16. Kollaps

Ich schlief wenig in dieser Nacht. Domenico auch. Ich hörte, wie er schwer und schmerzhaft hustete, manchmal würgte es ihn regelrecht. Schließlich stand er auf, ging ins Bad, ließ lange das Wasser laufen und verzog sich danach wieder in sein Zimmer, nur um später erneut aufzustehen und ruhelos im Flur umherzugeistern.

Dann hörte ich, wie meine Mutter aufstand, die Treppe hochkam und beruhigend auf ihn einredete, und schließlich, wie sie beide in die Küche runtergingen, wo Mama Wasser aufsetzte und Tee kochte und den Fernseher anschaltete.

Ich lauschte, doch Domenico kam nicht zurück. Ich lag stocksteif da, aus lauter Angst, dass mein Körper zu Asche verglühen könnte. Erst in den frühen Morgenstunden schlief ich schweißgebadet ein.

Als ich am nächsten Morgen runter ins Wohnzimmer kam, fand ich Domenico zusammengerollt auf dem Sofa, bis zur Nasenspitze unter der Decke vergraben. Neben ihm auf dem Couchtisch standen eine halbleere Kanne mit kaltem Tee und eine Schachtel mit irgendwelchen Pillen. Mama wartete in der Küche auf mich.

«Wir müssen unbedingt zu einem Lungenspezialisten mit ihm!», murmelte sie besorgt. «Er konnte die ganze Nacht nicht schlafen.»

«Ich weiß», seufzte ich. Mir war immer noch heiß. «Anscheinend geht es ihm jede Nacht so, und das schon lange.»

«Hat sich seine Mutter denn wirklich nie um so was gekümmert?», flüsterte Mama. «Das kann ich kaum glauben!»

Sie stand auf und trug die Teller zur Spüle. Dann ging ich hinauf in mein Badezimmer und machte mich schulfertig. Als ich vor die Haustür trat, schlugen die Nacht und die Kälte mir entgegen. Ich sehnte mich mehr nach dem Frühling als je zuvor.

In den ersten beiden Stunden schlief ich fast ein. Frau Lindner hatte nicht so viel Biss wie Frau Galiani. Bei ihr konnte man gut abschweifen. Dank Patrik, der mir in regelmäßigen Intervallen unter dem Tisch Erdbeerbonbons anbot, kippte mein Kopf nicht ganz auf das Englischbuch. Ich war froh, als es endlich zur großen Pause klingelte.

Wir versammelten uns wie üblich unter der Linde: Manuela, Patrik, Delia, Ronny, André und ich. Ich hielt verstohlen nach Leon Ausschau. Ob er trotzdem rüberkommen und Hallo sagen würde? Ich wollte nicht mehr an die Auseinandersetzung gestern Abend denken. Und auch nicht mehr an das Gespräch mit Domenico.

«Maya, du starrst Löcher in die Luft», stellte Manuela fest. «Alles klar mit dir?»

Bevor ich antworten konnte, trat mir jemand mit einem spitzen Schuh gegen die Wade. Ich wirbelte erschrocken herum.

«Oh, Entschuldigung!», flötete Isabelle mir ins Ohr. «Das war wirklich keine Absicht. Übrigens, dein Gangster-Lover steht draußen vor dem Schultor!»

Mit abschätzigem Blick musterte sie meine Reaktion und wandte sich dann mit ihrem gellenden Lachen wieder ihren beiden Gefährtinnen zu.

«Wer?», fragte ich belämmert und blickte zum Schultor.

«Wollen wir nachsehen?», fragte Manuela und hakte sich bei mir unter. Froh, dass sie mich begleitete, gingen wir Richtung Schultor.

Ich glaubte meinen Augen nicht zu trauen. Tatsächlich! Dort, in einer Nische neben dem Torpfosten, stand Domenico und zertrat gerade eine Zigarette mit dem Fuß. Die Schüler, die in der Nähe des Tors rumlungerten, warfen ihm ganz perplexe Blicke zu, doch er beachtete sie nicht.

«Nicki!» Ich lief mit gemischten Gefühlen auf ihn zu. «Was machst du denn hier?»

Er hob seinen Kopf. Er sah blass aus, doch er lächelte und zeigte seine netten Wangengrübchen, die ich in letzter Zeit so selten gesehen hatte.

«Na ja, ich konnte nicht mehr pennen, da bin ich halt früher aufgestanden. Wollt nur mal sehen, wie's dir so geht und … ähm …» Er wurde rot und senkte seinen Kopf. Manuela trat behutsam einen Schritt zurück und ließ Domenico nicht aus den Augen. Schnell zog er eine Tüte mit Schokomandeln raus und hielt sie mir unter die Nase.

«Magst du? Hab sie vorhin beim Bäcker gekauft.»

«Gern!» Ich griff in die Tüte und angelte eine Mandel raus.

Er nickte Manuela zu. «Hallo. Willst du auch?»

«Gern, danke!» Ihre Wangen waren von einem pfirsichfarbenen Hauch überzogen.

«Was hast du jetzt vor?», fragte ich kauend.

«Keine Ahnung. Mal sehen. Ihr müsst wohl wieder in die Penne rein, was? Hat's schon geklingelt?»

«Noch nicht», erwiderte ich. Mir war auf einmal eine ganz grandiose Idee gekommen. Nun gut, ich fand sie grandios … aber wie er darauf reagieren würde?

«Sag mal, hättest du nicht Lust, mit uns zu kommen? Wir haben die nächste Stunde Deutsch. Frau Galiani würde sich bestimmt über deinen Besuch freuen!»

«Ich soll mit euch reinkommen?» Er starrte mich an, als hätte ich komplett den Verstand verloren. «Das geht doch nicht!»

«Warum sollte es nicht gehen?»

«Na ja, ist das nicht verboten?»

Ich musste beinahe lachen. «Seit wann interessierst du dich dafür, ob etwas verboten ist?»

«Stimmt.» Er grinste verlegen. «Na ja, ich weiß nicht so recht …»

«Bitte, Nicki!» Ich war zu begeistert von der Idee, um sie einfach so schnell fallen zu lassen. Manuela nickte heftig.

«Aber ich hab doch so viel verbockt bei euch. Ich kann mich da nicht mehr blicken lassen.»

«Komm schon! Bitte!» Ich packte seine Hand. «Das wäre so cool! Dann … vielleicht könntest du …»

«Warte!» Er ließ mich los und hob beschwichtigend seine Hand. «Warte, Maya. Delia ist doch auch da, oder?»

Ich nickte. Ich wusste genau, worauf er anspielte.

«Ich weiß nicht, Maya …» Er hatte Angst, ich spürte es.

«Ach, sie wird dir nicht den Kopf abreißen. Im Gegenteil. Es wäre sogar gut, wenn du mit ihr reden würdest.»

Er holte tief Luft. Zögerte eine Weile. Dann zog er seine Kapuze hoch, versteckte sein Haar darunter und griff zaghaft nach meiner Hand. «Okay … dann lass uns gehen. Hoffe bloß, dass mich keiner erkennt!»

Ich strahlte regelrecht. Domenico in unserer Schule. Das war ja fast wie früher!

Den anderen unter der Linde purzelten beinahe die Augen aus dem Kopf, als wir Domenico zu ihnen brachten.

«Hi!», sagte er und hob lässig die Hand. Ich war die Einzige, die bemerkte, dass sie zitterte.

André und Ronny glotzten wie zwei Mondkälber. Patrik strahlte und freute sich. Delias Gesicht wirkte ganz schmal, als sie mit ihren großen, blassen Augen zu Domenico hochschaute.

«Hi Delia!», sagte Domenico zögernd.

«H-hi … Nico», hauchte Delia mit dünner Stimme und schien ein ganzes Stück zu schrumpfen. Ich wusste, dass in diesem Moment die ganzen schauderhaften Erinnerungen an ihr schreckliches Erlebnis mit Domenico hochkamen.

«Bist du … okay?», fragte Domenico sehr vorsichtig.

Sie brachte kein Wort heraus. Ihre Lippen bebten. Ich bemerkte irgendwie erst jetzt, wie klein und hilflos sie wirkte.

«Du bist so dünn …» Domenico sah sie besorgt an.

«Dünn?» Delias Stimme versagte fast. «Ich soll dünn sein? Das stimmt doch gar nicht. Ich bin nicht dünn! Schau doch bloß meine fetten Beine an!»

Domenico schüttelte den Kopf. «Wieso finden sich Frauen bloß immer zu dick …», murmelte er. «Das ist Quatsch, Delia! Mach so was nicht. Das ist ungesund!»

Da war es aus mit Delias Fassung. Sie fing herzzerreißend an zu schluchzen. Ronny stand wie ein Ölgötze daneben und wusste nicht, was er tun sollte.

«Volltrottel!», brummte André.

Da streckte Domenico seine Hand aus und zog die weinende Delia an sich heran. «Hey», murmelte er sanft.

Delia vergrub ihr tränenüberströmtes Gesicht an seiner Brust, und er hielt das weinende Mädchen fest. Und dann strich er vorsichtig ihr goldenes Haar zur Seite und begann, ganz sachte mit seinen Fingerspitzen ihren Hinterkopf abzutasten, als suche er die Stelle, wo er ihr damals die Kopfverletzung zugefügt hatte. Er stockte ein wenig in seiner Bewegung, als er sie fand, und ließ seine Finger dort ruhen.

«Es tut mir so leid, dass ich das getan hab», murmelte er.

Und Delia schluchzte einfach in seinen Armen.

«Ist ja gut.» Er drückte sie fest an sich. «Lass es raus!»

Mir wurde plötzlich klar, dass mit Delia die ganze Zeit auch etwas nicht gestimmt hatte.

Domenico gab die weinende Delia schließlich Ronny zurück.

«Hier, tröste sie mal», sagte er. «Sie ist dein Mädchen!»

«W-was …?» Ronny kam nicht ganz mit.

«Trösten, Mann! Nicht dumme Fragen stellen!», knurrte Domenico.

Erst jetzt realisierten wir, dass es bereits zum zweiten Mal geklingelt hatte. Wir gingen zum Schulhaus zurück, und Domenico vergewisserte sich schüchtern, dass ich an seiner Seite blieb.

«Delia und der Ufo-Sichter», murmelte er zu sich selbst. «Aber echt, wer hätte das gedacht!»

Erst vor dem Klassenzimmer zog er die Kapuze wieder runter. Sein Besuch war für Frau Galiani so eine Überraschung, dass sie zum ersten Mal vergaß, uns wegen unserer Verspätung ins Klassenbuch einzutragen.

«Na, so was!», bemerkte sie mit einigermaßen gefasster Stimme, die ihre Freude nicht ganz verbergen konnte. «Was verschafft uns denn die Ehre, Domenico?»

Domenico schob seine Hände in seine Hosentaschen und blieb neben der Tür stehen, sichtlich verlegen unter all den musternden Augen, die auf ihn gerichtet waren. Ich blieb an seiner Seite.

«Äh … na ja, wollte nur mal Hallo sagen.» Er versuchte, eine coole Pose einzunehmen, doch es gelang ihm nicht recht.

«Klar, gern!», sagte Frau Galiani. «Komm doch rein!»

Er machte ein paar zaghafte Schritte ins Zimmer herein, als würde er einen fremden Planeten betreten. In Gedanken spulte ich die Szene zurück, wie er zum ersten Mal in der Klasse aufgetreten war. Frech, arrogant und selbstsicher. Und jetzt war von Mister Universum nicht mehr viel übrig.

«Möchtest du der Klasse gern was sagen, Domenico?», fragte Frau Galiani erwartungsvoll.

Domenico nickte und starrte dabei auf seine kaputten Turnschuhe. Dann hob er endlich seinen Kopf und wagte einen Blick in die Klasse. Es herrschte gespanntes Schweigen im Raum.

«Äh … hi erst mal!» Er stellte sich aufrecht hin und strich sich seine lange Haarsträhne aus der Stirn – vergeblich, sie fiel ihm sofort wieder ins Gesicht. Die Klasse wartete schweigend und voller Spannung. Und ich sah, wie er mit sich kämpfte. Wie Schatten auf seinem Gesicht tanzten, wie sich seine Augen verzogen … und wie seine Stimmbänder fast den Geist aufgaben, als er schließlich nach einer gewissen Weile die Stille erneut durchbrach:

«Äh … also, nun, ich wollte mich entschuldigen … für damals … was da so gelaufen ist. Ich weiß, dass ich 'ne Menge Mist gebaut hab. Und ich hab auch das Geld vom Biedermann geklaut. Wisst ihr ja, oder? Ist ja jetzt kein Geheimnis mehr. Es war so 'ne bescheuerte Situation zuhause, mein Bruder brauchte Drogen und wir … ach, egal!»

«Schon gut, Domenico.» Frau Galiani trat neben ihn. «Du musst das nicht alles erzählen. Soll ich noch ein paar Worte sagen?»

Er nickte zögernd und kniff die Augen zusammen.

«Gut.» Sie richtete ihren Blick auf die Klasse. «Wie ihr wisst, ist Domenico damals mit seinen beiden Geschwistern nach Sizilien abgehauen, weil seine Situation zuhause alles andere als erträglich war. Ich denke, die wenigsten von euch können sich das wirklich vorstellen. Domenico hat ohne die Hilfe seiner Eltern für seine beiden Geschwister gesorgt. Vielleicht erklärt das einiges. Auch jetzt, wo er wieder zurück ist, ist seine Situation alles andere als einfach, und ich bin froh, dass Maya und ihre Eltern ihn so unterstützen.»

Frau Galiani betonte die letzten Worte ganz besonders, und ich ahnte, dass sie ausschließlich an Isabelle gerichtet waren. Unsere Blicke kreuzten sich. Ihre Augen waren voller Hass und Verachtung. Sie würde niemals zugeben, dass sie im Unrecht war, das wusste ich. Aber wenn sie in Zukunft die Klappe hielt, war ich mehr als zufrieden.

«Im Übrigen muss ich sagen, dass ich Domenicos Besuch hier sehr schätze!» Ein leichtes Lächeln zeichnete sich auf den Lippen der Lehrerin ab. «Und falls er vorhat, den Rest des Vormittags unser Gast zu sein, wäre ich froh, wenn ihr ihn nicht mit unendlichen Fragen über sein Privatleben löchern würdet. Ich denke, ihr wisst genug!»

Sie sah Domenico herausfordernd an, der überhaupt nicht mit dieser Einladung gerechnet hatte. «Wie ist das, möchtest du hierbleiben? In der letzten Stunde hat die Klasse Turnunterricht, das würde dir doch sicher Spaß machen, oder?»

«Schon …» Er zögerte.

«Na, komm schon, bitte!» Ich ließ ihm keine Wahl mehr und zog ihn einfach zu meinem Platz. Patrik schob ihm einen freien Stuhl zu.

«Nee, wartet mal … ich …»

«Wo liegt denn das Problem?»

Er zuckte die Schultern und setzte sich. Während der Stunde bemerkte ich seine zitternden Hände. Ich riss ein leeres Blatt Papier aus meinem Heft und schob es ihm zusammen mit einem Bleistift zu. Froh, eine Ablenkung zu haben, begann er auf dem Papier zu kritzeln und hatte am Ende der Stunde ein großartiges Muster entworfen.

Als wir im Begriff waren, das Schulzimmer zu verlassen, sah er mich zerknirscht an.

«Bist du böse, wenn ich nicht bleibe?», fragte er.

«Aber warum denn nicht? Es wäre voll cool!»

Er schüttelte den Kopf, dann nahm er mich ein wenig beiseite, damit niemand uns hören konnte.

«Ich hab keine Zigaretten mehr! Verstehst du, was ich meine?»

«Oh Nicki … meinst du, du schaffst es nicht mal ohne?»

«Nee, nicht hier. Nicht vor den anderen.»

«Ach, Ronny gibt dir sicher welche von seinen», sagte ich und zog ihn an der Hand. «Komm jetzt! Bitte!»

Die anderen warteten schon unter der Linde. Gerade noch rechtzeitig bemerkte ich, dass ich immer noch Domenicos Hand hielt. Schnell ließ ich ihn los, bevor die anderen etwas missverstehen konnten.

Domenico haute Ronny gleich um eine Zigarette an. Im Gegenzug dafür wurde er Ronny für den Rest der Pause nicht mehr los. Entgegen Frau Galianis Bitte löcherte Ronny ihn bis zum Klingeln mit lauter dummen Fragen. Wie er seine Haare so cool stylen konnte und woher er die Lederjacke hätte und die Armbänder und den silbernen Totenkopf und was für eine Zigarettenmarke er rauche und so weiter. Ab und zu reckte er sich heimlich, nur um festzustellen, dass er immerhin noch zwei, drei Zentimeter größer war als sein Idol. Doch Domenico wurde es irgendwann zu bunt. Als Ronny sich eine zweite Zigarette anstecken wollte, rastete er ziemlich aus. Er riss Ronny die Kippe einfach von den Lippen.

«Du Affenhirn, freu dich auf den Tag, wo du dir die Lunge aus dem Leib hustest und gern mit der Qualmerei aufhören würdest und es doch nicht schaffst!», knurrte er böse und schmiss die Kippe auf den Boden. Ronny guckte ziemlich belämmert aus der Wäsche, und Delias Gesicht sah aus, als hätte ihr gerade jemand eine große Last abgenommen.

Leon ließ sich auch in dieser Pause nicht blicken. Ich seufzte und überlegte, ob ich ihn an diesem Nachmittag anrufen sollte. Dann klingelte es, und wir wanderten rüber zur Turnhalle.

Auch Herr Reuter, unser Sportlehrer, staunte nicht schlecht, als er Domenico wiedererkannte. Er konnte sich noch gut an das größte Sporttalent erinnern, das ihm in den letzten fünf Jahren begegnet war. Domenico stand in ärmellosem Shirt und Jeans da, und mir entging dabei nicht, wie Ronny mit offenem Mund auf das kunstvolle Tattoo auf seinem Oberarm gaffte.

Aufgrund unseres unerwarteten Gastes änderte Herr Reuter sein Programm und schlug eine Runde Völkerball vor. Und Domenico als Ehrengast durfte seine Mannschaft auswählen.

Seine erste Wahl war klar: «Maya!»

Ich sprang mit einem wohligen Gefühl im Magen auf und gesellte mich zu ihm. Vermutlich war es das erste und einzige Mal in meiner ganzen missratenen Sportkarriere, dass ich als Erste aufgerufen wurde.

«Aber ich hab doch zwei total linke Hände!», warnte ich.

«Macht doch nichts», sagte er sanft. «Bleib einfach in meiner Nähe. Ich decke dich!»

Dann wählte er Patrik, Manuela, Delia plus ein paar andere, und schließlich, weil Ronny so quengelte, auch ihn.

«Und was ist mit mir?», brummte André.

«Du willst mich doch nicht um das Vergnügen bringen, gegen dich zu kämpfen?», grinste Domenico. Das leuchtete André ein, und wir gingen auf unsere Plätze. Die Gegenmannschaft bestand eindeutig aus den stärkeren Spielern. Domenico hatte praktisch alle Nieten gewählt.

André und Domenico stellten sich nebeneinander auf. André war immer noch einen halben Kopf größer als Domenico. Herr Reuter pfiff das Spiel an und warf den Ball in die Mitte. Doch André hatte trotz seiner hünenhaften Größe keine Chance gegen Domenicos sagenhafte Geschwindigkeit. Domenico eroberte den Ball sofort für unsere Mannschaft und warf schon innerhalb der ersten paar Minuten drei Gegenspieler ab, einfach Schlag auf Schlag. Sie hatten wenig Möglichkeiten, seinen blitzartigen Attacken auszuweichen. Domenico gab uns präzise Anweisungen, wie wir uns auf dem Spielfeld platzieren mussten. Er wusste genau, wer wo am besten aufgehoben war. Patrik und mich wies er an, in seiner Nähe zu bleiben.

Ich konzentrierte mich weniger auf das Spiel als darauf, Domenico zu beobachten und einfach nur zu staunen. Ich dachte wieder an seinen möglichen Vater auf dem zerknüllten Bild, das nun in meiner Schublade ruhte. Wenn das wirklich die Wahrheit war … Ich begann über ungeahnte Möglichkeiten für sein Leben nachzudenken.

Einen Moment lang hatte ich nicht aufgepasst, und der Ball kam scharf auf mich zugesaust. Ich wäre ihm hoffnungslos ausgeliefert gewesen, wenn Domenico nicht in allerletzter Sekunde zwischen mich und den Ball gesprungen wäre. Er fing die Lederkugel mit einem Arm auf und im nächsten Moment mich, als ich im Begriff war, über meine Füße zu stolpern. Ein paar johlten und applaudierten.

«Danke», flüsterte ich.

«Mann, du hast ja Reflexe wie Spiderman!» Ronny kriegte den Mund fast nicht mehr zu.

«Ronny!» Delia verdrehte genervt die Augen.

«Schätze, das ist leicht übertrieben», lächelte Domenico, aber insgeheim stellte ich fest, wie gut ihm das Lob tat. Doch im nächsten Moment verdunkelte sich sein Blick, und er holte tief Luft.

«Nicki, was ist?»

«Nichts.» Er zielte mit dem Ball nun auf André. Es sah aus, als hätte er sich den fettesten Brocken extra aufgespart. André spannte alle seine Muskeln an, aber Domenico trickste ihn so fies aus, dass André, anstatt dem Ball auszuweichen, direkt mit einem verärgerten Knurren in dessen Flugbahn reinrannte!

Jetzt, wo der stärkste Gegenspieler beseitigt war, hatte der klägliche Rest der Mannschaft keine Chance mehr. Domenico knallte gnadenlos einen nach dem anderen ab. Wir applaudierten alle. Herr Reuter kam auf ihn zu und schüttelte ihm die Hand.

«Ich bin wirklich schwer beeindruckt. Solche Leute wie dich brauchen wir in der Sportmannschaft! In welche Schule gehst du denn?»

«Gar nicht, ich bin …» Domenicos Blick wurde auf einmal starr. Sein Atem stockte. Er hob beschwichtigend die Hand und drehte seinen Kopf zur Seite.

«Ich bin … aaah!»

«Nicki?» Ich kapierte erst gar nicht, was mit ihm los war. Erst als er die Hand auf seine Brust presste, begriff ich, dass er wieder einen seiner Anfälle hatte.

«Geht's?», fragte ich. Ich dachte erst, es würde gleich wieder vorbeigehen, so wie immer. Ich wollte seine Hand greifen, doch er entzog sie mir und sank langsam in die Knie.

«Was ist los?», fragte ich eine Spur entsetzter.

«Mist … Maya … ich krieg keine Luft …» Seine Stimme klang, als würde ihn jemand erwürgen. Er gab ein paar klägliche, röchelnde Schnaufer von sich. Ganz offensichtlich schaffte er es nicht mehr, Luft in seine Lunge zu ziehen. Ich kniete mich neben ihm hin und begann, sanft auf seinen Rücken zu klopfen.

«Was hat er?», rief Manuela besorgt.

«Er kriegt keine Luft mehr!» Ich legte meinen Arm fest um seinen Rücken. «Ganz ruhig, Nicki. Entspann dich. Versuch, ganz langsam Luft zu holen!»

«I… ich kann nicht … es tut so weh … aaah!» Er krümmte sich verzweifelt. Schweiß tropfte von seiner Stirn. Langsam spürte ich, wie die Panik sich in mir ausbreitete. Das hier war kein Anfall, der einfach vorübergehen würde.

«Bitte versuch's noch mal!», flüsterte ich eindringlich.

Domenico bewegte seinen Kopf und warf mir einen schwachen Blick zu aus seinen grauen Augen, in denen das Flackern langsam abstarb.

«Bitte, M-maya … hilf mir …»

«Nicki …»

«Der erstickt ja!», jammerte Delia.

Herr Reuter kam herangespurtet. Er zerrte mich von Domenico weg und legte ihn auf den Rücken. Er drückte seinen Kopf nach hinten und begann, ihm Luft in die Nase zu blasen. Alle hatten entsetzt einen Kreis um uns gebildet.

Ich krabbelte wieder heran und packte Nickis Hand. Sie war eisig. Als wäre alles Blut aus seinen Fingern gewichen. Fast wie die Hand eines Toten. Ich drückte sie, massierte seine kalten Finger und achtete auf jedes Zucken, das mir mitteilte, dass er noch am Leben war. Doch die Minuten vergingen, und mit jeder Sekunde wurde das Zucken schwächer. Und schließlich hörte es ganz auf.

«Ich schaffe es nicht!», brüllte Herr Reuter. «Holt doch einen Krankenwagen!»

Der Kreis bewegte sich, alle wirbelten durcheinander, rannten wie ein panisch gewordener Ameisenhaufen umher und stolperten übereinander. Ich blieb bei Herrn Reuter und Domenico sitzen, mit gesenktem Kopf. Ich würde Nickis Hand nicht loslassen. Und wenn sie noch so kalt war. Ich würde sie nie mehr loslassen. Seltsamerweise hatte ich keine Tränen. Sie waren einfach nicht da. Wahrscheinlich war ich zu schockiert, um zu weinen. Nur ein heftiges, stummes Flehen bahnte sich den Weg aus meinem Herzen.

Nicki, bitte geh du nicht auch noch! Ich will dich nicht auch noch verlieren! Das würde ich nicht aushalten. Wenn du stirbst, dann stirbt ein Teil von mir.

Ich hielt seine Hand so lange fest, bis die Sanitäter kamen und mich sanft zur Seite schoben. Domenicos Kopf rollte leblos zur Seite, als sie ihm eine Sauerstoffmaske übers Gesicht stülpten und ihn dann auf die Trage legten. Ich sah zu, wie sie seinen Puls maßen, Mitteilungen in ihre Funkgeräte sprachen, die Trage hochhoben und ihn meinen Blicken entzogen. Ich rannte ihnen nach, bis sie zur Tür raus waren. Dann blieb ich stehen wie ein hoffnungslos verwirrtes Kind, das nicht mehr wusste, wohin es sich wenden sollte. Ich irrte herum und lehnte mich an die erstbeste Schulter, die sich mir bot. Es war die von Patrik. Die ganze Klasse stand mit betretenen Mienen um uns herum.

Ich weiß nicht mehr, wie ich vom Umkleideraum in Frau Galianis Büro kam. Jedenfalls saß ich eine Weile später zusammen mit Patrik und Manuela bei ihr, während sie mit meinen Eltern telefonierte.

Das war einer der wenigen Notfälle, in denen mein Vater kurzerhand seine Praxis schloss. Sieben Minuten nach Frau Galianis Anruf standen meine Eltern da.

Und das war das allererste Mal in meinem Leben, an das ich mich bewusst erinnern konnte, dass ich Paps seit dem Tod meines Bruders weinen sah.