Shapiro

Diese Briefe zu lesen fühlt sich verboten und aufregend an. So ähnlich, als hätte jemand auf meinem Computer E-Mails abgerufen und dann vergessen, sich auszuloggen. Nur dass E-Mails selten so poetisch sind. Die einzigen Lebenszeichen von meinen Exfreunden sind gelegentliche SMS um drei Uhr morgens, aller Wahrscheinlichkeit nach in Kloschlangen von Clubs verfasst.

Vor fünf Jahren bekam ich zum letzten Mal eine SMS von meinem ersten Freund. Sie lautete in etwa: »Rthgesa srfceaa sdg Triceratops« und die Chancen sind hoch, dass sie in Kollaboration mit seinem Gesäß und T9 verfasst wurde.

Es ist nicht so, dass ich mich nicht geschmeichelt fühlte. Ich weiß, dass es im Leben eines Mannes nicht viele Frauen gibt, die einer Mitternachtsnachricht über Triceratopse würdig sind. Aber gibt es eine Frau, für die sie einen Bleistiftentwurf verfassen, ihn in Schönschrift übertragen, eine Briefmarke und einen Umschlag suchen und Hosen anziehen würden, um den Brief tatsächlich einzuschmeißen? Ich glaube kaum.

Und selbst wenn es sie gäbe – welche Angebetete würde sich sofort hinsetzen und eine fünfseitige Antwort schreiben, anstatt den Exfreund auf Facebook zu bestalken, herauszufinden, dass er inzwischen Geheimratsecken hat und »mjam, mjam Sushi« zum Mittagessen hatte?

P. ist einer der wenigen Exfreunde, mit denen ich nicht bei Facebook befreundet bin. Wir haben uns 2006 getrennt, als »soziales Netzwerk« noch wie eine Vokabel aus einer Informatikvorlesung klang und manche Menschen das Internet tatsächlich noch Cyberspace nannten. Alle anderen Leitungen zwischen uns sind gekappt. Unter P.s alter Handynummer, die ich immer noch auswendig kenne, erreicht man nur noch eine sanfte Frauenstimme, die mitteilt, dass es dort »keinen Anschluss« mehr gibt. Und als ich einmal versuchte, ihm eine E-Mail zu schreiben, kam die Antwort nur wenige Sekunden später, von mailer-daemon@googlemail.com.

Ich hatte seit Jahren keine Ahnung, was P. tat, wo er lebte, wie viele Haare er noch hatte. Natürlich könnte ich einen Brief an die Adresse seiner Eltern schreiben. Aber so etwas macht man wohl höchstens in einer Welt, die ich mir nicht anders vorstellen kann als in Schwarz-Weiß. In der Welt von Yakov und Raisa.

Es gibt nur ein Foto von ihr in der Kiste. Ein Mädchen im hochgeschlossenen Kleid, mit nutellabraunen Augen und einem frischen, runden Gesicht. »Für Yakov von Raisa Rabinovich. Behalte mich in guter Erinnerung« steht auf dem Fotorücken.

Rabinovich muss Raisas Mädchenname sein – damit unterschreibt sie die früheren Briefe. Ich gebe ihren Namen in das Onlinearchiv von Ellis Island ein, und nach etwas Herumgeklicke finde ich sie. Eine Raisa Rabinovich traf am 1. Februar 1906 in New York ein, auf dem Schiff »Königin Luise«, das aus Bremerhaven kam. Dem Passagierverzeichnis zufolge war Raisa 17 Jahre alt und führte zehn Dollar mit sich. Sie war weder eine Polygamistin noch eine Anarchistin, bei guter psychischer und physischer Gesundheit und weder deformiert noch verkrüppelt. Die Spalte für »Nationalität« besagt: russisch, die für »Rasse«: jüdisch. Ihr letzter Wohnort war Grodno.

In ihrem ersten Brief an Yakov am 5. Februar 1906 schreibt Raisa:

Samstagmittag gingen wir an Bord, um zwei gab es Mittagessen im Hauptraum, und um vier lichteten wir den Anker. Wir spazierten bis sieben an Deck, aber am Abend mussten wir uns alle übergeben. Am nächsten Morgen fühlten wir uns schrecklich und haben es kaum nach draußen geschafft. Bis wir Anker warfen, waren wir seekrank und haben kaum etwas gegessen.

Ich kann Dir noch nicht sagen, ob ich Amerika mag oder nicht. Meine Tante lebt nicht in New York, wie ich dachte, sondern in Newark. Aber selbst dieses Städtchen ist vier Mal größer als Grodno.

Mein lieber Freund, wenn Du nur wüsstest, wie oft, wenn ich an Deck saß, ich mir Flügel wünschte, um zurückzufliegen! Ich fürchte, dass diese Sehnsucht mich nie verlassen wird. Heimweh wird für immer mein Reisegefährte sein.

Geliebter Yakov, bitte antworte mir, sobald Du meinen Brief bekommst. Deine Antwort wäre mir so ein Schatz. Ich hoffe, Du hast Mitgefühl mit dem Mädchen, das von ganzem Herzen auf Dich wartet.

Ich konnte mir ältere Menschen nie verliebt vorstellen, oder mit gebrochenem Herzen. Irgendwo in ihren milchigen Augen waren bestimmt Spuren von euphorischen Nächten und Katern. Aber es fiel mir schwer, in den beigen Rentnern die jungen Dinger zu erahnen, die knutschten, Liebeskummer hatten, über der Kloschüssel hingen und anderen Jugendunsinn machten.

Und dennoch kann ich gut nachvollziehen, wie Raisa sich fühlte. Vielleicht braucht es eine Lücke von zwei Generationen, damit man alte Menschen nicht nur als die Omas und Opas von jemandem wahrnimmt, sondern als komplexe, eigenständige Wesen. Vielleicht kann ich mich auch deshalb so gut in Raisa hineinversetzen, weil auch ich schon mal am Einwanderungsschalter in New York stand und mich wie der einsamste Mensch auf Erden fühlte. 2006, hundert Jahre nach Raisa, bestieg ich ein transatlantisches Flugzeug in Frankfurt und wünschte mir nichts so sehr wie eigene Flügel, um kehrtzumachen.

Ich war 19, als ich für einen Sommer in die USA zog. Ich führte 500 Dollar Taschengeld mit mir. Ich war keine Polygamistin, Gelegenheitsanarchistin nach drei Bier, bei guter psychischer und physischer Gesundheit und abgesehen von einem aufgeschrammten Knie weder deformiert noch verkrüppelt. Die Spalte für »Nationalität« besagte: russisch, die für »Rasse« gab es nicht mehr. Mein letzter Wohnort war Ulm.

Natürlich dauerte mein Flug nur neun Stunden anstatt wochenlanger Seekrankheit. Es gab Roaming, E-Mail und Flugzeuge, die mich im Notfall einen halben Tag später in Deutschland abliefern würden. Und trotzdem: Ich erinnere mich genau an das Gefühl, als die Hochhäuser von New York wie Säbelzähne auf mich zukamen und alles, was ich wollte, war: nach Hause zu fliegen, meinen Kopf unter P.s T-Shirt zu vergraben und für immer dort zu bleiben.

Jetzt wünschte ich, ich hätte eine Kiste mit Andenken an unsere gemeinsame Zeit. Draußen schlägt die Kirchenuhr zehn Mal, Nostalgiestunde. Heute wäre genau einer dieser Abende, an denen man diese Ich-denk-an-Dich-SMS schreibt oder zumindest die alten Andenken durchwühlt. Aber die einzige Erinnerungskiste, die ich besitze, ist gleichzeitig mein Büro, meine Kommunikationszentrale und mein Unterhaltungszentrum. Mein Laptop.

Sobald ich auf das Touchpad tippe, begrüßt er mich mit staubsaugerähnlichen Geräuschen, zusammen mit Klungs von GChat, den Swoosches von Skype und den Blobbs von Facebook. Es ist mein zweiter Monat in New York. Viele meiner Freunde sind gerade in Deutschland oder Russland und doch nur ein paar Klicks entfernt. Wie es damals wohl sein musste, wochenlang auf eine Antwort zu warten?

In der Kiste gibt es nur fünf Bilder: gedruckt auf harten Karton, gelblich und verwaschen. Es gibt allein 124 Bilder auf meiner Festplatte, die das Pärchenleben von P. und mir dokumentieren. Da sind wir am Baggersee: er, groß und knackbraun; ich, die ihm kaum bis zur Schulter reicht. Das bin ich huckepack auf seinem Rücken. Das sind unsere Grimassen. Das sind unsere Füße. Variationen von Glück, auf ewig in Pixelform konserviert.

Unsere Briefe werden nie vergilben. Sie liegen, begraben von Tausenden Spam-Mails in meinem alten E-Mail-Account. Mein Kopf kennt das Passwort nicht mehr, die Finger schon. Ich habe diesen Account seit drei Jahren nicht mehr aufgerufen.

Natürlich war meine erste Liebe anders als Raisas. Die einzige Verabredung, die P. und ich im Stadtpark hatten, endete damit, dass eine Rentnerin uns aus den Büschen jagte. Wir hatten Verhütungsmittel, SMS und fließendes Wasser. Die Hälfte unserer Beziehung fand auf Handy- und Computerbildschirmen statt. Aber unsere Worte sprechen dieselbe Sprache von Liebe und Vermissen. Unserer Sehnsucht war damals noch keine Hornhaut der Ironie gewachsen. Auf dem Bildschirm und in der Kiste sind Zeilen aus einer Zeit, als das Leben ein einziges Ausrufezeichen war – egal ob vor sieben oder 107 Jahren.

P. war fast vier Jahre älter und Grafikdesigner. Er hatte einen flächendeckenden Dreitagebart und ein Skateboard, er konnte formschöne Joints drehen und lustige Bilder zeichnen. Wir vermissten uns zu Tode, wir stritten uns bis aufs Blut, weil das wahre Liebe ist, mit 19. Alle Gefühle waren damals so groß, die guten wie die schlechten. Ich fühlte mich so einzigartig und allein in meiner Traurigkeit und Einsamkeit, als hätte ich sie persönlich erfunden. Aber anscheinend waren sie am Anfang des 20. Jahrhunderts nicht sehr anders.

Am 27. Februar 1906 schrieb Raisa:

Lieber Freund,

ich versuche in Worte zu fassen, was meine Seele aufwühlt, aber es ist unmöglich, es in Buchstaben zu zwängen. Eine furchtbare Sehnsucht nimmt immer mehr Besitz von mir, schnürt mir die Kehle zu und macht es unmöglich zu atmen.

Ich fühle mich so einsam. Manchmal glaube ich, es gibt keinen Menschen, der unglücklicher ist als ich. Ich glaube, ich verliere meinen Verstand. Abends irre ich auf den unbekannten Straßen von Newark umher und denke, dass ich alles dafür geben würde, um zurück in Grodno zu sein, um wieder lieben zu können wie ein Kind, als allein Deine Briefe genug waren, mich glücklich zu machen.

Verzeih, dass ich Deinen Kopf mit solchem Unsinn verstopfe, aber ich muss einfach jemandem schreiben. Oh! Verstehst Du dieses Verlangen zu reden, zu reden und zu reden, weil man Angst vor der Stille hat?

Bitte verzeih diesen egoistischen Brief. Ich hoffe, Du bist mir nicht gram und wenn ja, ist es mir egal. Das wäre nur ein weiterer Beweis, dass Du mich nicht verstehst, wie so viele andere.

Draußen schlägt die Uhr drei Mal. Die einzigen hellen Fenster leuchten elektronikblau. Irgendwo arbeiten die Menschen noch, gucken Serien, bohren in der Nase oder schlafen miteinander, im Schimmer ihrer Laptops, umringt von den Tausenden Menschen, die darin leben. Ich trinke meine dritte Tasse Kaffee. Die Lider sind schwer, aber das Übersetzen geht schneller voran, weil ich mich an die Schrift gewöhnt habe.

Im April 1906 zieht Yakov nach New York. In der Kiste liegt eine Ansichtskarte des Dampfers »Kronland«, den er in Antwerpen bestieg. Laut dem Passagierverzeichnis des Schiffs war er 19 Jahre alt und führte kein Geld mit sich. Er war weder ein Polygamist, noch ein Anarchist, bei guter psychischer und physischer Gesundheit und weder deformiert noch verkrüppelt. Die Spalte für »Nationalität« besagt: russisch, die für »Beruf«: Polsterer, die für »Rasse«: jüdisch.

Jetzt ist es Yakov, der Briefe mit russischen Stempeln bekommt. Einige von ihnen handeln von Pogromen gegen Juden in Nachbarstädtchen, einige sind voller Fragen über Amerika und über Yakovs Arbeit in der Fabrik. Andere sind schlichte Postkarten, mit zwei oder drei Sätzen, die sich nach dem Wohlbefinden erkundigen. Auf einer Postkarte ist Zamkovaja Uliza abgebildet, die Schlossstraße – Yakovs alte Adresse in Grodno. Kopfsteinpflaster, eine Pferdekutsche, im Hintergrund ein Feuerwachturm.

Heute ist Grodno ein Städtchen mit gut 300 000 Einwohnern in Weißrussland, unweit der polnischen Grenze. 1907 lebten etwa 50 000 Menschen in Grodno, cirka 25 000 von ihnen Juden. Google Maps braucht nur wenige Sekunden, um mich zur Zamkovaja Uliza zu bringen: Ich spaziere durch die virtuellen Straßen und klicke mich durch die Fotos, die dazu hochgeladen wurden. Die Feuerwache steht noch. Die geschwungenen Balkone aus Gusseisen sind noch da. Ein schmutzig-roter PKW parkt vor einem Haus mit altertümlich hohen Fenstern.

Unweit davon markiert eine Gedenktafel den Eingang zum Ghetto, das 1941 errichtet wurde. Sie ist den 25 000 Juden aus Grodno gewidmet, die während des Zweiten Weltkrieges ermordet wurden. Das Ghetto von Grodno wurde im Frühling 1943 geräumt. Der Großteil wurde in die Vernichtungslager in Auschwitz und Treblinka abgeführt. Vermutlich wären unter ihnen auch Yakov und Raisa gewesen, wären sie in ihrer Heimatstadt geblieben.

Die Briefe zwischen ihnen hören nicht auf, nachdem Yakov nach Newark gezogen ist, aber sie werden kürzer. Oft geht es darum, wo sie sich verabreden können. Meistens sehen sie sich wohl im Haus von Yakovs Schwester.

So romantisch wie ich Liebesbriefe finde – Alltagskommunikation auf Papier kann ich mir nicht vorstellen. Wie hat man Freunde zu Partys eingeladen, bevor es E-Mail und Facebook gab? Wie haben sich Verliebte vor dem Schlafengehen Gute Nacht gewünscht? Wie haben sie sich gestritten, wenn zwischen den Anschuldigungen Wochen vergingen?

Tagelang auf einen Brief zu warten wenn man sich verkracht hat, muss so schmerzhaft sein wie ein Messer, das sich langsam in der Wunde dreht. SMS-Flatrates und Chats sind Kalaschnikows der Streite. Als ich 19 war, tippten sich Worte schneller, als die Gedanken hinterherkamen. P. und ich stritten über den Kommunismus; darüber, wer wen nicht genug anrief; wessen E-Mails zu kurz waren; wer dieser Kerl gewesen ist, mit dem ich neulich wandern war, als er anrief; und warum war er nach ein Uhr nachts im Kino?

Als ich im September 2006 nach meinem Auslandsjahr zurück nach Deutschland kam, stritten wir weiter. Wahrscheinlich sollte der Krach auch unsere Abschiedsworte übertönen. Ich brauchte noch ein Jahr, um mit der Schule fertig zu werden. P. beschloss, sein Abi nachzuholen und musste ein Jahr länger als ich in Ulm bleiben. Was danach kommen würde, wussten wir nicht. Sollte ich in der Nähe von Ulm studieren? Sollte er in meine Studienstadt nachkommen? Ein paar Mal fiel das Wort »Trennung«. Ich weinte. Er rauchte. Wir machten Schluss. Wir haben anderthalb Jahre durchgehalten.

Der letzte Brief von Raisa, bevor die Kommunikation für über zehn Jahre abreißt, ist von 1914, acht Jahre nach dem ersten Umschlag. Die Buchstaben stolpern über das Blatt. Die konfusen Worte und Fehler sehen der sonst so sorgfältigen Raisa sehr unähnlich:

Lieber Yakov,

ich beantworte Deinen Brief so schnell, wie ich kann. Du verlangst eine endgültige Antwort, aber die kann ich Dir nicht geben. Ich kann Dir nur so viel sagen: Bitte verschiebe Deine Verlobung noch ein bisschen. Ich würde Dich gern vorher sehen und mit Dir sprechen. Ich flehe Dich an.

Vielleicht, wenn wir uns endlich gegenseitig unsere Herzen ausschütten, werden wir einander besser verstehen. Und wer weiß, vielleicht werden wir unseren Lebensweg zusammen beschreiten. Erinnerst Du Dich an diesen Abend im Stadtpark von Grodno? Warum sollten wir nicht unser Leben miteinander verbringen?

Ich sage Dir nochmal: Ich muss Dich sehen. Kannst Du zu mir kommen? Sonntag? Schreibe mir. Komm her, um mich zu sehen! Ich muss Dich sehen.

Wenn Du willst, komme ich zum Haus Deiner Schwester. Es dürfte niemandem verdächtig erscheinen, wenn Du Deine Schwester besuchst. Wirklich, was spricht gegen einen Familienbesuch?

Schreibe mir, sobald Du diesen Brief bekommst, sodass ich Deine Antwort am Samstag bekomme.

Ich will Dich vor Deiner Verlobung sehen und, wer weiß, vielleicht sollten es wir beide sein, die sich verloben.

Deine Dir ergebene Raisa

Hat Yakov diesen Brief rechtzeitig bekommen? Wartete Raisa vergeblich auf ihn am Bahnhof? Solche Tragödien sind in Zeiten der Überallerreichbarkeit kaum vorstellbar. Heute hätte Julia Romeo wahrscheinlich eine SMS geschickt: »Nehme jetzt ein Fake-Gift :) C u in drei Stunden, <3 u«

Vielleicht hatte der Postbote den Brief nicht rechtzeitig gebracht. Vielleicht haben sich Raisa und Yakov tatsächlich ausgesprochen und beschlossen, sich zu trennen. Die einzige Sache, die ich mit Sicherheit weiß, ist, dass die Frau im weißen Kleid auf Yakovs Hochzeitsfoto nicht Raisa ist.

P. und ich können weder das Schicksal noch den Zufall für das Ende unserer Beziehung verantwortlich machen, nur uns selbst. Er fuhr mich nach Hause mit meiner Zahnbürste und einer Kiste Klamotten. Vor meiner Haustür saßen wir noch lange im Auto. Der Motor lief, und die Wände des Autos schienen zu atmen, als säßen wir in einem riesigen Bauch.

»Na, dann …«, sagte ich.

»Ja, dann …«, sagte er.

Sein Auto fuhr ab, und in nächster Sekunde schloss sich das Leben wieder zum Ganzen, so wie sich Wasser schließt, wenn man einen Stein reinwirft. Und das war der gruseligste Part – zu verstehen, dass ein Mensch jetzt »Vergangenheit« ist und die Gegenwart einfach weitergeht. Was sollte sie denn auch sonst tun?

Ich ging ins Haus, machte Schiffchen aus Zeichnungen, die P. mir geschenkt hatte und versenkte sie in der Badewanne. Ich trank Erdbeersekt und hörte Sonic Youth. Weil genau das Liebeskummer ist, mit 19.

Draußen wird es langsam hell, aber ich bin immer noch hellwach. Ich klicke mich noch mal durch die Fotos von P. und mir: die grinsenden Schnuten, die lässigen Zigaretten im Mundwinkel. Es gibt natürlich kein einziges Foto von verheulten Gesichtern und aufgelösten Papierschiffchen. Ist es nicht seltsam, dass der ganze Haufen Dateien, den wir voneinander haben, kein akkurateres Bild von der Realität abgibt als fünf Bilder von Yakov und Raisa? Wir haben Erinnerungsdateien, die nie vergilben, nie verwittern, nie verblassen und trotzdem nicht die Wahrheit erzählen.

Nachdem ich die Zeichnungen versenkt hatte und den Rest weggeschmissen, blieb nichts Physisches von P. übrig. Es gibt nichts, was unsere Urenkel einem unbekannten Mädchen zum Übersetzen geben könnten. Als hätte er nie in meinem Leben existiert – und ich nicht in seinem.

Natürlich könnte ich einen Brief schreiben: Papier, Tinte, Briefmarke, den Kleberand ansabbern.

Aber das scheint plötzlich aufgeblasen und anachronistisch. Ich kann mir nicht vorstellen, wie man so ein wichtiges Ding ohne CTRL+C, CTRL+V und Rechtschreibprüfung verfassen soll. Und außerdem weiß ich ganz genau, dass mein lodernder Enthusiasmus, bis ich eine Briefmarke gekauft habe, von kühler Alltagsbrühe erstickt wird.

Lieber P.,

die Gründe, warum ich Dir schreibe, sind eine Mischung aus niederen und ehrenvollen. Niedere, weil ich hören will, dass Du mich nicht vergessen hast. Ehrenvolle, weil ich die Zeit mit Dir nicht vergessen will.

Jemand Schlaues hat einmal gesagt: »Wir sind die Summe aller Menschen, die wir jemals getroffen haben.« Du bist ein bisschen ich, ich ein bisschen Du, unabhängig davon, ob wir wissen, an welchem Ende der Welt wir gerade sind.

Vielleicht trägst Du Krawatten. Vielleicht hast Du ein Bäuchlein. Wer weiß, vielleicht hast Du schon eine Frau.

Bitte verstehe mich nicht falsch. Ich will nicht, dass Du mir die letzten sechs Jahre Deines Lebens in einer Facebook-Nachricht zusammenfasst. Ich will keine Geburtstagsglückwünsche. Eigentlich wollte ich Dir nur sagen, dass ich an Dich denke.

Es ist nicht so einfach, P. bei Facebook zu finden. Aber wie wohl jeder in meiner Generation bin ich ein fähiger und ausdauernder Stalker. Nach einer Stunde habe ich ihn in der Freundesliste eines alten Freundes aufgespürt. Seine Privateinstellungen sind so eingestellt, dass kein Fremder seinen Beruf und seine Interessen sieht, sein Name ist fast zur Unkenntlichkeit zerhäckselt, das Profilbild eine Schneelandschaft. Aber ich bin mir recht sicher, dass er das ist.

Es ist acht Uhr morgens. Die Vögel zwitschern im Chor mit dem Piepen von GChat und Skype. Meine tausendnochwas Freunde wachen langsam auf, posten die erste smarte Zeile des Tages auf Facebook, teilen Artikel von Postillon und Bilder von Grumpy Cat. Kathrin K. ist in einer Beziehung mit Robert. 18 Leuten gefällt das. Mar K ist mit Susi Vi verlobt. 41 Leuten gefällt das. Lisa Peters ist Single und erntet dafür acht Daumen. Jemand postet ein Foto der Sonne (»Uiii, Sonne«), die gerade durch das Fenster scheint, und noch nie wurde mir so klar, dass wir uns durch Technologie möglicherweise weniger allein fühlen, aber sicher nicht weniger einsam.

Und vielleicht wird das Wort Exfreund durch Facebook eine ganz andere Bedeutung bekommen. Der Exfreund ist nicht mehr der Mensch, mit dem man einst Herz und Bett teilte. Ein Exfreund ist heute ein postmarkengroßes Bild, das man prokrastinierend anklickt, auf der Suche nach Anzeichen von körperlichem Verfall. Und um zu sehen, zu welcher Sorte Mensch seine neue Freundin gehört. (Um zu sehen, was sie mit Freunden teilt, sende ich ihr eine Freundschaftsanfrage.) Es ist kein echtes Interesse, es ist Langeweile gepaart mit Neugier, die selten über einen Blick ins digitale Fotoalbum hinausgeht.

Vielleicht haben wir dieselben Sorgen wie junge Leute vor 100 Jahren, oder vor 1000: Wir haben Liebeskummer und fühlen uns von niemandem verstanden, wir starren auf unser Smartphone oder den Briefkasten, in Erwartung, dass das Objekt der Begierde zurückschreibt. Die Liebe wird es geben, solange es Menschen gibt. Egal, ob von Haut zu Haut, auf Briefpapier oder in Bits und Bytes, verkümmert zu <3, von unseren iPhone-Kameras bis auf die letzte Pore ausgeleuchtet. Die Liebe wird überleben, weil sie tief in unser Gehirn eingeschraubt ist. Aber was geschieht mit Erinnerungen? Ich stelle mir Kinder vor, die Kilometer und Kilometer von ausgedruckten Timelines in Museen ansehen, ein Logbuch unseres Lebens, das keinen Raum für Fantasie lässt und dabei alles so unfassbar falsch darstellt.

Will ich P.s photogeshopptes Leben sehen? Ich denke an meine Exfreunde, die gerade irgendwo sitzen, umringt von neuester Technik und dem ältesten Shit vom Flohmarkt, und auf eine postmarkengroße Repräsentation von mir klicken, diese destillierte Version von mir, eingeteilt in die Kategorien Wohnort, Beruf, Musik, Film und Anzahl der Freunde. Das Gedächtnis ist ein viel gnädigeres Medium als Facebook. Es streicht die Ecken glatt, legt einen sanften Filter des Vergessens über die Erinnerungen, der trotzdem akkurater ist als die gelegentlichen witzigen Status-Updates und die Urlaubsfotoalben auf Facebook. Das Gedächtnis schreibt unsere Liebesgeschichten auf Papier, das vergilbt, mit Tinte, die verblasst und dadurch irgendwie echter wird, realer.

Ich gucke mir noch mal die Schneelandschaft an, hinter der sich meine alte Liebe verbirgt.

Und dann klappe ich den Laptop zu, bevor ich eine Freundschaftsanfrage verschicken kann.

4 Die Namen in diesem Kapitel wurden auf Wunsch der Familie geändert.