13. Gangsterbraut

Mama fiel natürlich aus allen Wolken, als ich mit geballten Fäusten und zitternder Wut vor der Haustür stand.

«Kind, was ist passiert?» Sie führte mich gleich in die Küche und kochte mir Tee. Ich machte keine Umschweife mehr, sondern schüttete ihr gleich mein ganzes Herz aus, wie verletzend und gewalttätig Domenico mich behandelt hatte.

«Kind!» Mama nahm meine Hände und massierte sie sanft, wie sie es oft zu tun pflegte, wenn ich wütend oder traurig war. «Es ist verständlich, dass du verletzt bist. Das wäre ich auch! Aber weißt du … es klingt vielleicht merkwürdig, aber irgendwie kann ich ihn trotz allem auch verstehen.»

«Verstehen?», brauste ich auf. «Er hat kein Recht, mich so anzubrüllen! Mich so zu behandeln! Mir so wehzutun! Nach allem, was ich für ihn getan habe!»

«Nein, natürlich hat er das nicht. Aber du musst verstehen, was für einen Schmerz er durchmacht. Er hat seinen Bruder verloren, und nun ist man seiner Meinung nach im Begriff, ihm auch noch die Schwester wegzunehmen. Das ist grausam. Das ist, als würden Paps und ich von dir weggenommen werden. Ich kann verstehen, dass er so rumtobt, weil er nicht weiß, wie er diesen Schmerz sonst loswerden soll. Und er weiß genau: Wenn er dir anvertraut, wohin er geht, bist du verpflichtet, es uns zu melden. Und bedenk auch mal, wie er sich neben dir vorkommen muss. Du kommst aus einem guten Haus, hast Eltern, die sich um dich kümmern, gehst zur Schule, und er hat überhaupt nichts von alldem. Wie muss er sich denn da fühlen?»

«Meinst du?» Langsam beruhigte ich mich ein wenig.

«Bestimmt. Er hat dich gern, das weißt du doch. Natürlich muss er unbedingt lernen, mit diesem Jähzorn umzugehen. Und es geht natürlich auch nicht, dass er jetzt einfach mit Bianca durchbrennt. Irgendeine Lösung müssen wir schon für die beiden finden. Nur, welche?»

Ja, welche? Und das war nicht alles, worüber ich mir den Kopf zerbrechen musste. Da war noch etwas, was mir eiskalte Schauer über den Rücken jagte. Die Sache mit dem Blut nämlich, das er gehustet hatte. Ich überlegte mir, ob ich es Mama sagen sollte. Doch ich fürchtete mich davor, meine schrecklichste Vermutung von ihr bestätigt zu bekommen, nämlich dass Nicki eine schlimme Krankheit hatte. Und so lange er sich mit Bianca auf der Flucht befand, ließ es sich leichter mit einer vagen Vermutung leben als mit einer ausgesprochenen Tatsache.

Müde ging ich etwas später nach oben. Ich öffnete meine Schublade und zog die Schachtel heraus. Die Fotos von Nicki und Mingo lagen obenauf. Ich schaute sie lange an. Nein, ich würde Nickis Bild nicht zerreißen … das brachte ich einfach nicht fertig. Trotz allem. Aber mein Herz tat weh, meine Eingeweide taten weh, alles tat weh. Ich nahm Mingos Bild heraus und legte es in die Schublade meines Nachtschränkchens, direkt auf meine Bibel.

In dieser Nacht durchweichte ich mein Kopfkissen mal wieder mit Tränen und verstand einfach nicht, warum mich dieser Junge dauernd zum Heulen brachte. Es konnte mir doch echt egal sein, was er machte! Schließlich hatte ich Leon!

Aber das ging einfach nicht. Es war mir nicht egal. Es fühlte sich an, als wäre ein Stück von mir rausgeschnitten worden.

Am nächsten Tag betrat ich total zermanscht den Schulhof und sah Patrik einsam unter der Linde auf mich warten. Im Gegensatz zu meinem Gesicht, das wie drei Tage Regenwetter aussah, strahlte seines wie die Sonne. Ich ging auf ihn zu.

«Hey, Patrik, was gibt's Neues?»

«J-jenny hat mich geküsst», hauchte er leise und wurde puterrot.

«Echt?» Das brachte einen Moment lang sogar hinter meinen düsteren Wolken einen kleinen Sonnenstrahl hervor. Jenny und Patrik? Das war ja wirklich süß!

«S-sie sagte, sie f-fände mich voll cool!»

Cool … na ja, Patrik war nicht gerade ein cooler Typ, aber einer der nettesten Jungs, die ich kannte. Und wenn ich jemandem von Herzen eine Freundin gönnte, dann ihm!

«Das ist doch schön! Magst du sie auch?»

«J-ja … s-sie ist ein bisschen c-crazy, aber sonst ganz nett!» Patrik sah an sich runter. «S-sie sagte mir, es st-störe sie überhaupt nicht, dass ich st-stottere und dick sei! Und m-mich stört es ja auch nicht, d-dass sie nur eine H-hand hat. I-ich finde sie wirklich s-süß! U-und sie ist kleiner als ich …»

Das war wichtig. Es gab nicht viele Mädchen, die kleiner waren als Patrik!

«Aber w-was ist mit dir?» Patrik blickte besorgt zu mir hoch. «D-du guckst so traurig. I-ist was mit N-nicki passiert?»

«Ach …» Ich schilderte Patrik in kurzen Worten, was sich am Vorabend abgespielt hatte. Was für verletzende Worte mir Nicki an den Kopf geworfen hatte. Patrik war völlig fassungslos.

«D-das … das ist … ja … das k-kann ich ja gar nicht glauben! Dabei hast du s-so viel für ihn getan …»

Ich winkte ab. «Na ja, was soll's. Soll er halt wieder abhauen, wenn er das für richtig hält!» Ich hatte jetzt eisern beschlossen, mich keinesfalls mehr davon fertigmachen zu lassen.

Der Schulmorgen dehnte sich zu einer Ewigkeit aus. Ich hielt vergeblich nach Leon Ausschau. Ich wollte unbedingt mit ihm reden. Ich hatte mich die letzten Tage wieder so wenig um ihn gekümmert. Das tat mir leid. Und er hatte mir überhaupt keine Vorwürfe gemacht. Doch an diesem Tag tauchte er nicht in unserem Pausenhof auf. Ich seufzte und ging zurück zu den anderen, um mir Ronnys dämliche Sprüche anzuhören und Manuelas besorgten Blicken zu begegnen.

Ich war froh, als die Schule endlich aus war. In der Hoffnung, dass Leon vielleicht jetzt noch auftauchen würde, schlenderte ich langsam in den hinteren Trakt zum Eingang des Gymnasiums und setzte mich dort für eine Weile auf die Treppenstufen. Schüler kamen raus und gingen an mir vorbei, doch Leon blieb wie vom Erdboden verschluckt. Die Einzige, die mir begegnete, war Isabelle, und die konnte ich nun echt überhaupt nicht gebrauchen!

«Na, du Gangsterbraut!», höhnte sie und stolzierte an mir vorüber. «Nettes Date, das du da hast!» Sie nickte mit ihrem spitzen Kinn rüber zum Schultor. Ich verstand nicht, was sie meinte.

«Die haben nach dir gefragt!», rief sie mir über die Schulter hinweg zu und stelzte mit ihrem wiehernden Lachen davon.

Ich gab es auf und steuerte auf den Ausgang zu. Zwei junge Typen mit schwarzen Mützen und ein Mädchen mit Kapuze lungerten vor dem Tor herum und pafften Zigaretten. Ich wollte an ihnen vorbeigehen, als ich spürte, dass sie ihre Blicke fest auf mich richteten.

«Da ist sie!»

Das Mädchen zog die Kapuze runter und kam mit einem fiesen Grinsen auf mich zu. Ich blieb abrupt stehen. Schon wieder diese Janet Bonaventura! Was machte die denn hier? Im ersten Moment war ich zu baff, um Angst zu fühlen. Oder inzwischen auch zu geübt darin, geschockt zu werden. Ich fühlte einfach irgendwie gar nichts. Nur leere Gleichgültigkeit. Sogar dann noch, als Janet mir ihren Kaugummi vor die Füße spuckte und mich herausfordernd anschaute.

«Du weißt bestimmt, wo Nic ist, nicht wahr?»

«Nein.» Meine Stimme war getränkt von Bitterkeit. Woher sollte ich das wissen, wo er sich doch geweigert hatte, mich darüber aufzuklären?

«Lüg mich nicht an!» Sie pirschte näher an mich ran und pustete mir ihren schalen Atem ins Gesicht, der wie ein voller Aschenbecher roch. «Du bist doch seine Tussi!»

«Ich bin nicht seine Tussi.» Ich wartete vergeblich auf die Angst, aber sie kam nicht.

«Ich hab dich aber gestern mit ihm gesehen! Sogar Arm in Arm. Also lüg mich gefälligst nicht an!» Janet trat mir kräftig auf den Fuß. Ich biss auf die Zähne. Es tat verflixt weh!

«Janet, hör auf!» Einer der beiden Typen zog Janet von mir weg. «Die arme Puppe kann doch nix dafür!»

Puppe? Ich nahm den Typen genauer in Augenschein. Diese Visage hatte ich doch schon mal gesehen! Na klar, das war Mike Castello, der Typ, dem Mingo die Stereoanlage demoliert hatte. Mikes legendäre Glatze war diesmal unter seiner Mütze verborgen. Gehörte der etwa auch zu Janets Gang? Auch Paps und ich hatten schon mal mit ihm zu tun gehabt. Ob er mich noch erkannte? Er verzog jedenfalls keine Miene.

«Klappe, Mike! Hör mir zu, Mädchen!» Janets Stimme klang wie eine scharfe Rasierklinge. Sie brachte ihr Gesicht noch näher an meines heran als vorhin. Ich konnte beinahe ihre fettigen Pickel auf der Stirn zählen.

«Das Ganze hier ist 'ne knallharte Angelegenheit. Die Zwillinge sind uns noch einiges schuldig. Und das muss Nic uns zurückzahlen. Also?» Sie spreizte ihre Finger, legte sie dann um meinen Hals und bohrte ihre schwarzen Killernägel in meine Kehle.

«Aber was hab ich denn damit zu tun?», würgte ich. Langsam wurde mir klar, wie ernst das Ganze war. Sie ließ mich wieder los und versetzte mir einen ziemlich derben Kinnhaken.

«Dummerchen! Ich brauch die Adresse von Nic. Wird's bald?»

Ich verzog mein Gesicht; ich hatte mir durch den Schlag auf die Zunge gebissen. Doch ich riss mich zusammen und sah Janet fest an: «Ich habe keine Ahnung, wo er ist.»

«Lügnerin! Ich weiß, dass du seine Freundin bist!»

«Ich bin nicht mehr seine Freundin.» Ich wich einen Schritt zurück, doch hinter mir war der andere Typ. Sie hatten mich eingekreist, ohne dass ich es bemerkt hatte.

«Ach, du arme Kleine, hat er dich etwa schon wieder sitzenlassen?» Ihre Stimme triefte vor Spott. «Du tust mir ja so leid. Aber weißt du, das war vorhersehbar. Also mach dir nichts draus. Und bestimmt hat er dir noch vorgeheult, was für 'ne falsche und hinterlistige Schlange ich sei, weil ich seinem beknackten Bruder angeblich Drogen angedreht hab, was? Aber soll ich dir sagen, wie es wirklich war? Willst du die Wahrheit über Nics brutalen Bruder wissen? Ich bin nämlich die, die dir leidtun sollte!»

Ich seufzte. Ich wollte überhaupt nichts mehr hören. Ich wollte nur noch daheim in mein Bett kriechen und mir die Ohren zuhalten.

«Ich wollte ihm nämlich gar keine Drugs geben. Er wollte sie von mir haben! Er hat mich regelrecht darum angefleht! Und sogar mit dem Messer bedroht! Er hätte mir glatt die Kehle aufgeschlitzt, wenn ich ihm keine gegeben hätte. Nic glaubt mir das natürlich nicht, aber es ist wahr. Ich schwör's. Hast Mingo ja gekannt, oder? Hast ja sein Messer auch gesehen, nicht?» Sie schob den Ärmel zurück und zeigte mir die Narbe einer langen, schlecht verheilten Schnittwunde an ihrem Unterarm. «Da. Das hier ist ein ewiges Andenken an den lieben kleinen Mingo! Und dafür hat Nic mich fast krankenhausreif geprügelt!»

Ich schüttelte den Kopf. Domenico hatte mir die Geschichte ganz anders erzählt. Aber wer sagte nun die Wahrheit, Janet oder Domenico?

«Du lügst», sagte ich, doch meine Stimme klang unsicher.

«Habe ich dich jemals angelogen?», sagte sie listig. «Ist etwa nicht alles wahr gewesen, was ich dir erzählt habe? Hey, ich hab diese Zwillinge gut genug gekannt, das kannst du mir glauben. Ich könnte dir noch mehr erzählen», höhnte sie. «Soll ich? Willst du die Geschichte hören, wie Mingo mit dem Messer eine arme alte Frau bedroht und ihr die Tasche weggerissen hat, weil er so dringend Stoff brauchte? Oder wie Nic mit drei Mädchen gleichzeitig was hatte? Oder wie er sich den Körper und die Pulsadern aufgeschlitzt hat?»

«Hör auf!», schrie ich aus Leibeskräften. Noch mehr solche Geschichten, und mein Gehirn würde endgültig durchbrennen. Ich wollte weg von hier, nichts wie weg, doch Janet hatte sich mir wie eine Säule in den Weg gestellt. Mike sah mich bedauernd an:

«Tut mir wirklich leid, Puppe. Die Zwillinge waren ja gute Kumpels von mir. Aber ich mein, nimmt dieser bekloppte Junkie doch einfach meine Stereoanlage auseinander! Ich dachte, mich tritt ein Pferd, als ich das gesehen hab. Das kann ich ja wohl nicht einfach auf mir sitzen lassen, oder? Kann ja auch nix dafür, dass er sich selber ratenweise mit dem Eitsch umgebracht hat. Hab ja versucht, ihm den Blödsinn auszureden. Nic war ja nicht da. Lag sturzbesoffen und knutschend mit 'ner Tussi in 'ner Ecke rum, und ich hab Mingo geschüttelt und ihm eingetrichtert, dass er mit dem Mist sofort wieder aufhören soll. Aber du hättest den mal sehen sollen! Der hat rumgelallt und kam sich vor wie im Himmel. Hat zwar am nächsten Tag beteuert, er würde es nie mehr tun, aber denkste! Wenn du drin bist, bist du drin. Nic war voll fertig, als er das mitgekriegt hat.»

Ich wollte etwas erwidern, doch Janet ließ mich nicht mal Atem schöpfen.

«Hör zu, meine Liebe», sagte sie in einem falschen, honigsüßen Tonfall. «Ich an deiner Stelle würde mich von Nic einfach fernhalten. Er wird so eine arme zarte Seele wie dich nur zerquetschen! Aber die Kohle brauchen wir trotzdem. Morgen früh warte ich hier vor der Schule auf dich. Dann sagst du mir entweder, wo Nic steckt, oder du bezahlst ganz einfach die zweihundert Mäuse an seiner Stelle. Klaro?»

Ich hielt die Luft an. Wie bitte? Ich sollte also letztendlich für die Schulden der Zwillinge aufkommen? Ich war tatsächlich mitten in eine Erpressung reingelaufen! Die Stricke zogen sich immer enger um mich, und ich war ein Teil von Domenicos dunkler Welt, ob ich es nun wollte oder nicht. Ich war tatsächlich … die Freundin eines Gangsters!

«Keine Widerrede!» Sie spuckte mir vor die Füße. «Und komm ja nicht auf die Idee, deine Alten oder die Polizei einzuschalten. Wenn ich nämlich Ärger mit der Polizei kriege, dann hab ich genügend Leute, die dich so lange verfolgen werden, bis wir dich haben. Und Nic werden wir dann das Leben erst recht zur Hölle machen. Merk dir das! Mario …»

Der andere Typ, der bis jetzt nur wie ein Klotz hinter mir gestanden hatte, trat auf Janets Nicken einen Schritt vor und drückte mir etwas gegen den Bauch. Ich hielt die Luft an.

«Keine Angst!» Janet lachte höhnisch über mein entsetztes Gesicht. «Wir brauchen dich ja noch! Nur damit du siehst, dass wir das ernst meinen! Mario …» Sie nickte ihm erneut zu, und Mario zog die Hand wieder zurück. Bevor er den Gegenstand wieder in seiner Jackentasche versteckte, konnte ich sehen, was es war. Das Blut wich aus meinen Fingerspitzen und Zehen und gefror in meinem Innern zu einem Klumpen. Es war eine kleine Pistole!

«So, das dürfte klar sein!» Janets Stimme klang wie ein Becher voll Galle. «Morgen früh sagst du mir, wo Nic ist. Sonst bist du dran.»

Ich schluckte mit schwerer Zunge und warf einen letzten flehenden Blick auf Mike. Doch der schwieg mit eiserner Miene und verschränkte seine stämmigen Arme vor seiner Brust. Janet stieß mich zur Seite.

«Nun zisch schon ab!»

Ich fiel auf den Boden und rappelte mich wieder hoch. Meine Beine wollten mir nicht mehr richtig gehorchen, als ich davonrannte. Als wären sämtliche Knochen einfach verschwunden. Ich stolperte ein zweites Mal auf den Gehsteig, raffte mich mit einem zerschundenen Knie wieder auf und rannte weiter, beinahe gefühlsleer von dem Chaos in meinem Kopf.

Zuhause schlang ich mein Essen hinunter, und als Mama mich fragte, was mit mir nicht stimmte, erzählte ich ihr schnell von Isabelle und ihren fiesen Sprüchen. Das war immerhin nicht gelogen.

Gangsterbraut! Tja, das war jetzt also Isabelles neuste Masche … Paps war zum Glück voll und ganz mit einem schwierigen Fall aus seiner Praxis beschäftigt, und meine Eltern redeten fast ausschließlich davon. Dass ich eine betrübte Miene aufsetzte, war ja eh auch nichts Neues mehr für sie. Nach dem Essen verzog ich mich in mein Zimmer und warf mich erst mal auf mein Bett, um all das Chaos in meinem Kopf zu ordnen.

Mist und nochmals Mist. Ich war nun echt knüppeldick in der Klemme! Die Freundschaft zu Domenico forderte langsam ihren Tribut. Ich wurde in all diese Dinge reingezogen, die nie zu meinem Leben gehört hatten. Ich hatte nun echt schreckliche Angst. Mein sehnlichster Impuls war natürlich, Mama alles zu erzählen. Doch was dann geschehen würde, konnte ich mir in den grässlichsten Farben ausmalen.

Meine Eltern würden natürlich die Polizei benachrichtigen. Janet würde vielleicht gesucht und festgenommen und verhört werden. Doch ihre ganze Gang würde sich aufmachen, um sich an mir und Domenico zu rächen. Ich würde meines Lebens nicht mehr sicher sein. Ich würde nirgends mehr hingehen können ohne Angst, überfallen zu werden. Allein diese Vorstellung war ein folternder Alptraum.

Andererseits … ich musste ihr ja nur sagen, wo Domenico war. Dann würde sie mich in Ruhe lassen. Dann wäre ich aus dem Schneider. Nur, war er in die WG zurückgekehrt? Ich bezweifelte es … Doch zumindest das konnte ich herausfinden. Ich brauchte ja nur anzurufen. Also ging ich runter in die Diele und schnappte mir das Telefon. Mama warf mir ein Fragezeichen zu.

«Ich versuch Domenico anzurufen», erklärte ich.

«Er ist nicht in der WG, Maya», sagte Mama traurig. «Wir haben es heute Morgen auch schon versucht. Er ist seit gestern Abend verschwunden. Ich wollte es dir vorhin nicht sagen, weil du so aufgewühlt warst. Wir haben heute Vormittag bei der Polizei eine Vermisstenanzeige aufgegeben.»

Ich stöhnte. Mama sah mich prüfend an.

«Was fehlt dir, Kind?»

«Nichts», murmelte ich schnell und ergriff die Flucht. Auf dem Weg nach oben begann ich über die zweite Möglichkeit nachzudenken, nämlich zweihundert Euro aufzutreiben und die Schulden zu bezahlen. Aber das würde bedeuten, dass ich mein Bankkonto plündern musste!

Die dritte Möglichkeit war, am nächsten Tag einfach krank zu sein. Aber ich fürchtete, dass Janet dann Nachforschungen anstellen würde, wo ich wohnte.

Ich schloss die Zimmertür und ließ mich wieder auf mein Bett fallen. Am liebsten wollte ich an überhaupt nichts mehr denken. Nur schlafen …

Ich schreckte hoch, als mein Handy klingelte. Wer konnte das sein? Ich hätte beinahe einen Luftsprung gemacht, als ich Leons Namen auf dem Display entdeckte. Leon! Er kam mir total wie gerufen!

«Hallo?», meldete ich mich und versuchte, fröhlich zu klingen. Leon sollte nicht gleich merken, dass ich bedrückt war.

«Hallo, meine Liebe, wollte mal wissen, wie es dir geht!» Leons Stimme klang wie meistens gut gelaunt, und er sprudelte wie ein Wasserfall. «Ich konnte heute in der Pause leider nicht rüberkommen, weil ich einer Schülerin aus der Parallelklasse Mathe-Nachhilfe geben musste. Sie hatte einen Test, weißt du. Und du, was machst du gerade? Soll ich ein bisschen rüberkommen?»

«Ja, gern!», sagte ich ohne Zögern.

«Bin schon unterwegs!», sagte er fröhlich und hängte ein.

Nur zehn Minuten später klingelte es an der Haustür. Leon stand mit strahlend blauen Augen draußen. Die Sonne warf einen orangefarbenen Lichtschein in den Flur.

«Hallo, meine Liebe! Da bin ich. Ich habe extra kräftig in die Pedale getreten. Und ich hab dir auch was mitgebracht!» Er holte etwas Raschelndes aus seinem Anorak hervor und reichte es mir. Ich riss vorsichtig das Seidenpapier weg und hielt ein kleines Pflänzchen in der Hand.

«Oh, wie hübsch!», sagte ich. «Danke, Leon!»

«Gefällt es dir? Ich habe es selber gezogen.»

Ich lächelte. Das Pflänzchen tröstete mich wirklich. Auch Leons Anwesenheit tröstete mich. Sie strahlte diese warme, ruhige Geborgenheit aus, die ich in dem Moment nötiger brauchte als alles andere. Ich nahm mir fest vor, mich von jetzt an wieder mehr auf meine Freundschaft mit Leon zu konzentrieren. Domenico zerquetschte meine Seele nur. In dem Punkt hatte Janet leider mal wieder Recht …

Die Sonne fiel jetzt schräg durchs Fenster und schenkte der Küche einen warmen Glanz, als ich für das Pflänzchen einen Untertopf suchte. Danach gingen wir gemeinsam in mein Zimmer hoch, wo ich das Pflänzchen sorgsam auf den Fenstersims stellte.

«Na, was hast du gestern so gemacht? Hattest du einen schönen Tag?», fragte Leon, als wir gemütlich zusammen auf meinem Bett saßen und uns an die Wand lehnten.

«Geht so …»

«Was heißt denn das?» Leon wickelte zärtlich eine meiner Haarsträhnen um seinen Finger. «Na, willst du es mir erzählen?»

Ich seufzte. Ich wollte das Thema Domenico in Leons Gegenwart eigentlich konsequent vermeiden, aber schließlich erzählte ich dann doch alles. Ich erzählte ihm erst von dem schönen Nachmittag auf der Eisbahn, von der Begegnung mit Suleika und Gina, und dann von unserem schrecklichen Abenteuer in der Drogenszene und schließlich auch von meinem Streit mit Domenico. Leons Stirn runzelte sich sorgenvoll zusammen.

«Der bringt dich ja regelrecht in Gefahr!», meinte er mit einem leichten Anflug von Ärger in der Stimme. «Am Schluss kommen diese Dealer noch auf die Idee und treiben das Geld bei dir ein!»

Da fing ich an zu heulen. «Genau das ist passiert!»

«Was?» Leon sah mich geschockt an. Trotz meiner Tränen dachte ich daran, dass er mit diesem ernsten Blick seinem Vater ziemlich ähnlich sah.

«Heute vor der Schule …» Und dann legte ich los. Es war mir alles egal. Ich musste es jetzt einfach loswerden. Leon legte mir schweigend den Arm um die Schultern, als ich erzählte, und das machte mir Mut. Ich hatte erst Angst, dass er mit irgendwelchen Vorwürfen anrollen würde, doch das tat er nicht. Im Gegenteil, über sein Gesicht huschte sogar die leichte Andeutung eines Lächelns. Als ich fertig war, schmunzelte er regelrecht. Ich kapierte überhaupt nichts mehr. Leon gehörte nicht zu der Sorte Leute, die über so was Witze machten.

«Also, seh ich das richtig: Janet Bonaventura glaubt, dass du Domenicos Freundin bist, und nun will sie seine Schulden quasi bei dir eintreiben», fasste er erst mal ganz praktisch zusammen.

Ich nickte. Er schmunzelte wieder ein bisschen und schüttelte den Kopf. «Typisch!», meinte er bissig.

«Was denn?»

«Na ja, Janet.»

«Kennst du sie?»

«Und ob. Sie ist meine Cousine!»

Ich starrte Leon an, als hätte er komplett den Verstand verloren.

«Cousine?» Das war das Abartigste, was ich jemals in meinem ganzen Leben gehört hatte. Das war so abartig, wie wenn mir jemand erzählt hätte, er hätte Frau Galiani im Xenon gesichtet. Leon lachte, als er meinen benommenen Blick sah.

«Das klingt verrückt, was? Es ist eigentlich ganz einfach. Die Schwester meines Vaters war Janets Mutter. Leider ist sie an Krebs gestorben. Sie war auch Ärztin, wie fast alle in meiner Familie. Sie hat Onkel Carlos in Brasilien kennen gelernt und geheiratet. Später sind sie nach Deutschland gekommen, weil Onkel Carlos – ein hervorragender Arzt übrigens – eine leitende Stelle in der psychiatrischen Klinik angeboten bekommen hat. Er wiederum hat meinem Vater zu der leitenden Position im städtischen Krankenhaus verholfen. Na ja, Familienbande halt. Darum sind wir ja auch hierhergezogen. Die Welt ist klein, was?»

Ich kriegte beinahe den Mund nicht mehr zu. Leon fuhr fort: «Tja, und das mit Janet war immer ein Problem. Sie war noch klein, als Tante Brigitte starb, sechs oder sieben. Seither war sie sehr schwierig und rebellierte ständig. Onkel Carlos war auch irgendwie viel zu beschäftigt, um sich um sie zu kümmern. Er steckte sie ins Internat, doch dort ist sie irgendwann rausgeschmissen worden. Jetzt macht sie, was sie will. Na ja, wir hatten nie viel Kontakt miteinander, aber sie kennt mich, und wenn sie vor etwas Panik hat, dann davor, dass mein Onkel sie wieder ins Heim steckt. Du darfst ihre Drohung übrigens auch nicht allzu ernst nehmen. Sie blufft nur. Glaub mir. Die will nicht allzu viel mit einer Arzttochter wie dir zu tun haben. Sie jagt bloß den Leuten gerne Angst ein, und du warst eben leicht einzuschüchtern. Doch du musst ihr ein für alle Mal klarmachen, dass du nicht Domenicos Freundin bist. Sonst hat sie dich an der Angel und wird dich ständig als Köder benutzen, um sich an ihm zu rächen. Wer weiß, was der noch alles für Rechnungen bei ihr offen hat!»

Mir fiel ein ganzer Felsbrocken vom Herzen. Leon all das zu erzählen war das Beste gewesen, was ich hatte tun können! Leon lächelte, als er mein erleichtertes Gesicht sah.

«Pass auf, ich hab eine Idee. Ich hole dich morgen früh ab und begleite dich zur Schule. Dort werden wir sie ja treffen. Dann sieht sie gleich, dass ich dein Freund bin, und ich verspreche dir, nachher lässt sie dich in Ruhe! Vor mir hat sie nämlich Respekt, weil mein Vater und mein Onkel sehr gute Freunde sind.»

«Meinst du, das funktioniert?» Ich konnte es immer noch nicht recht glauben.

«Das garantiere ich dir», klang Leon siegessicher.

Ich fühlte mich nun beinahe glücklich. Ich war mit meinem Problem nicht mehr allein. Das Leben ging irgendwie weiter. Leon und ich spielten später eine Runde Schach (er war gerade dabei, es mir beizubringen), und noch ein wenig später machten wir, dick verpackt in Mütze, Schal und Mantel, einen kleinen Spaziergang durch den verschneiten Park. Wir tranken im See-Restaurant einen Kakao, bestaunten die kunstvollen Lichter und schlenderten einmal um den kleinen See herum. Doch zur Laterne wollte ich nicht gehen. Das war eine andere Geschichte.

Leon wartete am nächsten Morgen wie versprochen pünktlich vor dem Gartentor. Er stellte sein Fahrrad in unserer Garage ab, damit wir zusammen zu Fuß gehen konnten.

«Keine Angst, Maya», sagte er sanft. «Das wird klappen!» Er reckte sich ein wenig; es gefiel ihm offensichtlich, für mich den Beschützer zu spielen. Mir war es recht. Ich wollte die Sache so schnell und schmerzlos wie möglich hinter mich bringen. Leon legte den Arm um mich. Er war größer als Domenico, mein Kopf reichte gerade knapp über seine Schulter. Trotz Leons Anwesenheit war ich aufgeregt. Was, wenn es nicht klappen würde? Wenn Mario seine Pistole gegen uns richten würde? Doch Leon schien sich seiner Sache ziemlich sicher zu sein.

Die drei dunklen Gestalten warteten wie angedroht an der Ecke vor dem Schultor. Bis zur letzten Sekunde hatte ich gehofft, dass dies alles nur ein Bluff sei, doch ich war zumindest erleichtert, als ich sah, dass Mario nicht dabei war. Und damit gab's hoffentlich auch keine Pistole.

«Keine Sorge», flüsterte Leon mir ins Ohr. «Jetzt wird sie gleich ganz große Augen machen!»

Janet zog ihre Kapuze vom Kopf und pirschte wie eine lauernde Katze auf uns zu. Sie hatte ihre Mähne zu einem dicken Zopf geflochten und trug nun einen großen silbernen Ring durch die Nase. Leon streckte sich noch mehr und zog seine Mütze ab.

«Hi Cousinchen!»

Janet blieb abrupt stehen und glotzte Leon an. Einen Moment lang kriegte sie ihren Mund nicht mehr zu.

«Du?», fragte sie zischend. «Was machst du denn hier?»

«Ich begleite meine Freundin zur Schule, was denn sonst?», sagte Leon beiläufig. «Und du, was treibst du hier?»

«Sie ist nicht deine Freundin», sagte Janet kalt. «Sie ist die Freundin von Nic di Loreno!»

«Das stimmt nicht!», erwiderte ich mutig, obwohl meine Beine wie Espenlaub zitterten. «Ich habe dir gestern schon gesagt, dass es nicht stimmt!»

Janet spuckte verächtlich zu Boden, was offenbar eine ihrer festen Angewohnheiten war.

«Aber, aber, Cousinchen», lächelte Leon. «Deine Spuckerei ist eklig!»

«Hey, Alter!» Janet trat vor und piekste ihren spitzen Nagel in Leons Wange. «Zisch einfach ab, okay?»

«Von mir aus, aber nicht ohne meine Freundin!» Leon drückte mich an sich. «Du musst uns nur durchlassen, dann bist du uns los.»

«Mit ihr hab ich aber noch 'ne Rechnung offen!» Janet fixierte mich mit ihren Hexenaugen. «Und sie ist Nics Freundin. Ich hab sie Arm in Arm mit ihm gesehen!»

Au Backe …! Jetzt war sie einen Schachzug weiter als ich. Mir wurde ganz heiß. Was sollte Leon jetzt denken? Er konnte ja nicht ahnen, dass Domenico nur zum Schutz seinen Arm um mich gelegt hatte. So war es doch gewesen, oder?

«Das hat er nur gemacht, um mich zu schützen», erwiderte ich fest. «Ich bin nicht seine Freundin. Glaub das doch endlich! Ich bin mit Leon zusammen!» Jetzt wurde ich richtig mutig. «Du glaubst ja wohl selber nicht, dass meine Eltern mir eine Beziehung mit einem Jungen wie Domenico erlauben würden. Weißt du denn nicht, wer meine Eltern sind? Sie sind Ärzte, wie die von Leon! Und wie du selber schon erwähntest, wechselt Domenico sowieso dauernd seine Freundinnen.» Wow, jetzt kam ich richtig in Fahrt!

Leon nickte bestätigend.

Janet spitzte schmollend die Lippen und spuckte uns wieder vor die Füße. Die anderen beiden Jungs regten keine Miene.

«Lässt du uns nun durch, Cousinchen?», fragte Leon in dem liebenswürdigsten Tonfall, der ihm zur Verfügung stand. «Oder muss ich deinem Vater wegen des Vorfalls Bescheid sagen? Der hetzt dir garantiert die Polizei auf den Hals.»

Janet zischte und trat wütend zur Seite. Ihr Gesicht war eine wutverzerrte Fratze.

«Warte nur, Cousin, eines Tages krieg ich dich dran!», spie sie. «Und dann lache ich!»

«Nur zu!», rief Leon lachend über die Schulter zurück und zog mich fröhlich mit sich. Ich konnte es kaum glauben. Sie ließ uns tatsächlich gehen!

«Und merk dir eins, Babyface: Du kannst Nic ausrichten, dass ich ihn fertigmache, wenn er mir unter die Augen kommt. Und zwar endgültig! Und ich werde ihn auch ohne deine Hilfe finden!», keifte sie mir hinterher.

«Lass sie ruhig», sagte Leon. «Sie ist krank im Kopf. Na ja, im Grunde kann sie einem ja leidtun, ohne Mutter …»

Ich fühlte mich so erlöst und lehnte mich erleichtert an Leons starke Schulter. Lachend atmeten wir die kalte Winterluft ein. Ich hatte schon lange nicht mehr so befreit gelacht.

«Das hat gesessen, was?», schmunzelte Leon.

«Und wie!», sagte ich. «Danke, Leon! Ich bin so froh!»

«Gern geschehen. Die wird nichts mehr von dir wollen, das verspreche ich dir.» Über sein Gesicht glitt auf einmal ein verschmitzter Ausdruck. «Übrigens, was hast du in der ersten Stunde heute?»

«Mathe», stöhnte ich mit gequältem Gesicht.

«Und ich Französisch. Das mag ich genauso wenig wie du Mathe. Damit wären wir also quitt! Was hältst du davon, wenn wir die erste Stunde ausnahmsweise schwänzen und uns dort drüben in die Bäckerei setzen und ein leckeres Schokoladenhörnchen verdrücken?»

Jetzt war ich noch platter. Leon? Leon und schwänzen? Das waren ja ganz neue Seiten.

«Ist das dein Ernst?»

«Mein voller Ernst», nickte er. «Zur Feier des Tages. Komm schon! Ich lad dich ein.»

Er packte entschlossen meine Hand und führte mich über die Straße zur Bäckerei. Ich hatte keine Möglichkeit mehr zu protestieren. Und ich wollte auch gar nicht. Denn eigentlich gefiel mir, was hier ablief.

Das Café war beinahe menschenleer. Wir suchten uns die schönste Nische und zogen unsere Jacken aus.

«Ich hab zwar schon etwas gegessen, aber ich könnte trotzdem noch mal ein richtig deftiges Frühstück mit allem Drum und Dran vertragen», sagte Leon. «Und du?»

Ich war einverstanden.

Als wir die Bestellung aufgegeben hatten, nahm Leon meine kalten Finger zwischen seine Hände und massierte sie warm. Er hatte ständig warme Finger. Es fühlte sich schön an. Das lag wohl daran, dass er so viel Sport trieb. Ich spürte, wie ein kleiner Schmetterling sich in meinem Bauch zu regen begann.

Leon hielt meine Hand fest, und seine Lippen näherten sich meiner Nasenspitze. «Darf ich mal?»

Ich nickte mit glühenden Wangen. Seine glatten Lippen streiften sanft meinen Mund. Kein verrauchter Atem. Kein Zigarettengeruch.

Es war ganz anders als bei Nicki.