Wir sahen erste Warnschilder. Dreisprachig stand dort der Text. Man warnte vor Minen und Selbstschüssen. Ich schluckte. Von der Zonengrenze hatte ich bisher nur gehört, sah sie also zum ersten Mal in meinem Leben. Es ist schon komisch, wenn man weiß, dass ein Land durch solch eine Grenze geteilt ist. Wahnsinn.
Band 100 »Die Drohung«
JOHN SINCLAIR ist eine zeitgenössische Serie, die trotz ihrer übernatürlichen Komponenten und den fantastischen Facetten einen starken Gegenwarts- und Realitätsbezug hat. Das wird bereits bei den Handlungsschauplätzen deutlich. Die meisten Romane spielen an real existierenden Orten, und der Held muss sich denselben Alltagsproblemen stellen wie wir auch. Das können profane Dinge wie Spesenabrechnungen sein, die nicht genehmigt werden (»Es war schon seltsam, was man mir da nicht alles anrechnen wollte. Das begann mit dem Kleidergeld und hörte mit einer Restaurantquittung auf.« [Sonder-Edition Band 2 »Der goldene Buddha«]), dem Umzug von New Scotland Yard (als es sich verkleinert und aus wirtschaftlichen Gründen in ein kleineres Gebäude am Victoria Embankment umziehen muss, betrifft das auch Johns Spezialabteilung), aber auch politische Hürden beziehungsweise Grenzen, wie die zwischen Ost- und West-Deutschland, die für John Sinclair zu einem echten Problem wird, als ihn eine Spur zum Brocken im Harz führt. Dort soll er angeblich das Buch der grausamen Träume finden, in dem beschrieben steht, wie sein Erzfeind, der Schwarze Tod, endgültig zu besiegen ist. Doch die Zonengrenze kommt ihm in die Quere, und in einer waghalsigen Aktion müssen John und seine Freunde, der Chinese Suko und der deutsche Kommissar Will Mallmann, durch einen unterirdischen Tunnel kriechen, der bei Bad Harzburg beginnt und in der Nähe des fiktiven Ortes Gramlage ins Freie führt.
Jahre später kehren John und seine Freunde übrigens wieder in den Harz zurück, dieses Mal mit ihrem neuen deutschen Kollegen Harry Stahl. Die Mauer ist längst gefallen und Gramlage offenbar verlassen worden, sodass der kleine Touristenort Schierke bei Wernigerode als Anlaufstelle dient. (Nachzulesen in Band 2077 »Ausbruch aus der Schreckenshöhle«, geschrieben von Ian Rolf Hill.)
Tatsächlich spielen der Kalte Krieg, der Eiserne Vorhang und der Warschauer Pakt immer wieder eine mehr oder weniger prominente Rolle in den älteren Romanen.
Um einen geheimen Fluchttunnel zwischen Ost- und West-Deutschland geht es beispielsweise in dem Roman »Das Geistergrab« aus dem Jahr 1982. Selbst die spektakuläre Ballonflucht zweier Familien wird dort erwähnt!
Seinen Höhepunkt erlebt der Kalte Krieg, zumindest bei JOHN SINCLAIR , aber wohl in »Geheimwaffe Ghoul«, Band 459 aus dem Jahr 1987. Der Rota-Text (die erste Seite eines Heftromans, mit dem zumeist fettgedruckten Teaser) lässt keinen Zweifel daran, was die Leserinnen und Leser auf den kommenden 64 Seiten erwartet:
Als die beiden mächtigsten Männer der Welt sich in Reykjavik treffen wollten, war sicherheitstechnisch alles getan worden. Die Geheimdienste hatten blendende Arbeit geleistet, aber an eines nicht gedacht. An die Rache aus den eigenen Reihen. Und so bastelte jemand – versteckt in einem alten Kloster – an einem furchtbaren Plan. Die Geheimwaffe Ghoul sollte zum Einsatz kommen.
Auch die Grenzöffnung wird mehrfach thematisiert, und nach der Verwandlung von Will Mallmann in einen Vampir bekommt John Sinclair mit dem sächsischen Kommissar Harry Stahl einen neuen deutschen Kollegen zur Seite gestellt, der seinen ersten Auftritt in Band 644 »Der Leichenfürst von Leipzig« hat, einem Zweiteiler, der mit Band 645 »Das Teufels-Denkmal« fortgesetzt wird. Ebenfalls in einem Zweiteiler, Band 724 und 725, jagen Harry Stahl und John Sinclair den »Stasi-Vampir«, auch »Der Satan von Sachsen« genannt.
Aber nicht immer werden Ereignisse, die die Öffentlichkeit bewegen, gleich zum Plot eines ganzen Romans. Oftmals werden sie nur am Rande erwähnt oder von John und seinen Freunden nebenbei wahrgenommen. Beispielsweise der Tod von Lady Diana, der Prinzessin von Wales, in Band 1034 »Kitas Kettenhund«.
Wir hatten uns durch London gequält und waren auch in der Nähe von Kensington Palace vorbeigefahren. Noch immer stauten sich dort die Menschen, die von der verstorbenen Prinzessin Diana Abschied nehmen wollten und das Meer aus Blumen noch vergrößerten.
Der Anschlag auf das World Trade Center vom 11. September 2001 hingegen wird sogar extra in einem Epilog am Ende eines Dreiteilers (Band 1230 bis 1232) thematisiert.
Nein, es war nicht alles gut. Noch am gleichen Tag hörten wir von den schrecklichen Ereignissen in New York und Washington. Auch wir waren stumm vor Entsetzen, und jeder von uns wusste, dass die Welt von diesem Tag an nicht mehr die Gleiche sein würde wie früher …
Hier wurde auch deutlich, mit welchem Vorlauf Jason Dark seine Romane schreibt, denn der Roman erschien tatsächlich erst am 18. Februar 2002 … Doch nicht nur gesellschaftspolitische Ereignisse fließen in die Geschichten mit ein, sondern auch kulturelle Veranstaltungen. Manchmal sind diese recht verklausuliert, wie in »Die Hexe von Hilversum« (1993), einem Roman, den Jason Dark der Fernsehmoderatorin Linda de Mol widmete, nachdem er in ihrer Sendung »Kollegen, Kollegen« zu Gast gewesen war. In anderen Fällen wiederum ist der Wiedererkennungswert sehr viel stärker, so wie im Fall des Puppenspielers und Intendanten des Puppenpavillons Bensberg, Gerd J. Pohl, dem Jason Dark gleich zwei Romane widmete: Band 1801 »Die lebenden Puppen des Gerald Pole« (2013) und Band 1858 »Die Rache des Puppenspielers« (2014).
Attraktionen wie der London Dungeon (Band 383 »Londons Gruselkammer Nr. 1«) sind ebenso Schauplatz eines Romans wie der Hamburger Dom (Band 887 und 888), der Hamburg Dungeon (Band 1186 »Der Henker vom Hamburg Dungeon«) und sogar das London Eye beziehungsweise Millennium Wheel (Band 1361 »Sheilas Horrorzeit«). Der Roman »Das Knochenkreuz« (Band 1240) spielt in dem Beinhaus von Kutná Hora und inspirierte mich, persönlich vorbeizuschauen und meine erste Novelle dort anzusiedeln. (Nachgedruckt als GESPENSTER -KRIMI Band 17 »Die Knochenkirche« von Ian Rolf Hill.)
Sogar auf die Dortmunder Romanbörse verschlägt es John Sinclair (Band 693 »Voodoo in Dortmund« und Band 694 »Lavalles Todesspur«).
In »Zombies im Mediapark« (Band 1374) wird das Literaturhaus in Köln Schauplatz einer Zombie-Invasion. Das Besondere an dem Roman: Leserinnen und Leser konnten sich durch eine Spende an das Literaturhaus einen Auftritt im Roman erkaufen. Eine Gelegenheit, die sich übrigens ein späterer Autor der Serie nicht entgehen ließ …
Nur ein Jahr später tauchte auf der Art Cologne »Medusas Vermächtnis« auf (Band 1425), angelehnt an ein Werk der Künstlerin Cornelia Schleime.
Eine Kooperation der besonderen Art kam mit dem Museum für Kommunikation Berlin zustande, als für eine Sonderausstellung nach JOHN -SINCLAIR -Romanen gefragt wurde, deren Titel mit »Nacht« und »(Alb-)Träumen« zu tun hatten. Herauskam am Ende der Band 2046 »Nocturnas Nachtgespenster«, der zur Eröffnung der Ausstellung »Nacht – Alles außer Schlaf« erschien.
Sogar Naturereignisse finden immer wieder Eingang in den Kanon. So wird das Fragment eines Meteors, der am 15. Februar 2013 in der russischen Oblast Tscheljabinsk gesichtet wurde, zu einem wichtigen Artefakt der Serie, da es sich als psychokinetisch wirksam entpuppt und die Fähigkeiten übernatürlich begabter Personen verstärken kann. Erstmals erwähnt wird dieses Kometenfragment in dem Zweiteiler »Die Rasputin-Offensive« und »Das Frankenstein-Protokoll« (Band 2079 und 2080).
Wo wir schon mal bei Rasputin sind: Nicht nur gegenwärtige Ereignisse spielen bei JOHN SINCLAIR eine wichtige Rolle, die Vergangenheit ist ebenfalls omnipräsent. So wurde beispielsweise der russische Wanderprediger und Wunderheiler Rasputin Teil des Sinclair-Universums, angefangen mit seinem Testament, das »Mit Blut geschrieben« wurde (Band 405), bis hin zu seiner persönlichen Wiederauferstehung als untoter Magier in dem Doppelband »Der Mond-Mönch« und »Verflucht bis in den Tod« (Band 1711 und 1712). Rasputin und seine Anhänger machen John und seinen Freunden viele Jahre das Leben schwer, bis er in einem finalen Zweiteiler, der eine Brücke zu den realen Ereignissen in der Vergangenheit schlägt, vernichtet wird (Band 2190 »Blutige Nächte in Sankt Petersburg« und Band 2191 »Rasputin muss sterben«).
Sankt Petersburg, 1908.
Zar Nikolaus II . war beunruhigt. General Djedjulin war lange genug Palastkommandant, um das zu erkennen. Und er konnte sich auch denken, weshalb das so war. Es hatte nichts mit den üblichen, anspruchsvollen Aufgaben eines Kaisers zu tun. Es ging weder um innerpolitische Querelen noch um die zunehmend angespannte außenpolitische Situation in Europa. Die Sorgen, die den Zaren plagten, waren mehr privater Natur. Und sie hatten einen gemeinsamen Nenner. Und der hieß: Rasputin!
Eine weitere historische Figur ist der Okkultist Aleister Crowley, der bei JOHN SINCLAIR indes nur als Geist in Erscheinung tritt, zunächst in dem zweiteiligen Roman »Das Zauberzimmer« und »Vater, Mutter, Teufelskind« (Band 794 und 795), später dann noch einmal in einer Trilogie (Band 808 bis 810), in der sein Geist vernichtet wird: »Das unheimliche Herz«, »Das Schlangenkreuz« und »Der Geist des Hexers«.
In dem Taschenbuch 213 »Satans Krone« bekommt es der Geisterjäger schließlich noch einmal mit einem Erben von Aleister Crowley zu tun.
»Die Königin von Saba« (Band 466) erscheint John in dem gleichnamigen Roman aus dem Jahr 1987. König Salomo hingegen begegnet er während einer Zeitreise, auf der er ihm sein Schwert überlässt (Band 1000 bis 1006), sogar persönlich. Selbst mit Graf Draculas historischem Vorbild, Vlad Tepes, ist John Sinclair bereits zusammengetroffen, und zwar in der Trilogie »Assungas Zaubermantel«, »Dracula Blutgemach« und »Die Nacht der bösen Frauen« (Band 700 bis 702).
Mit dem Geist der Blutgräfin Erzsébet Báthory, die auf ihrer Burg Cáchtice in der heutigen Slowakei unaussprechliche Gräueltaten verübte, gerät John in dem Taschenbuch »Brandmal«, das ich gemeinsam mit Mark Benecke verfasst habe, aneinander. Auch der Kriminalbiologe selbst schrieb sich in die Handlung hinein und machte sich und seine Mitarbeiterin Tina Baumjohann damit kurzerhand zum Teil des Kanons.
Übrigens nicht das erste Mal, dass echte Personen Teil des Sinclair-Kosmos wurden. Der deutsche Kommissar Will Mallmann entspricht ebenso einem realen Vorbild wie der Ninja Yakup Yalcinkaya. Letzterer schenkte Jason Dark einst eine handgeschnitzte John-Sinclair-Figur, woraufhin sich der Autor bedankte, indem er nicht nur den Roman »Hände, die der Satan schuf« schrieb, sondern Yakup auch ein literarisches Denkmal in Form eines türkischen Ninjas setzte, der zu einem wiederkehrenden Bestandteil der Serie wurde. Ein ähnliches Schicksal ereilte vor nicht allzu langer Zeit auch die JOHN -SINCLAIR -Podcast-Moderatorin Amy Zayed, aber dazu später mehr.
Der englische König Richard Löwenherz, der ebenfalls in John Sinclair wiedergeboren wurde, spielt in den Romanen »Der Rosenfluch« und »Der Henker des Herzogs« (Band 827 und 828) eine wichtige Rolle, ebenso wie in Band 2139 »Im Tempel der Schlange«, in dem der König selbst einen Teil der Geschichte aus seiner Sicht erzählt:
13. September anno Domini 1191.
Mein Johann, der Herr sei gepriesen. Unser glorreicher Sieg bei Arsuf hat die Sarazenen das Fürchten gelehrt. Saladin ist auf dem Rückzug, sein Heer geschlagen. Vor drei Tagen gelang es uns, Jaffa einzunehmen, ohne auch nur einen Pfeil abzuschießen und einen einzigen Tropfen Blut zu vergießen. Jetzt ist Jerusalem an der Reihe. Ich bin zuversichtlich, auch dieses Ziel mit Gottes Hilfe zu erreichen. Zuvor aber gilt es, noch eine andere Prüfung zu meistern, die mir der Herr auferlegt hat. Wie mir zu Ohren gekommen ist, stehen nahe Zion die Tempel eines heidnischen Kultes, der seinem Götzen noch heute Menschenopfer darbringt. Sie nennen sich selbst Naassener und spotten unseren Herrn, indem sie der Schlange des Garten Edens Göttlichkeit bescheinigen. Ein Frevel, der nicht ungesühnt bleiben darf. Bete für mich, mein Johann. Damit ich siegreich in unser geliebtes England zurückkehren kann.
Dein Bruder Richard
Bevor es dazu kommt, muss Richard Löwenherz jedoch gegen die gottlosen Ophiten, eine antike Schlangensekte, antreten.
Ein nicht unerheblicher Teil des Doppelbandes »Wen der Wahnsinn ruft« und »Der Spinnenfrau ins Netz gegangen« (Band 2234 und 2235) wird aus der Sicht des Psychiaters John Conolly beschrieben, einer ebenfalls realen Persönlichkeit, die die Behandlung von psychisch Kranken im neunzehnten Jahrhundert revolutionierte.
Schon relativ früh innerhalb der Serie spielen die Tempelritter eine wichtige Rolle, denen von päpstlicher Seite ein Pakt mit dem Dämon Baphomet nachgesagt wurde. Eine Legende, die bei JOHN SINCLAIR zumindest teilweise der Wahrheit entspricht. Demzufolge gibt es eine Gruppe von Templern, die sich von Gott ab- und dem Dämon mit den Karfunkelaugen (so Baphomets Beiname) zugewendet haben.
Ihnen gegenüber stehen die aufrechten Templer, die in einem Kloster in Südfrankreich, nahe des Örtchens Alet-les-Bains, wohnen. Angeführt werden sie von Abbé Bloch, der nach seinem gewaltsamen Ableben wiederum von Godwin de Salier abgelöst wird, einem Tempelritter, den John auf einer Zeitreise in die Vergangenheit rettet und mit in die Gegenwart nimmt (Band 871 und 872).
Das meiste, was sich Jason Dark rund um die Templer hat einfallen lassen, inklusive des Großmeisters Hector de Valois, der ebenso wie Richard Löwenherz und König Salomo in John wiedergeboren wurde, ist frei erfunden. Aber eben nicht alles, denn in Band 454 »Der blutrote Zauberteppich« reist John Sinclair erneut in die Vergangenheit. Dieses Mal in das Paris des Jahres 1314, wo er miterlebt, wie der letzte Großmeister der Templer, Jacques-Bernard de Molay, auf dem Scheiterhaufen verbrannt wird. Seine sterblichen Überreste spielen später indes noch eine wichtige Rolle, denn aus den Gebeinen von de Molay entsteht der geheimnisvolle Knochensessel, der ein Tor nach Avalon darstellt, aber dazu mehr in Kapitel 5.
»Der Knochensessel« wird von John in dem gleichnamigen Roman (Band 771) auf einer Auktion in New York ersteigert und nach Südfrankreich in das Kloster seiner Templer-Freunde gebracht, wo er fortan steht.
Obwohl die Templer ihre Hochzeit eindeutig in den 400er- und 500er-Bänden und später noch einmal in den 1200er- und 1300er-Bänden erleben, sind sie nie gänzlich aus der Serie verschwunden und immer irgendwie präsent. Kein Wunder, bieten sie doch stets einen reichhaltigen Fundus an mittelalterlich angehauchtem Grusel, inklusive düsterer Burgen, Ruinen und Kathedralen und/oder halb vermoderter Gerippe in Rüstungen. Untote Ritter, denen nach dem Blut der Lebenden dürstet … Das kommt Ihnen bekannt vor? Erinnert es Sie womöglich an einen alten spanisch-portugiesischen Horrorfilm, in dem geblendete untote Tempelritter Jagd auf wehrlose Frauen machen?
Kein Wunder, denn »Die Nacht der reitenden Leichen« gehört fraglos zu den Kultfilmen der 1970er-Jahre. Doch inwieweit er bei JOHN SINCLAIR eine wahre Lawine an Templer-Geschichten lostrat, ist schwer zu sagen. Fest steht jedoch, dass Kino und Fernsehen die Serie stark geprägt haben. Wie stark, das sehen wir uns jetzt genauer an.