DAS KREUZ DES HESEKIEL

»Dieses Kreuz ist uralt. Sieh die vier Zeichen, es sind die Insignien der vier Haupterzengel. Michael, Gabriel, Raphael und Uriel! Merke dir diese Namen. An jedem Ende des Kreuzes hat einer von ihnen sein Zeichen hinterlassen. Und wenn du willst, dass das Kreuz seine Kraft entfaltet, musst du die vier Namen rufen. Denk daran, die vier Namen!«

Gebannt hatte ich zugehört. Jetzt endlich wusste ich, was die geheimnisvollen Zeichen zu bedeuten hatten und wer sie hineingeätzt hatte. Ein Schauer lief mir über den Rücken. Was musste das Kreuz für eine Geschichte hinter sich haben? Sicherlich war es so alt wie die Urkirche selbst. Dann war es nach Rumänien gelangt und von dort aus nach England, um in meinen Besitz überzugehen. Stolz erfüllte mich. Stolz und Verantwortung.

»Die Vampirfalle«

Nicht nur John Sinclair war klar, dass er stärkere Geschütze benötigen würde, auch sein Schöpfer Jason Dark wusste dies. Das ist nun mal die Krux eines jeden Heldenepos’: Die Abenteuer müssen gefährlicher, die Gegner immer mächtiger werden. Spätestens als der Geisterjäger aus dem GESPENSTER -KRIMI ausgekoppelt wurde und seine eigene Serie erhielt, begriff Jason Dark, dass es nicht mehr ausreichen würde, wenn sein Held Woche für Woche gegen einen anderen Unhold antrat, den er am Ende besiegte. Er brauchte einen festen Antagonisten, in diesem Fall den Schwarzen Tod, der natürlich zudem deutlich mächtiger sein musste als die herkömmlichen Dämonen. Wenn er durch eine Silberkugel zu vernichten gewesen wäre, hätte es unglaubwürdig gewirkt, wenn ihm immer wieder die Flucht gelungen wäre. Gleichzeitig musste aber auch John Sinclair nachgerüstet werden, schließlich wäre es genauso schwer nachvollziehbar gewesen, wenn es der Supergegner nicht geschafft hätte, mit einem normalen Menschen fertigzuwerden.

Und so bekommt John schon kurz darauf ein geweihtes silbernes Kreuz verpasst, das mit geheimnisvollen Zeichen versehen ist und das er stets an einer ebenfalls silbernen Kette um den Hals trägt. Dieser Talisman ist handtellergroß, und an seinen abgerundeten Enden sind die Insignien der vier Erzengel eingraviert. Das erfährt John Sinclair in der ersten Vampir-Trilogie von Marek, dem Pfähler, dessen Familie das Kreuz lange Zeit besessen hat. Angeblich wurde mit ihm und dem Eichenpfahl der Mareks einst sogar Dracula getötet. Schließlich wird es seinem Neffen Kalurac zum Verhängnis, denn durch die Anrufung der vier Erzengel schießen gleißende Strahlen aus den Enden des Kreuzes, die die Vampirfledermaus so lange festhalten, dass John sie pfählen kann (Band 33 bis 35).

Ist dieses Kreuz anfangs kaum mehr als eine Defensiv-Waffe, die lediglich niedere Dämonen oder Untote vernichten und Besessene vom Einfluss des Bösen befreien kann, so kommt ihm ab diesem Dreiteiler schlagartig eine viel größere Bedeutung zu.

John Sinclair erfährt darin von der im ersten Zitat erwähnten Vera Monössy, dass es seine Bestimmung ist, gegen die Mächte der Finsternis zu kämpfen. Zur Erklärung: Die Begegnung zwischen John und der alten Frau findet in der Vergangenheit statt, kurz nachdem er die Polizeischule erfolgreich absolviert hat. Das Kreuz verschwand daraufhin in seinem Spind, wie John selbst erwähnt. Und scheinbar hat er es dort vergessen, schließlich kramt er es erst Jahre später heraus. Dies ist eine von vielen kleinen Ungereimtheiten, die unvermeidlich sind, wenn etwas, das als einmalige Sache geplant ist, sich plötzlich verselbstständigt.

Das Kreuz offenbart im Laufe der Serie weitere Geheimnisse, schließlich gibt es noch mehr Zeichen, die entschlüsselt werden wollen. Und die Anrufung der Erzengel wirkt auch längst nicht immer. Während des letzten Duells mit dem Schwarzen Tod gelingt es ihnen zwar, die vier Horror-Reiter zu besiegen, doch seinen Erzfeind muss der Geisterjäger auf andere Weise vernichten, und zwar mit dem magischen Bumerang, um den es weiter unten gehen wird.

Als Lady Sarah Goldwyn, die Horror-Oma, das Buch »Sieben Siegel der Magie« in die Hände fällt, muss sie mit Erstaunen feststellen, dass eines dieser Siegel John Sinclairs geweihtem Kreuz gewidmet ist, von dem sogar eine Abbildung existiert. Leider können weder er noch Lady Sarah das Buch lesen, da es in einer ihnen unbekannten Sprache verfasst ist. Schließlich nehmen John und seine Verbündeten Kara und Myxin eine Beschwörung vor. Zusammen mit dem Kreuz reist John Sinclair in die Vergangenheit, etwa ins Jahr 500, wo er auf einen sterbenden Makkabäer trifft, der ihm nicht nur erklärt, dass das Kreuz einst von dem Propheten Hesekiel im babylonischen Exil hergestellt wurde, er offenbart John auch die Bedeutung der restlichen Symbole (Band 232 bis 234). Tatsächlich ist Band 234 »Macht und Mythos« das erste Mal, dass das geweihte Kreuz detailliert auf einem Titelbild verewigt wurde.

Oben rechts, über dem »M« für Michael, befinden sich die ineinander verschlungenen Buchstaben »J« und »S«, die Initialen von John Sinclair, die bestätigen, dass er der letzte Träger des Kreuzes ist. Im Laufe der Jahrtausende wanderte es durch eine Vielzahl von Händen, unter anderem die von Richard Löwenherz und dem Templer-Großmeister Hector de Valois, ehe es in den Besitz der Familie Marek überging. Geschaffen wurde es jedoch einzig und allein für John Sinclair, den letzten Sohn des Lichts.

Unter dem »M« befindet sich das Allsehende Auge, eingefasst in ein gleichschenkeliges Dreieck. Es ist das Auge der Vorsehung, auch Gottesauge genannt, und von einem Strahlenkranz umgeben. Das Dreieck symbolisiert die Trinität beziehungsweise Dreifaltigkeit Gottes. Obwohl sich das Allsehende Auge auch im Christen- und Judentum sowie bei den Freimaurern findet und von Verschwörungstheoretikern gern mit den Illuminaten in Verbindung gebracht wird, liegt sein Ursprung vermutlich in der frühen ägyptischen Mythologie begründet, wo es ein Symbol für den Gott Osiris darstellt. Es soll die Menschen an die Wachsamkeit Gottes erinnern und John vor Gefahren warnen. Tatsächlich fungiert das Kreuz oft genug als Indikator für fremde, meist schädliche Magien, entweder indem es sich erwärmt, sobald es sich einer schwarzmagischen Quelle nähert, oder sogar verfärbt. Auf die Magie des Landes Aibon beispielsweise reagiert es mit einer leichten Grünfärbung. Haben Luzifer oder Lilith ihre Hände im Spiel, schimmert es bläulich und kühlt spürbar ab. Geht es um pharaonische Magie, kommt es vor, dass das Allsehende Auge aufleuchtet.

Auf dem, vom Betrachter aus gesehen, rechten Balken vor dem »R«, das für den Erzengel Raphael steht, befindet sich die heilige Silbe der Inder, das AUM . Sie steht am Anfang der Heiligen Schrift der Hindu und ihrer Gebete. Sie setzt sich aus den Anfangsbuchstaben der drei indischen Götter Agui, Varuna und Marut zusammen und symbolisiert die Elemente Feuer, Wasser und Luft. Es ist das heiligste Wort Indiens und darf bei JOHN SINCLAIR von keinem Unreinen ausgesprochen werden.

Auf dem linken Balken sind das »G« für Gabriel sowie das Auge des Horus dargestellt. Dem scharfen Blick des falkenköpfigen Gottes der Ägypter entgeht nichts, und er wacht auch über John Sinclair. Streng genommen ist auf dem Kreuz allerdings das Auge des Sonnengottes Re abgebildet, da die geschwungene Linie darunter nach links zeigt, die des eigentlichen Horusauges allerdings nach rechts.

Ganz unten hat der Erzengel Uriel sein Zeichen hinterlassen. Darüber befindet sich das Passionskreuz, ebenfalls mit einem Strahlenkranz. Es steht für Demut und Reue. Über dem Passionskreuz sind die griechischen Buchstaben Alpha und Omega eingraviert, die Anfang und Ende symbolisieren. Später erfährt John Sinclair, dass damit unter anderem der Prophet Hesekiel und er selbst gemeint sind: der erste und der letzte Träger des Kreuzes (Band 2300 bis 2303).

Als Nächstes folgen in drei Reihen winzige Schriftzeichen, die Hesekiel der jüdischen Kabbala entnommen hat. Dabei handelt es sich um eine der Urformeln, die die Welt zusammenhalten. Mit dieser Formel kann John Sinclair das Kreuz aktivieren und (fast) seine gesamte Macht geballt entfalten. Sie lautet: »Terra pestem teneto – salus hic maneto« , übersetzt: »Die Erde soll das Unheil halten, das Heil soll bleiben.«

Funfact: Jason Dark hat diese Formel einer magischen Schrift entnommen. Sie dient dazu, schmerzende Füße zu heilen.

Obwohl das Kreuz für John Sinclair erschaffen wurde, gelingt es auch seinen Freunden, den geweihten Talisman zu aktivieren. Suko rettet John dadurch mehrfach das Leben und bewahrt ihn unter anderem davor, von der Sonne Satans gegrillt zu werden (Band 1018). Erst nachdem das Kreuz von dem ominösen Täufer, hinter dem sich der abtrünnige Erzdämon Abraxas verbirgt, manipuliert wird, ist nur noch John Sinclair dazu imstande (Band 2014 bis 2016).

Über der Formel ist das sogenannte Ankh zu sehen, das Henkelkreuz der Ägypter, das Symbol für ewiges Leben, der immerwährenden Kraft und der Unzerstörbarkeit des Kreuzes.

In der Mitte des Talismans – dort, wo sich die Balken treffen – ist ein Sechseck in der Form von zwei sich überlappenden Dreiecken abgebildet. Das Hexagramm, unter anderem auch als Davidstern beziehungsweise als Siegel des Salomo bekannt, steht für das Gleichgewicht zwischen Gut und Böse. Während das untere Dreieck mit der nach oben zeigenden Spitze die Kräfte des Lichts symbolisiert, steht das nach unten weisende Dreieck für die Mächte der Dunkelheit und des Bösen.

Die Zeichen in der Mitte des Hexagramms wurden bis heute nicht entschlüsselt, doch es darf angenommen werden, dass sie mit Lilith in Zusammenhang stehen.

Dass die Große Mutter etwas mit dem Kreuz zu tun haben könnte, wird recht früh deutlich, denn schon bei ihrem ersten Auftritt in dem Paperback »Hexenküsse« gelingt es ihr, das Kreuz in einen unförmigen Klumpen zu verwandeln. Erst durch das Eingreifen der vier Erzengel und des geheimnisvollen Sehers, einer gestaltlosen Entität, die sich aus den Geistern von König Salomo, Nostradamus und John Sinclair selbst zusammensetzt (da haben wir wieder unsere Dreifaltigkeit), erhält das Kreuz seine alte Form zurück. Nicht lange nach diesem Vorfall stiehlt Lilith genau diese Zeichen aus der Mitte, wodurch es ihr gelingt, das Kreuz zu manipulieren.

Erst als Luzifer John Sinclair und Jane Collins in die Hölle entführt und Suko mithilfe des Dunklen Grals (siehe Kapitel 5) die Königin von Saba beschwört, kehren die verschwundenen Zeichen in die Mitte des Kreuzes zurück.

Ihr Geheimnis ist damit jedoch noch lange nicht gelöst. Vielleicht hängen sie mit dem geheimnisvollen Land Aibon zusammen, dem Paradies der Druiden, das auch als Fegefeuer bekannt ist. Dort steht jedenfalls das Rad der Zeit, auf dessen Mitte sich die gleichen Zeichen befinden.

Auch bei einer Reise auf die Insel Ynis Gwrach begegnen John die Symbole wieder – diesmal auf einer Urne. Sie sind das Siegel für das Herz der Corinfelia, einer Dienerin von Lilith. Wie sich herausstellt, hat die Große Mutter diese Zeichen häufiger dazu benutzt, um bestimmte Gegenstände oder Geschöpfe vor dem Zugriff Unbefugter (zu denen auch Asmodis zählt) zu schützen.

Möglicherweise haben die Zeichen mit einer weiteren Formel zu tun, die John aus dem Mund des Templer-Führers Abbé Bloch vernimmt, als dieser das Tor zum Jenseits schließt.

Auf alle Fälle ranken sich noch viele weitere Geheimnisse um das geweihte Kreuz, das untrennbar mit John Sinclairs Schicksal verknüpft ist. Es ist und bleibt seine mächtigste Waffe im Kampf gegen das Böse, obwohl es durchaus Situationen gibt, in denen ihm selbst der wertvolle Talisman nicht weiterhilft. Zum Glück besitzt der Geisterjäger noch weitere Waffen, die er im Laufe seiner Karriere ergattert, erobert oder geschenkt bekommt.