Susanoo und Amaterasu, die Sonnengöttin, waren Geschwister. Sie stammten wie alle hohen Götter von Izanagi und Izanami ab, den jüngsten Nachkommen von siebenhundert Göttergenerationen. Amaterasu regierte als oberste Göttin, bis sie von Susanoo vom Thron gestoßen wurde und im Dunkel der Dimensionen verschwand. Sie ging ein in das Dunkle Reich. Dort blieb sie auch, aber sie besaß mächtige Diener, zu denen auch der Goldene Samurai gehörte. Er kämpfte für sie und wollte ihr die Rückkehr auf die Erde ermöglichen. Eine ihrer wichtigsten Waffen hatte er nun an sich genommen, den Fächer. Aber er wusste nicht, wo sich Amaterasu befand. Das Dunkle Reich war für die »Normalen« verschlossen, so konnte er nur hoffen, dass die Sonnengöttin eines Tages zurückkehrte und mit ihrem Fächer das Reich vernichtete. Für diese Zeit wollte der Goldene ihn aufbewahren. Auch die Gegner wussten, dass der Goldene den Fächer besaß. Wenn ihnen das vielleicht gelang, was Tokata nicht geschafft hatte, konnten sie Amaterasu unter Umständen für immer vernichten, und es würde ihr nie eine Rückkehr gelingen. So sah die Lage aus, und Emma-Hoo, Herrscher der Jigoku, kannte die Verhältnisse.
»Tokatas Erbe«
Es ist wohl keine Übertreibung, wenn ich behaupte, dass die japanische Mythologie zu den exotischsten und fremdartigsten Themenkomplexen der Serie zählt. Das beweist unter anderem der Roman »Panik in Tokio« des Autors Walter Appel (Earl Warren), in dem der Geisterjäger Bekanntschaft mit dem Sturmgott Kamikaze macht (Band 37). Jason Dark hingegen entschloss sich, die japanische Mythologie sehr behutsam in die Serie einzuführen, zunächst mit einer fiktiven Figur namens Tokata, dem Samurai des Satans und Anführer der grausamen Fünf, der von Dr. Tod als erstes Mitglied der Mordliga rekrutiert wird (Band 114). Dabei zeichnet sich Tokata vor allem dadurch aus, dass er gegen die meisten Waffen des Sinclair-Teams immun ist, insbesondere gegen Johns Kreuz. Respekt hat Tokata eigentlich nur vor der Dämonenpeitsche und dem magischen Bumerang, den er John jedoch rasch abnimmt, auch wenn ihm die Aktion einen Arm kostet (Band 123). Erst als »Dämonen im Raketencamp« (Band 189) auftauchen und in einem Tempel in den Everglades der Goldene Samurai erwacht, wird es schlagartig mystischer. Plötzlich ist die Rede von der japanischen Hölle Jigoku und ihrem Herrscher Emma-Hoo (der übrigens identisch mit Asmodis ist, wie John später von Nostradamus erfährt [Band 202]).
Nach und nach werden weitere Puzzlesteine zum Mosaik der japanischen Mythologie hinzugefügt. In dem Taschenbuch »Tokatas Todesspur« kommt es auf der Insel des Schweigens zum Zweikampf zwischen den Todfeinden Tokata und dem Goldenen Samurai, der sich als Diener der Sonnengöttin Amaterasu outet, deren Fächer er sucht (Sonder-Edition Band 14).
Schließlich findet der Goldene den Fächer und nimmt ihn an sich, während Tokata im Kampf unterliegt und Harakiri begeht. Sein Schwert bleibt auf der Insel zurück und wird schließlich von dem japanischen Gott des Meeres, Susanoo, in Besitz genommen. Susanoo ist Amaterasus dunkler Bruder, der alles daran setzt, dass seine Schwester im Dunklen Reich gefangen bleibt. Aus diesem Grund entführt er auch ihre letzte Nachfahrin: Shao (Band 226). In der japanischen Mythologie ist Amaterasu (»die am Himmel leuchtende, große, erhabene Gottheit«) übrigens die Ahnengöttin des japanischen Kaiserhauses. Sie ist die ältere Schwester von Susanoo und Tsukiyomi und entstand, als ihr Vater Izanagi sein linkes Auge mit Meerwasser auswusch, nachdem er aus der Unterwelt zurückgekehrt war. Der Legende nach zog sich Amaterasu aufgrund der Missetaten ihres Bruder Susanoo in eine Höhle zurück, aus der sie jedoch mithilfe eines Spiegels wieder herausgelockt wurde.
In der Serie JOHN SINCLAIR ist es allerdings kein Spiegel, sondern ein Fächer, mithilfe dessen sie sich befreien könnte, und bislang ist Amaterasu die Rückkehr aus der Dunkelwelt nicht geglückt. Der Goldene Samurai wird nämlich wenig später in der Arena des Ninja-Dämons Shimada getötet, der den Fächer an sich nimmt.
Shimada, die Lebende Legende, der Herr der tausend Masken, ist eine Erfindung von Jason Dark und tritt zum ersten Mal in Band 281 in Erscheinung.
In den uralten japanischen Mythen und Legenden nannte man ihn das blaue Auge. Und wie eine geheimnisvolle unergründliche Pupille schimmerte auch die Oberfläche des kleinen Sees. Seine Tiefe war unermesslich. Niemand hatte sie bisher ausgelotet, und in den Schriften hieß es, dass der See direkt zu Emma-Hoo, dem Teufel, in die Jigoku, die Hölle, führen würde. Überall gab es diese Zugänge, war es nun ein See, ein alter Schrein, ein Berg oder eine geschnitzte Tür. Das Land war prall gefüllt mit geheimnisvollen Dingen, die Generationen von Göttern geschaffen und auch zurückgelassen hatten. Und die Menschen wussten das. Sie akzeptierten es, brachten den Stärkeren Opfer oder flohen, wenn sie sich nicht mit ihnen arrangieren wollten.
»Shimadas Mordaugen«
Der Roman erschien 1983, also zu einem Zeitpunkt, als eine Welle von Ninja-Filmen die Kinos und Videotheken überschwemmte. Daraufhin tritt Susanoo in den Hintergrund und lässt Shimada den Vortritt, der es zunächst mit Xorron und dessen Schutzpatronin Pandora, der Unheilbringerin aus der griechischen Mythologie, aufnimmt (Band 283 bis 285).
Später taucht »Die lebende Legende« unvermittelt in San Francisco auf, wo sich ein Kloster der Ninja befindet, dessen Vorstand der Türke Yakup Yalcinkaya übernimmt, nachdem Shimada dessen Freundin Helen ermordet hat (Band 330 und 331). In den folgenden Wochen und Monaten lernen Yakup und John Sinclair nicht nur »Shimadas Höllenschloss« kennen, es kommt auch zum »Zweikampf um die Ninja-Krone«, der im »Roboter-Grauen« endet (Band 414 und 415). Dabei gelingt es Yakup, die sagenumwobene Krone der Ninja zu erobern, über die bereits in Kapitel 4 berichtet wurde. Einige Monate später meldet sich auch Susanoo zurück und versetzt dem Sinclair-Team, allen voran Suko, einen Schock, als es der Dämonentrommler Ondekoza schafft, Shao zu töten (Band 450 und 451). Doch Amaterasu erweckt ihre letzte Nachfahrin wieder zum Leben und macht Shao zum Phantom aus dem Jenseits (Band 456). Gemeinsam mit ihrer Hilfe erringt Yakup in den folgenden Jahren große Siege, so erobert er die heilenden Handschuhe des Drachengottes sowie das Schwert Kusanagi-no-tsurugi (Band 486 und 487; Sonder-Edition Band 101). Doch diese Siege fordern einen hohen Preis, denn Shimada nimmt blutige Rache.
Vieles davon entstammt der Fantasie von Jason Dark, aber eben nicht alles. So wie beispielsweise die Tengus, die zu den gefährlichsten Dämonen überhaupt gehören, da sie als unbesiegbar gelten (Band 630). Jason Dark beschreibt sie wie folgt:
Der Tengu ist der schlimmste aller uns in Japan bekannten Dämonen. Sie wissen selbst, wie vielfältig ihre Zahl ist. Es gibt bei uns Geschichten über Tengus, die mehr als tausend Jahre alt sind. Sie werden in Zusammenhang gebracht mit schwarzen Totenvögeln. Ihre Seelen setzen sich in diesen Tieren fest, wobei es nicht nur auf Tiere beschränkt bleibt. Ein von einem Tengu besessener Mensch verleiht diesem eine ungeheure Angriffswut und eine kaum zu beschreibende Kraft. Ich habe Tengus erlebt, die in Stücke geschlagen wurden und trotzdem weiterlebten.
»Das Tengu-Phantom«
Natürlich gelingt es John und Suko, dem Tengu trotzdem den Garaus zu machen, auch wenn sein Geist später in den Körper einer Strige schlüpft und erst durch Shaos Eingreifen vernichtet werden kann (Band 631). Im Taschenbuch »Ninja-Rache« begegnen sie den Tengus noch ein weiteres Mal (Sonder-Edition Band 121), ehe diese wieder in der Versenkung verschwinden. Es stimmt zwar, dass die japanischen Geister und Dämonen zu den schauerlichsten Kreaturen gehören, die man sich vorstellen kann, doch ausgerechnet die Tengus machen einen eher harmlosen Eindruck. Bellinger beschreibt sie in seinem Lexikon der Mythologie als »Berg- und Waldkobolde, die in Baumstämmen hausen und Kinder erschrecken. Ihr Anführer ist Sojo-bo. Dargestellt werden sie mit einem Schnabel und langer Nase.«
In den folgenden Jahren wird es ruhiger um die japanische Mythologie. Zwar gelingt es Yakup Yalcinkaya und Suko, Shimada zu vernichten, doch der Fächer bleibt verschollen, die Sonnengöttin gefangen in der Dunkelwelt (Band 978). Shao ist längst zu ihrem Gefährten zurückgekehrt, auch wenn sie weiterhin auf der Suche nach dem Fächer ist, der von Susanoo aber gut versteckt wurde. Eine erste Spur scheinen die Söhne Nippons zu sein, ein Geheimbund aus Japan, dessen Anhänger Susanoo hörig sind. Sie verfolgen einen Mann namens Kenny Han, der das Auge der Amaterasu hütet, einen grünlich schimmernden Kristall, den er Shao überbringt, bevor ihn sein Schicksal ereilt. Daraufhin beginnt »Shaos Rachetour«, allerdings ohne dass sie weitere Informationen über die Söhne Nippons oder gar das Versteck des Fächers bekommt (Band 1609). Zwar treffen Suko und Shao später noch einmal auf die Söhne Nippons und »Drei böse Geister« (Band 2011), doch auch hier erfahren sie nichts über den Fächer der Amaterasu.
Dafür bekommen sie es kurz darauf mit einem wirklich gefährlichen Rachegeist aus der japanischen Mythologie zu tun, einem Inugami , was übersetzt so viel wie »Hundegeist« oder »Hundegott« bedeutet. Inugamis können nur von Mitgliedern einer speziellen Familie, den Inugami mochi, beschworen werden. Dazu wird ein Hund lebendig begraben, bis nur noch der Kopf herausschaut. Eine Schale mit Futter wird knapp außerhalb seiner Reichweite vor die Schnauze gestellt. Kurz bevor der Hund verhungert, schlägt der Beschwörende ihm das Haupt ab. Aus dem Blut entsteht der Inugami. Der Körper eines Inugamis scheint aus schwarzem Rauch zu bestehen, der wolfsartige Schädel und die Klauen können jedoch feste Gestalt annehmen. Darüber hinaus ist das Wesen imstande, in der Gestalt jenes Hundes in Erscheinung zu treten, durch dessen Opfer er beschworen wurde. Der Inugami verströmt eine eisige Kälte, die seine Opfer lähmt. Vor dieser Kälte schützen nur das Auge der Amaterasu und das aktivierte Silberkreuz, dessen Magie jedoch nicht ausreicht, um den Geist zu vernichten. Auch die Ninja-Krone macht den Träger oder die Trägerin unempfänglich für die magische Kälte.
In London wird ein Inugami beschworen, als sich die Söhne eines einflussreichen Geschäftsmannes an Chiko Yamamoto, der Tochter von Angehörigen eines Inugami-mochi-Clans vergehen, vor Gericht aber freigesprochen werden. Der Inugami nimmt blutige Rache. Kurz darauf gerät jedoch auch Chikos Partner ins Visier eines Rachegeistes, denn den Inugami mochi ist es verboten, außerhalb der Familie zu heiraten. Aus Scham tötet Chikos Mutter ihren Gatten, der den Inugami beschworen hat, und bringt sich daraufhin selbst um, in der Hoffnung, den Rachefeldzug des Dämons dadurch zu stoppen. Doch das ist ein Irrtum. Erst Shao gelingt es mithilfe der Krone der Ninja und dem Schwert Kusanagi-no-tsurugi, den Hundegeist zu vernichten (Band 2019).
Noch drei weitere Male bekommen es John, Suko und Shao mit diesen Rachegeistern zu tun. In »Inugami – die Rückkehr« entführt ein Yakuza, der auch zu den Söhnen Nippons gehört, Chikos Freund. Er verlangt von ihr, dass sie einen Inugami beschwört, damit er mit dessen Hilfe einen lästigen Konkurrenten der Londoner Unterwelt aus dem Weg räumen kann (Band 2062). Zu einer weiteren Konfrontation mit einem Inugami kommt es, als Chiko Yamamoto von ihrem Onkel entführt wird. Wie sich herausstellt, sind Chikos Eltern ihretwegen aus Japan nach London geflohen, um ihr ein Leben außerhalb der Traditionen der Inugami mochi zu ermöglichen, (Band 2161). Shao verfolgt Chiko und ihre Entführer bis zu einer Insel, auf der die Inugami mochi leben. Dort kommt es zum finalen Kampf mit der Kunoichi Shizune, die im Auftrag von Susanoo den Gehorsam der Inugami mochi einfordert (2162).
Einem besonders perfiden Vertreter der japanischen Geisterwelt begegnen John und seine Freunde in der Krähenfrau, bei der es sich um eine Ubumetori, eine Vogelfrau, handelt. Sie rächt sich für den Tod ihrer Tochter Nomi, die von ihren Mitschülern in den Selbstmord getrieben wurde (Band 2112). Der Begriff setzt sich aus den Worten ubume und tori zusammen. Tori bedeutet Vogel, während ubume der Geist einer qualvoll gestorbenen Mutter ist. Ihr wird ein wankelmütiger Charakter nachgesagt. Einigen Überlieferungen nach soll sie ihr Kind arglosen Menschen in die Hände geben, woraufhin das Bündel immer schwerer wird, bis es das Opfer unter sich zerquetscht. In meinem Roman verknüpfe ich den Mythos übrigens mit dem Momo-Phänomen, einem Kettenbrief, der angeblich von einem toten japanischen Mädchen namens Momo per WhatsApp verschickt wird. Kindern und Jugendlichen wird angedroht, dass ihnen oder ihren Angehörigen etwas Schreckliches zustoßen wird, sollten sie die Nachricht nicht weiterleiten.
Tatsächlich basiert auch Momo auf der Sage der Ubumetori. Die Figur des Mädchens mit den übergroßen Augen und der verzerrten Grimasse steht in einem Kunstmuseum in Tokio.
Japanische Geister und Dämonen sind für John Sinclair unter anderem deshalb so gefährlich, weil sie gegen die meisten seiner Waffen gefeit sind. Zum Glück hat der Geisterjäger in Shao eine erfahrene Expertin, was die japanische Mythologie betrifft.
Dass es dabei zu Überschneidungen mit der chinesischen Mythologie kommt, ist nicht sehr verwunderlich. Sehr viel verblüffender ist da schon die Tatsache, dass ausgerechnet Pandora die Rolle der Beschützerin von Shimada eingenommen hat. Nicht, dass es ihm allzu viel genutzt hätte. Aber das ist eine andere Geschichte.