Einer der Reize, die die Serie ausmachen und dazu beigetragen haben, dass ihr viele Fans seit Jahren oder gar Jahrzehnten die Treue halten, ist der, dass es sich bei John Sinclair und seinen Freunden trotz ihrer mitunter recht fantastisch anmutenden Herkunftsgeschichten um normale Menschen mit gewöhnlichen Problemen handelt.
Oder wie Jason Dark einst in einem Interview erklärte: John Sinclair ist kein Supermann. Der ärgert sich genauso wie jeder andere, wenn er montags wieder ins Büro muss, das Wetter mies ist oder sein Lieblings-Fußballverein verloren hat. Er trinkt abends oft ein Bierchen (manchmal auch zwei) und isst für sein Leben gern Currywurst.
Das sind Dinge, mit denen sich so ziemlich jeder identifizieren kann. Dass John bereits mehrfach gelebt hat, der Sohn des Lichts ist und als Oberinspektor bei Scotland Yard arbeitet, ist dabei absolut zweitrangig.
Nichtsdestotrotz ist er der Held der Geschichte. Der Ich-Erzähler, der furchtlos voranschreitet und den Kampf gegen die Kreaturen der Finsternis zur Not auch mit den Fäusten aufnimmt. So jemand eignet sich vielleicht als Vorbild, aber nicht unbedingt als Identifikationsfigur.
Suko mit seiner jahrelangen Kampferfahrung und seinem disziplinierten Geist ist sogar noch ungeeigneter. Und dabei haben wir noch gar nicht über all die anderen Freunde und Verbündeten gesprochen, die sich im Umfeld des Geisterjägers tummeln: Magier aus dem alten Atlantis, Schönheiten aus dem Totenreich und Eiserne Engel. John Sinclair hat Freunde beim FBI (Abe Douglas), dem BKA (Will Mallmann, Harry Stahl, Dagmar Hansen) und sogar dem KGB /FSB (Wladimir Golenkow, Karina Grischin). Einige von ihnen sind Templer (Abbé Bloch, Godwin de Salier), Halbengel (Raniel, Elohim) oder selbst Dämonenjäger (Mandra Korab). Sogar ein Ninja zählte jahrelang zu Sinclairs Freundeskreis (Yakup Yalcinkaya). Liest man diese Aufzählung, kann leicht der Eindruck entstehen, es mit einem Superheldencomic zu tun zu haben, nicht mit einer zeitgenössischen (Heft-)Romanserie. Umso wichtiger ist es, jemanden zu haben (außer dem Helden selbstverständlich), der oder die für eine gewisse Erdung sorgt. Und hier kommt die Familie Conolly ins Spiel.
Sicher, Sheila bringt ein beachtliches Vermögen mit in die Ehe. Das ermöglicht es ihrem Mann Bill nicht nur, als unabhängiger Journalist zu arbeiten, die Conollys können es sich auch ohne Weiteres leisten, einen mittellosen Chinesen und seine Freundin auszuhalten und zudem einem rumänischen Vampirjäger finanziell unter die Arme zu greifen.
Doch obwohl die Conollys mit Fug und Recht zur High Society von London gerechnet werden können, bleiben sie gleichzeitig die netten Nachbarn von nebenan. Sie sind der ruhende Pol, bei dem sich John und seine Freunde ebenso zum gemütlichen Grillabend treffen wie zum gemeinsamen Weihnachtsfest oder zur Silvester-Party.
Das Grundstück der Conollys, die in einem nicht näher benannten Viertel in einem Bungalow auf einem künstlich aufgeschütteten Hügel im Süden Londons leben, ist schließlich groß genug. Es gibt auch Gästezimmer, wo immer ein Platz für ihren besten Freund ist, falls dieser mal wieder zu tief ins Glas geschaut hat.
Trotz ihres Erbes wird Sheila keine knallharte Konzernchefin, sondern bleibt Hausfrau und Mutter, denn die Conollys bekommen schon sehr früh in der Serie Nachwuchs.
In »Schach mit dem Dämon« gesteht Sheila ihrem Gatten in höchster Not, dass sie schwanger ist, was Bill schlagartig neuen Lebensmut und Kampfeswillen verleiht.
In Band 21 »Anruf aus dem Jenseits« ist es dann endlich so weit: John Conolly wird geboren, natürlich benannt nach seinem heldenhaften Patenonkel. Aber was will man machen? Die Serie heißt nun mal JOHN SINCLAIR .
Um Verwechslungen zu vermeiden, wird John Conolly allerdings ausschließlich Johnny gerufen. Dass Sheila zu Hause bleibt und sich um das Kind kümmert, während Bill durch die Welt jettet, mag auf den ersten Blick wie ein veraltetes Familienmodell anmuten, doch sollte man sich vor Augen halten, dass Bill das nicht tut, um die Familie zu ernähren.
Auch seine Fahrzeugwahl (Porsche) ist lediglich Ausdruck des damaligen Lebensgefühls. (Wir erinnern uns, dass Johns einziges Hobby sein silbergrauer Bentley war.) Sheila selbst begnügt sich übrigens mit einem Mini. Besonders an Johnny Conolly ist, dass er wohl die einzige Romanfigur ist, die quasi in Echtzeit altert. Später verlangsamt sich dieser Prozess dann aus naheliegenden Gründen, sodass Johnny noch heute Anfang/Mitte zwanzig ist.
Ihre »Normalität« wird den Conollys allerdings auch oft genug zum Verhängnis, denn mit einem kleinen Kind unter dem Dach wird man automatisch angreifbar und zum schwächsten Glied in der Kette. So dauert es nicht allzu lange, bis Sheila und Johnny ins Fadenkreuz der dunklen Mächte geraten und von Vampiren entführt werden (Band 33 bis 35).
Als Sheila in den Bann der »Augen des Grauens« (Band 80) gerät, passt Jane auf den Jungen auf, doch es soll noch dicker kommen. Nachdem bereits Jane Collins die Seiten gewechselt hat, gerät auch Sheila in die Fänge des Teufels. Bei dem Versuch, seine Frau zu retten, bleibt Bill »In der Hölle verschollen« (Band 286 bis 290). In dieser Zeit übernehmen Suko und Shao die Verantwortung für Johnny, inklusive der leidvollen Aufgabe, dem Jungen zu erklären, warum seine Eltern nicht nach Hause kommen. Umgekehrt sind es aber auch oft genug die Conollys, die als erste Anlaufstelle für John Sinclair herhalten, wenn er mal wieder für jemanden eine Unterkunft sucht, so zum Beispiel nach dem Tod der Schauspielerin Nadine Berger, deren Geist durch die Magie von Fenris, dem Götterwolf, in den Körper einer Wölfin fährt. Da John nicht weiß, wohin mit dem Tier, in dem immerhin eine menschliche Seele haust, beschließt er, es bei den Conollys unterzubringen (Band 199). Eine weise Entscheidung, denn so bekommt der kleine Johnny nicht nur eine Spielgefährtin, sondern auch eine Leibwächterin, die ihm mehr als einmal das Leben rettet. Als die Wölfin sich für John Sinclair opfert (Band 624), bricht für Johnny eine Welt zusammen. Aber das Leben geht weiter …
… bis zu jenem Tag, als Sheila von einem Dämon aus einer anderen Dimension okkupiert wird, der in ihrem Körper in seine Welt zurückkehren will. Durch eine folgenschwere Verkettung unglücklicher Umstände stirbt Sheila Conolly, und der mittlerweile erwachsene Johnny bleibt in der fremden Dimension verschollen (Band 2000 bis 2002).
Nicht nur für Bill Conolly, sondern auch für die Leserinnen und Leser brach damals eine Welt zusammen. Doch während Bill an einer dissoziativen Amnesie litt, bei der sich sein Verstand vor der Realität verschloss – er vergaß kurzerhand, dass er verheiratet und Vater gewesen war –, drohten zahlreiche Leserinnen und Leser mit dem sofortigen Ausstieg aus der Serie. Der Aufschrei der Fangemeinde war ähnlich groß wie damals, als Jane Collins zur Hexe geworden war. Vielleicht sogar noch größer und lauter, da sich die Gemüter dank des Austauschs in den sozialen Medien deutlich stärker erhitzten. Darüber tröstete auch der Umstand nicht hinweg, dass Johnny Conolly im bislang ersten und einzigen Spin-Off mit Bezug zur Hauptserie sein eigenes zweiundvierzig Bände andauerndes Abenteuer in DARK LAND erlebte, wo Menschen und Dämonen mehr oder weniger friedlich koexistierten.
Ein Jahr lang blieben Bill, der in der Zwischenzeit sein Gedächtnis zurückerlangte, und die Fangemeinde in dem Glauben, die Familie Conolly wäre endgültig auseinandergebrochen. Doch dann ergab sich eine Gelegenheit, dem Tod mithilfe der Magie der Nebelinsel Avalon doch noch ein Schnippchen zu schlagen … Als Sheila für kurze Zeit in der Hölle weilt, ist es der Erzengel Uriel, der sie aus der Finsternis ins Licht führt (Band 292 »Satans Knochenuhr«). Dafür fordert er später ihre Unterstützung, als Luzifer ihn zu manipulieren versucht (Taschenbuch/Sonder-Edition 49 »Der Flammenengel«). Dadurch bleibt etwas Engelsmagie in Sheila zurück, die zusammen mit der Magie von Avalon dafür sorgt, dass der Plan von Asmodis, die Nebelinsel im Namen Luzifers zu erobern, scheitert (Band 2052 bis 2054).
Auch Johnny Conolly kehrt in Band 2085 »Engelstöter« schließlich in den Schoß der Familie zurück. So ganz spurlos sind die Ereignisse allerdings nicht an den Conollys vorbeigegangen. Sheila, die sonst immer sehr besorgt und fast schon überängstlich reagierte, wenn ihr Mann Bill mit John Sinclair auf Dämonenjagd ging, wird deutlich kämpferischer, um ihrer Familie ein vergleichbares Martyrium in Zukunft zu ersparen – zumal ihr bewusst ist, dass es ihr wohl kein zweites Mal gelingen wird, dem Tod von der Schippe zu springen.
Darüber hinaus gründet sie gemeinsam mit Shao, Johnnys Freundin Cathy Graham, deren Schwester Emma und der Psychologiestudentin Marisa Douglas eine Stiftung zur Unterstützung der Opfer schwarzmagischer Angriffe. Eine Hilfe, die erst in zweiter Linie monetärer Natur ist und sich primär den psychischen Folgen und Traumata der geschädigten Personen widmet. An diesem Beispiel zeigt sich einmal mehr, dass Sheila Conolly nicht nur mit beiden Beinen auf dem Boden geblieben ist, sondern es beweist auch, dass sie eine innere Stärke hat, von der so manches männliche Teammitglied nur träumen kann.
Ein guter Grund, sich genauer mit dem Frauenbild und den Geschlechterrollen bei JOHN SINCLAIR auseinanderzusetzen.