15. Tanz zwischen zwei Welten

Domenico schlief fast drei Tage und drei Nächte. Es war, als müsste er den ganzen Schlaf nachholen, den er die letzten Wochen nicht bekommen hatte. Und wir ließen ihn einfach. Manchmal stand er auf, um eine Kleinigkeit zu essen, etwas zu trinken, aufs Klo zu gehen oder eine Zigarette zu rauchen, nur um sich dann hinterher gleich wieder im Bett zu vergraben. Manchmal, und besonders nachts, hörte ich ihn heftig husten.

«Wenn er wach ist, leite ich nochmals eine gründliche Untersuchung ein», brummte Paps. «Die Narben braucht er ja nun wirklich nicht mehr vor mir zu verstecken.»

«Paps, da ist noch etwas …» Ich zupfte meinen Vater ängstlich am Ärmel. Ich war dermaßen erleichtert gewesen, dass Domenico wieder aufgetaucht war, dass ich das regelrecht verdrängt hatte.

«Paps, er hat vor ein paar Tagen Blut gehustet.»

Mein Vater sah mich schockiert an. «Was hat er? Und das sagst du mir erst jetzt?»

«Ich wollte ja … aber dann war er verschwunden …»

Paps wartete keine Entschuldigung meinerseits ab, sondern zog sich sofort ganz allein in sein Arbeitszimmer zurück. Das war ernst!

Leon war nicht besonders glücklich darüber, dass Domenico vorübergehend bei uns wohnte.

«Meint ihr wirklich, dass es die richtige Lösung ist, ihn bei euch aufzunehmen?», fragte er skeptisch, als wir zusammen in meinem Zimmer auf meinem Bett mit einer Tasse Tee und einem Stück Apfelkuchen saßen, während Domenico nebenan schlief.

«Warum nicht? Wo soll er denn sonst hin?»

«Wäre es nicht viel sinnvoller, ihn in ein Krankenhaus zu bringen? Oder in die Klinik zurück? Ich meine, er kommt da in betrunkenem Zustand mitten in der Nacht dein Fenster hochgeklettert, übergibt sich, tobt rum … also, ich weiß nicht!» Leons Augen funkelten mich kritisch durch die Brillengläser an.

Ich zuckte die Schultern. «Ich weiß es nicht, ehrlich gesagt.»

«Weißt du, ich hab mit meinem Dad darüber geredet. Er ist sowieso der Meinung, dass man Domenico viel zu früh aus der Klinik entlassen habe. Du weißt ja, mein Dad ist schließlich auch noch studierter Psychologe. Er kennt sich damit also hervorragend aus. Wir haben uns ein bisschen mit Zwillingsforschung beschäftigt. So eine Bindung ist viel stärker als bei normalen Geschwistern. Besonders bei eineiigen Zwillingspaaren. Und eine so tragische, abrupte Trennung von Zwillingen …»

«Hör auf!» Ich hielt mir die Ohren zu. Ich wollte es nicht schon wieder hören. Die Geschichte war eh schlimm genug, also brauchte mir Leon nicht auch noch auf die Nase zu binden, wie hoffnungslos, aussichtslos und katastrophal die Lage war. Das wusste ich auch ohne wissenschaftliche Erklärungen.

Leon warf mir denselben Blick zu wie Paps, wenn er über mein Verhalten entsetzt war. «Was ist denn los, Maya?»

«Nichts!», erwiderte ich aufgebracht. «Lass mich einfach. Ich will keine wissenschaftlichen Vorträge.»

«Aber ich versuche dir doch nur zu helfen!»

«Ich weiß, aber … lass uns lieber das Thema wechseln.»

«Das verstehe ich jetzt nicht.» Leon schob seine Brille zurecht. «Ich will dich und deine Eltern doch nur davor bewahren, euch die Finger zu verbrennen.»

«Meine Eltern haben sich noch nie die Finger verbrannt!», knurrte ich.

«Maya, deine Eltern sind hervorragende Ärzte. Ich schätze sie über alles! Aber sie sind keine geschulten Psychologen. Glaub mir, mein Dad kennt sich damit aus. So ein Junge wie Domenico braucht professionelle psychologische Betreuung, sonst bekommt er nie Boden unter die Füße!»

«Ach ja?», fauchte ich. «Professionelle Betreuung? Ihn in einer Klinik zwischen distanzierten Ärzten und kranken Patienten einsperren? Meinst du, das würde ihm irgendwie helfen?»

Ich erschrak selber über meine Heftigkeit. Ich hatte Leon noch nie mit so einem verdutzten Gesicht gesehen. Dann veränderte sich sein Blick, als er die Wahrheit in meinen Augen erfasste.

«Okay, du brauchst anscheinend Aufregung», stellte er schließlich mit leiser, veränderter Stimme fest. «Und er versetzt dein Leben ja dauernd in Aufregung. Das kann ich offensichtlich nicht so gut!»

Minutenlanges Schweigen stand im Raum. Ich saß da und zerkaute meine Nägel. Leon lehnte sich an die Wand und sah mich forschend an. Die harten Gesichtszüge seines Vaters traten hervor. Ich stellte mir Leon in ein paar Jahren vor, mit grauen Schläfen, Glatze, Brille, und ich sah Doktor Thielemann vor mir.

Leon holte tief Luft. «Ich hab versucht, so zu sein wie er, damit du dich auch 'n bisschen in mich verliebst», gestand er leise. «Ich habe mit dir zusammen Schule geschwänzt. Ich wollte für dich aufregend sein, so wie er. Aber ich kann das halt nicht. Ich bin nun mal kein armer, bemitleidenswerter, hübscher Junkie, ich bin vielleicht nur ein langweiliger Arztsohn mit Brille und Strukturen, aber immerhin liebe ich dich, Maya!»

«Leon …»

«Ehrlich gesagt habe ich es langsam satt, Maya! Es tut weh, verstehst du das? Ich habe dir die ganze Zeit beigestanden, weil ich dich liebe. Ich hab alles mitgemacht. Ich hab dich getröstet. Darf ich nun nicht endlich auch mal ein bisschen Aufmerksamkeit von dir haben, auch wenn ich scheinbar keine Probleme habe? Scheinbar, denn wer sagt dir, dass ich wirklich keine habe? Aber ich bin immerhin dein Freund! Hallo? Du kannst nicht die ganze Welt retten!»

«Aber das will ich ja gar nicht!»

«Ich meine, alles dreht sich bei dir immer nur um ihn. Ich muss warten, weil er deine Hilfe braucht. Wenn er in Schwierigkeiten ist, lässt du sofort alles stehen und liegen, auch mich. Kannst du verstehen, dass mich das auch langsam frustriert? Ich habe nach dieser Geschichte mit Janet so gehofft, dass wir nun endlich richtig zusammen sind und unsere Zukunft gestalten können. Und jetzt taucht er wieder auf, und schwupps, hängen deine Gedanken nur noch bei ihm.»

Ich senkte geschlagen den Kopf. Leon war mir in solchen Diskussionen einfach haushoch überlegen. Das Schlimme war, dass er absolut Recht hatte und ich nichts dagegen einwenden konnte. Ich suchte nach einem Grund, nach einer Erklärung, aber es gab keine. Es gab nur die Wahrheit.

Leon rutschte langsam vom Bett. Er holte tief Luft. «Ich meine, ich will dir ja nichts vorschreiben. Wenn du lieber mit einem Kettenraucher mit Totenkopf um den Hals zusammen sein willst, kann ich dir auch nicht helfen.»

Seine Worte trafen mich hart. Ich hatte nie gewusst, dass Leon mit solch scharfen Pfeilen schießen konnte. Er erhob sich und ging langsam zur Tür.

«Aber so ist es doch gar nicht! Warte, Leon!» Ich rannte ihm hinterher.

«Bitte, Maya, lass mich. Ich muss jetzt einfach erst mal nachdenken, okay?» Er sah mich wehmütig an und öffnete die Tür. Ich folgte ihm kleinlaut auf den Flur hinaus.

Im selben Moment trat auch Domenico aus dem Badezimmer. Er hatte sich umgezogen und trug nun wieder seine eigenen Klamotten, die Mama ihm gewaschen hatte. Er blieb abrupt stehen, als er uns sah. Leon blieb ebenfalls stehen. Einen Augenblick lang sahen die beiden Jungs sich schweigend in die Augen. Ihre Blicke waren wie gekreuzte Schwertklingen, und ich stand mittendrin.

Leon rührte sich als Erster wieder. «Tschüss, Maya!», nickte er mir kurz angebunden zu. «Ich wünsch dir einen schönen Nachmittag. Ich ruf dich an.» Und schon stürmte er die Treppe runter. Ich blieb belämmert stehen und folgte ihm mit meinen Blicken, bis er verschwunden war. Domenico schloss leise die Badezimmertür und ließ mich nicht aus den Augen. Ich drehte mich mit hängenden Schultern zu ihm um.

«Hi!» Ich rang mir ein klägliches Lächeln ab. «Bist du wach?»

Er nickte langsam, während er nicht davon abließ, mich mit seinen forschenden Augen zu mustern.

«Hast du Ärger?», fragte er leise.

«Ach … nichts. Nur eine kleine Auseinandersetzung mit meinem Freund!»

«Wegen mir?»

«N-nein … na ja … nicht direkt.»

«Willst du darüber reden?», fragte er sanft und lehnte sich gegen die Tür.

Ich winkte ab. «Nein, das … ich fürchte, das muss ich allein austragen.»

Er legte seinen Kopf schief. «Mach dir keine Sorgen um mich. Ich steh dir nicht im Weg. Ich werd nachher eh verduften. Ich geh wieder ins Wohnheim zurück.»

«Nein, du musst nicht wegen mir …»

Doch da war er schon in seinem Zimmer verschwunden. Ich stand allein da und fühlte mich in tausend Stücke zerfetzt. Ich kam mir vor wie ein Wesen mit fremden Gliedmaßen. Ich wusste nicht mehr, welcher Teil zu mir gehörte und welcher nicht. Ich drehte mich Richtung Wand und presste die Stirn gegen die Tapete. Mamas Geschichte rotierte in meinem Kopf.

Das Einschnappen der Tür ließ mich zusammenzucken. Ich drehte mich um. Domenico stand wieder hinter mir. Er hatte seine Jacke angezogen. Sein magnetischer Blick hielt mich fest.

«Magst du kurz mit mir rauskommen? Ich muss Zigaretten holen.»

«Klar!» Froh um jede Ablenkung, die mich daran hinderte, mich sinnlosen Grübeleien zu ergeben, folgte ich ihm hinunter in die Diele, schnappte meine Jacke und trat mit ihm vor die Haustür. Die eisige, klare Luft roch nach frischem Schnee. Domenico schaute zum Himmel hinauf und vergrub die Hände in seinen Taschen. Ich machte dasselbe. Es war irgendwie schön, schweigend zusammen durch die stillen Straßen zu gehen und die heimeligen Lichter der umliegenden Häuser auf sich scheinen zu lassen. Und zu wissen, dass man selber in einem solch warmen Haus wohnte. Ich schielte aus den Augenwinkeln zu Domenico hinüber und stellte mir vor, wie es wäre, wenn er für immer bei uns bleiben würde.

Etwa sieben Minuten von uns entfernt bei der Hauptstraße befand sich eine Unterführung mit einem kleinen Supermarkt und einem Zigarettenautomaten.

Domenico wandte mir den Rücken zu, als er sich ein Päckchen seiner Standardmarke rauszog. Ich beobachtete ihn, wie er mit gesenktem Kopf dastand, eine Zigarette in den Mundwinkel steckte und irgendwas an seiner Jacke fummelte.

«Nicki …» Ich trat einen Schritt näher an ihn heran.

«Hmm?» Er drehte sich nicht zu mir um und holte sein Feuerzeug raus.

«Gehst du wirklich wieder weg?»

«Weg wohin?»

«Zurück ins Wohnheim!»

Er zuckte die Schultern. «Wo soll ich denn sonst hin?»

«Willst du nicht noch ein paar Tage bleiben?»

Er drehte sich zu mir um und wedelte den Rauch mit der Hand zur Seite, damit er nicht in mein Gesicht trieb.

«Nee, ich glaub, es ist besser für dich, wenn ich gehe.»

Wir gingen zusammen zurück über die Straße. Domenico hatte seine Kapuze hochgezogen. Ich fühlte mich auf einmal so merkwürdig. Ich hatte richtig Bauchkrämpfe. War der Streit mit Leon vorhin daran schuld? Ich wusste es nicht. Es kam mir plötzlich vor, als würde der Boden unter mir schwanken. Auf einmal verfehlte ich den Tritt und stolperte über die Bordsteinkante. Domenico drehte sich um und packte mich sofort am Arm, bevor ich hinknallen konnte.

«Hey, pass auf», sagte er sanft und stellte mich behutsam wieder auf die Füße. Der Qualm der Zigarette, die er zwischen den Fingern hatte, nebelte mich ein. Mir wurde übel.

«Oh, sorry», meinte er zerknirscht, nahm den letzten Zug und schmiss die Kippe weg. «Tut mir leid, Maya!»

Ich blieb stehen. Meine Beine schafften keinen Schritt mehr. Mein Kopf war ganz schummrig.

Leon … Leon hatte Recht. Es war nicht gut für mich.

Nicki … sein vieles Rauchen, seine Narben, sein Jähzorn, seine Lügen … Lügen … ja, da waren immer noch diese Lügen. Jugendarrestanstalt. Geknacktes Auto. Der Tankstellenüberfall in Italien. Dinge, die er mir nie offen erzählt hatte. Die er mir verschwieg. Die vielleicht noch viel schlimmer waren als alles, was ich bereits wusste …

«Hey, alles okay mit dir?» Domenico berührte meinen Arm.

Ich schüttelte leise den Kopf. Wir standen an der Kreuzung, die in unsere Straße führte. Ich merkte, wie sich ein Schluchzen in meiner Brust formte. Ich ärgerte mich. Dauernd war ich am Heulen! Ich schluckte es mit aller Kraft runter. Domenico hielt mich immer noch fest und sah mich besorgt an. Ich hielt es nicht mehr aus. Die Frage bahnte sich den Weg aus mir heraus, ehe ich es verhindern konnte.

«Sag mal, ist das wahr, dass du in der Jugendarrestanstalt warst? Ich meine, bevor du in unsere Klasse gekommen bist?», platzte ich heraus.

Sein Gesicht erstarrte. Seine Augen flackerten und verengten sich zu zwei schmalen Schlitzen. «Wer hat dir das gesagt?», fragte er scharf.

«Frau Galiani.»

Er rührte sich nicht. Einen Augenblick fochten unsere Augen einen schweigenden Kampf. Dann ließ er mich los und wandte sein Gesicht ab. Auf der Straße war es auf einmal ganz still. Kein Verkehrslärm, nichts war zu hören. Nur Domenicos leichte Schritte, die sich ohne Kommentar von mir entfernten, als wäre die Frage niemals ausgesprochen worden.

«He, Nicki … warte!» Ich schaffte es, meine Füße wieder zu bewegen, stürmte ihm hinterher und packte ihn am Arm.

«Wieso erzählt sie dir diese Sachen über mich?», knurrte Domenico böse und schüttelte mich barsch ab.

«Weil du es mir ja nicht von dir aus erzählst!» Ich musste meine Schritte beschleunigen, um mich seinem Tempo anzupassen. Er fluchte leise und kickte wütend einen Stein weg.

«Warum hast du mir das verschwiegen? Du hättest es mir doch sagen können.»

«Lass mich in Ruhe, Maya!» Er wandte mir sein Gesicht zu. In seinen Augen knisterte es, als wollten sie mich verbrennen. Ich hasste es, wenn er mich so ansah!

«Ich will doch nur, dass du mir davon erzählst», bat ich mit leiser, verzagter Stimme. Mist, warum machte der Blick in seinen Augen mich immer so konfus?

«Was soll ich denn da noch erzählen?», fauchte er und blieb stehen.

«Na, alles eben!»

Seine Hand krampfte sich um sein Zigarettenpäckchen. Er hielt es sich vors Gesicht und starrte die Aufschrift mit flackernden Augen an. Dann sah er mich wieder an.

«Ach, was soll's, ich werde ja eh nie 'ne Chance haben», presste er schließlich mit erstickter Stimme hervor und knallte die Schachtel zornig auf den Asphalt.

«Was meinst du damit, dass du nie eine Chance haben wirst?» Ich griff schnell seinen Arm, bevor er sich wieder aus dem Staub machen konnte.

«Nichts. Vergiss es!», sagte er böse und riss sich los.

Schweigend sahen wir uns an. Es war wie ein Tanz auf Eisschollen, die brachen, wenn einer von uns sich zu sehr bewegte. Aber einer von uns musste sich ja schließlich als Erster wieder bewegen …

«Ja, ich war in der Jugendarrestanstalt. Wegen Prügeleien und Diebstahl. Genügt das?», brüllte er plötzlich. «Genügt das, oder willst du noch mehr wissen?»

«Schrei mich doch nicht so an!»

Er schluchzte auf und ließ sich auf die Bordsteinkante sinken.

«Was ist denn los?», fragte ich bestürzt.

«Frag doch nicht so blöd!» Er wischte sich hektisch mit dem Handrücken über die Wange. Ich kauerte mich ratlos neben ihm nieder. Diesmal wagte ich es nicht, ihn anzufassen.

«Hey …»

«Sag mal, musst du die ganze Zeit in meinen Innereien rumwühlen?» Seine Hände hatten sich zu zitternden Fäusten geballt. «Mach es mir doch nicht so verflixt schwer, Maya! Ich hab dir gesagt, dass ich … ach, vergiss es!»

«Ich will es dir nicht schwer machen, aber so ganz begreife ich nicht, was …»

«Du hast die Kette in den Brunnen geschmissen, okay? Die Geschichte ist abgeschlossen. Können wir jetzt das Thema wechseln?»

Ich blinzelte. Die Kette … der Brunnen … das Meer … und die Laterne. Eine Träne löste sich aus meinen Wimpern und rollte über meine Wange. Und dann noch eine. Sie wurden immer mehr, und ich konnte nichts dagegen tun. Sie tropften auf meinen Schoß, auf meine Schuhe, auf den Asphalt.

«Maya …» Nickis Augen drangen in mich hinein. Seine Hand, die sich vorsichtig zu meinem Gesicht bewegte, blieb auf halber Höhe stehen. Ich schaffte es nicht mehr, seinem glühenden Blick standzuhalten und wandte mein Gesicht ab.

«Mist, ich hätte damals in Catania wirklich vor dir weglaufen sollen!», schluchzte er wütend auf. «Ich hätte dich nie mit ans Meer nehmen dürfen!»

«Warum?»

«Warum? Willst du das echt wissen?» Seine Stimmbänder klangen ganz verzerrt. Er erhob sich und schlich ein paar Schritte von mir weg. Ich blieb einfach kauernd am Boden sitzen und starrte auf meine Handflächen. Dann kam er wieder zurück und stellte sich vor mich hin. Ich erhob mich langsam, bis wir uns Auge in Auge gegenüberstanden. Unsere Gesichter waren sich ganz nah.

«Ey, du kennst ja die Bilder, die ich von dir gemalt hab, oder? Sagt doch alles!», knirschte er mit zusammengebissenen Zähnen. «Also hör auf, mich zu löchern!» Er heulte jetzt auch. Seine Wangen waren ganz nass.

«Nicki …»

«Bitte! …»

«Nicki, warum …»

«Maya, bitte hör auf zu fragen! Es geht doch eh nicht!»

Und so standen wir beide da und heulten. Sahen uns an, jeder für sich mit seinen Tränen kämpfend. Wussten und verstanden, dass wir zwischen zwei Welten tanzten. Und dass es zwischen diesen zwei Welten eine Kluft gab, die nicht überbrückt werden konnte. Es gab nichts zu sagen, nichts zu fragen. Er hatte Recht. Leon hatte Recht. Warum sollten wir jemals darüber nachdenken? Warum sollten wir uns über etwas Gedanken machen, das einfach nicht möglich war?

Ja, es war so, wie Domenico es gesagt hatte: Vielleicht wäre es wirklich besser gewesen, wenn er von mir weggelaufen wäre. Dann hätte ich vielleicht alles vergessen können. Aber er war nun mal nicht weggelaufen. Und jetzt standen wir beide da, Klippe an Klippe, und mussten uns davor hüten, nicht den Abgrund hinunterzustürzen.