Man hatte Domenico sofort in den Operationssaal gebracht. Paps blieb bei ihm, während ich mit Mama bange Stunden im Warteraum zubrachte.
Ja, es waren endlose Stunden. Paps rannte ein paar Mal mit aufgeregtem Gesicht rein und wieder raus und gab keine vernünftigen Antworten auf meine Fragen. Andere Ärzte kamen und gingen, doch keiner erbarmte sich über mich. Einmal sah ich Dr. Thielemann. Sein Gesicht war hart und ernst. Seine Kiefer traten kantig hervor.
Der Nachmittag ging in den Abend über, und wir saßen immer noch da. Meine innere Erregung lähmte mich so sehr, dass ich nicht mal ein vernünftiges Gebet sprechen konnte. Aber Mama war bei mir und half mir.
Ich kämpfte gegen den Drang an, durch den Korridor in den Operationssaal zu stürmen. Hätte Mama nicht meine Hände genommen und sie massiert, hätte ich irgendwas genommen und zertrümmert. Jetzt konnte ich diese Wut und Verzweiflung nachvollziehen, die Domenico gespürt hatte, als Mingo gegangen war. Ich wollte mir nicht vorstellen, was ich tun würde, wenn man mir mitteilen würde, dass Nicki tot war …
Dann, kurz vor neun Uhr abends, erlöste Paps mich endlich von der quälenden Ungewissheit. Ich war an Mamas Schulter eingeschlafen, als er sich mit verschwitztem Gesicht und zerzaustem Haar zu uns setzte. Ich blinzelte vorsichtig und hob den Kopf, mit dem Allerschlimmsten rechnend, doch da sah ich, dass Paps lächelte.
«Es ist alles in Ordnung», sagte er und nahm meine Hand. «Wir haben ihn gerettet.»
«Er lebt?»
«Ja, er lebt. Aber …», er holte sein Taschentuch hervor und wischte sich erschöpft über die Stirn, «um ein Haar wäre es aus gewesen mit ihm. Es war tatsächlich ein Kampf auf Leben und Tod. Es gab Augenblicke, da habe ich nicht mehr an seine Rettung geglaubt.»
«Was war es denn?»
«Ein Lungenriss.» Paps erklärte mir, wie das Ganze ablief: «Zwischen den Rippen und der Lunge ist ein kleiner Spalt, in dem ein starker Unterdruck herrscht. Dadurch zieht es die Lunge beim Einatmen auf. Wenn bei einer Überdehnung der Lunge durch Überdruck der Grenzwert überschritten wird, zerreißen die Lungenbläschen und Luft dringt in diesen Spalt oder das umgebende Lungengewebe ein. Dadurch verliert die Lunge ihre Haftung am Rippenfell, und es wird keine Luft mehr in den Lungenflügel transportiert. Ein Lungenriss kann erkennbar sein an Atemnot und Husten mit blutigem Auswurf. Das hatte er ja beides bereits in ziemlichem Ausmaß!»
«Und das hat man jetzt operiert?»
«Ja. Sie mussten allerdings einen Teil seiner Lunge entfernen.»
«Echt? Oh je! Ist das sehr schlimm?»
«Wie man's nimmt. Sie hatten keine andere Wahl.»
«Wie kann es denn überhaupt zu so einem Lungenriss kommen?», fragte ich.
«Das kann ganz verschiedene Ursachen haben. Es kann beim Tauchen passieren, beim Sport, oder wenn man sich beim Heben zu großer Lasten übernimmt. Oder auch bei schweren Hustenattacken. Ich meine, es ist ja auch kein Wunder bei all dem, was er seiner Lunge zumutet mit dem vielen Rauchen und den Lungenentzündungen, die nie richtig behandelt wurden!»
«Wird das je wieder heilen?»
«Tja, das hängt von ihm ab. Ganz gesund wird seine Lunge natürlich nicht mehr werden, aber wenn er in Zukunft auf sich aufpasst, kann er wahrscheinlich ganz gut damit leben. Aber Hochleistungssport wird natürlich nicht mehr in dem Ausmaß möglich sein. Und am Anfang sollte er sicherlich ganz auf körperliche Anstrengung verzichten und dann sehr vorsichtig wieder beginnen. Und mit dem Rauchen muss er jetzt natürlich schleunigst aufhören, das ist ja wohl klar.»
Mir war soeben ein Gedanke gekommen.
«Paps, du sagtest, beim Tauchen … Kann es sein, dass er sich diesen Lungenriss schon damals im Schwimmbad zugezogen hat, weißt du, als er vom Zehner ins Wasser gesprungen und danach bewusstlos geworden ist? Seit diesem Tag fing dieser Husten wieder an.»
«Schon möglich, dass dort bereits etwas passiert ist. Ich verstehe sowieso nicht, dass man ihn da nicht gleich untersucht hat!»
«Er hat sich geweigert …»
«Was denn sonst», brummte Paps grimmig. «Ich wundere mich überhaupt, wie er so lange damit überleben konnte. Er hätte schon zehnmal daran sterben können. Dr. Thielemann meinte auch, dass das ein Wunder sei!»
«Darf ich zu ihm?»
«Nicht jetzt, er ist noch nicht ganz aus der Narkose aufgewacht. Aber ich denke, morgen oder übermorgen wird es ihm besser gehen.»
Schon am nächsten Nachmittag – es war Mittwoch – fuhren mich meine Eltern wieder ins Krankenhaus. Domenico lag mit blassem Gesicht in dem weißen Bett und starrte gelangweilt an die Decke. Sein linker Arm baumelte schlapp über die Bettkante und hing an einer Infusion. Von irgendwoher kamen weitere Schläuche unter seiner Bettdecke hervor und waren mit einem Monitor verbunden, aus dem ein regelmäßiges Piepsen kam.
«Nicki!» Ich stürmte sofort auf ihn zu.
Er grinste mich mit blassem Gesicht an. Vorsichtig setzte ich mich zu ihm auf die Bettkante, darauf achtend, dass ich die Schläuche nicht berührte. Meine Eltern zogen zwei Stühle herbei und setzten sich dazu.
«Was machst du bloß für Sachen!»
«Na ja …», grinste er zerknirscht. Er versuchte meine ausgestreckte Hand zu berühren, doch die Schläuche hinderten ihn daran.
«Du hättest sterben können! Ich hatte wahnsinnig Angst.»
«Ja, das hatten wir alle!», bekräftigte Mama.
Domenico versuchte eine beschwichtigende Geste mit seiner Hand zu machen, doch das war keine gute Idee.
«Aua!»
«Sei vorsichtig», warnte ich.
Er lächelte schlapp.
«Tut es noch sehr weh?» Ich schaute besorgt auf die Schläuche. Was hatten die alles mit ihm gemacht!
«Tja, ich darf mich einfach nicht bewegen. Die Schläuche pieksen so!»
«Schläuche?»
«Die stecken halt da drin. In meiner Brust. Sie haben mir einen Teil vom linken Lungenflügel rausgenommen. Jetzt hab ich halt noch 'ne Narbe mehr …»
Paps beugte sich vor und prüfte, ob die Schläuche richtig an Ort und Stelle saßen.
«Was haben die sich wohl dabei gedacht?», brummelte er, als er kopfschüttelnd etwas geraderückte. «So. Besser?»
«Mhmm. Danke.»
Ich schluckte jegliche Bemerkung runter, dass er sich all das hätte ersparen können, wenn er doch nur früher zum Arzt gegangen wäre.
«Du kannst wirklich Gott danken, dass du noch am Leben bist, junger Mann!» Paps verstellte das Kopfende des Bettes ein wenig, so dass das Liegen bequemer war. «Eigentlich wäre von mir noch eine ordentliche Standpauke fällig!»
«Von mir auch!», sagte ich streng.
«Dann schießt los», murmelte Domenico.
«Dir ist ja hoffentlich klar, dass du mit deiner Gesundheit und deinem Leben ziemlich fahrlässig umgegangen bist, hm?» Paps konnte seine Verärgerung nun nicht länger im Zaum halten, aber das war gut so. Wenn Paps zornig war, war er aufrichtig besorgt.
«Du hättest schon längst in Behandlung gehört! Ich wollte dir ja helfen, aber du hast es nicht zugelassen. Du hast dich wie ein dummer Junge gegen jede Hilfe gesträubt und es deiner Umwelt alles andere als leicht gemacht. Und wenn du dein Verhalten nicht schleunigst änderst, dann kann ich dir nicht garantieren, dass du dein fünfundzwanzigstes Lebensjahr noch erreichen wirst. Und das Rauchen treib ich dir eigenhändig aus, darauf kannst du dich gefasst machen!» Paps hatte sich richtig in Rage geredet und beendete seinen Satz mit einem grimmigen Schnauben.
Domenico blickte Paps mit verdächtig glänzenden Augen an. Die Worte von Paps hatten voll getroffen.
«Mann, ich versuch's ja …», murmelte er leise. «Der Arzt hat auch schon mit mir geschimpft. Hat mir 'n paar Röntgenbilder von meiner Lunge gezeigt. Äh … na ja, sieht nicht so gut aus … Sie haben mir so'n bescheuertes Nikotinpflaster angeklebt. Das Ding juckt ekelhaft.»
«Ja, recht so!», brummte Paps. «Gewisse Leute brauchen manchmal einen Schock, bis sie endlich vernünftig werden.»
«Martin», mahnte Mama. «Sei doch nicht so grob!»
«Doch. Hier hilft nur eine harte Hand! So einen unvernünftigen Jungen muss man echt mal ein bisschen mit Gewalt in die Schranken verweisen.»
Na ja, das war eben Paps.
«Ist schon okay», murmelte Domenico. «Ich sag ja gar nix mehr.»
«Und dass mit Hochleistungssport natürlich vorerst auch Schluss ist, das ist dir hoffentlich auch bewusst? Jetzt ist erst mal Vorsicht und Schonung angesagt.»
«Schon klar!» Domenico schloss die Augen. Ich schaute auf seine Hand, die leicht zuckte. Das Nietenarmband fehlte. Natürlich hatte man es ihm wegen der Infusion abgenommen. Doch er drehte sein Handgelenk schnell nach innen, bevor ich einen Blick auf die Narben werfen konnte, die ich bis jetzt immer noch nicht zu Gesicht bekommen hatte.
Mama rutschte mit dem Stuhl etwas näher an ihn heran.
«Ich denke genau wie Martin, dass du nach all diesen Geschichten wirklich dankbar sein solltest, dass du noch am Leben bist», meinte sie sanft. «Um ein Haar wäre es mit dir vorbei gewesen.»
Er öffnete die Augen. Das Dunkelgrau in seiner Iris verschwamm in einem eigenartigen Glanz.
«Vielleicht ist dir jetzt klar, dass es jemanden gibt, der nicht wollte, dass du stirbst. Jemand, dem du unendlich viel wert bist und der einen Plan mit deinem Leben hat.»
«Du meinst … Gott oder so?» Nicki sah Mama zweifelnd an. «Ich weiß nicht … es sieht doch eher so aus, als würde ich alles nur kaputtschlagen. Und außerdem hat unsere Mutter uns ja gar nie gewollt. Sie …» Er wollte tief Luft holen, doch das schmerzte. «Aaaah!»
«Sachte. Langsam angehen.»
«Ich komm mir hier vor wie ein belämmerter Idiot!», stöhnte er. «Voll ans Bett gebunden …»
«Das wird schon wieder.»
«Tja, jetzt kann unser Held halt mal keine waghalsigen Sprünge machen», warf Paps energisch ein.
«Hör zu, Nicki. Ob deine Mutter dich gewollt hat oder nicht, ist nicht so maßgebend. Gott ist es, der dir das Leben geschenkt hat. Das darfst du nie vergessen. Und wir brauchen dich noch!», sagte Mama.
«Wozu denn?», fragte er dunkel.
«Schafskopf!» Mama verstrubbelte ihm neckisch das Haar. «Sieh mal, du hast doch unser aller Leben verändert!»
«Hab ich das? Aber nicht gerade zum Guten, oder?»
«Doch, hast du!», warf ich ein. Mir war gerade ein ziemlich genialer Geistesblitz gekommen. «Schau mich an. Bevor ich dich kennen lernte, war ich so ein schüchternes und ängstliches Mauerblümchen. Und wahrscheinlich wäre ich das heute noch, wenn du nicht in unsere Klasse gekommen wärst. Und schau dir Patrik an. Sieh doch, wie auch er sich verändert hat. Und Delia, Manuela, André und Ronny! Ohne dich wären wir alle heute nicht zusammen. Und vergiss Jenny nicht! Wenn du nicht gewesen wärst, würde sie vermutlich noch immer unter einer Brücke in Sizilien pennen.»
«Das stimmt», warf Mama leise ein, «und ohne dich hätte ich mich vielleicht nie wieder ans Klavier gesetzt.»
«Aber ich hab doch gar nichts gemacht!», sagte Domenico fassungslos. «Was faselt ihr da für'n Stuss? Im Gegenteil. Ich hab doch nur Mist gebaut!»
«Da siehst du mal, wie Gott um dein Leben wirbt, dass er sogar deinen Mist gebraucht hat, um uns allen etwas Neues zu zeigen», bemerkte Mama trocken. «Was aber bitte nicht heißt, dass du weiterhin Mist bauen sollst. Im Gegenteil! Du hast eine Menge Stärken, und die sollst du endlich ausleben.»
«Das ist ja echt abgefahren!» Er lächelte ein bisschen; der Gedanke begann ihm offensichtlich zu gefallen. Doch gleich darauf wurden die aufsprühenden Funken in seinen Augen wieder von einem finsteren Schatten verzehrt.
«Aber warum musste dann mein Bruder sterben? Ich meine, ich hab so versucht, ihn von all den Drogen wegzubringen. Und ich weiß noch, wie ich nachts allein am Meer war … ich hab Gott so angefleht, meinem Bruder zu helfen. Versteht ihr das? Warum konnte er ihn nicht retten?»
«Woher willst du wissen, dass Gott deinen Bruder nicht gerettet hat?», sagte Mama geheimnisvoll.
«Gerettet? Er ist gestorben!»
Ich schwieg und dachte an das, was Mingo mich damals gefragt hatte. Was er zu mir gesagt hatte, kurz bevor er gegangen war.
«Sieh mal, Nicki, ich kann deine Frage so gut verstehen», sagte Mama. «Sie ist nicht leicht zu beantworten. Es gibt keine billige und schnelle Antwort dafür, und darum versuche ich es auch gar nicht. Ich habe mir auch viele Fragen gestellt, als unser Michael gestorben ist. Aber wir müssen lernen zu verstehen, dass nicht Gott für die bösen Dinge verantwortlich ist. Oft sind wir selbst es, die ihm Grenzen setzen. Und er zwingt uns zu nichts. Manchmal verstehen wir erst später, warum etwas passiert ist. Aber wir müssen aufhören, uns deswegen zu zermürben. Wir müssen unseren Blick in die Zukunft richten. Und darauf, dass Gott in der Lage ist, aus jedem Mist etwas Gutes zu machen, wenn wir dazu Ja sagen.»
Domenico senkte die Augen und starrte auf die Bettdecke. Er schien angestrengt über etwas nachzudenken.
«Ich hab irgendwie was in mir drin gehabt, das mich gewarnt hat … an dem Abend, als wir in der Disco waren und Mingo zum ersten Mal harte Drogen probiert hat. Da war ständig was in mir, das mir sagte, ich soll zu meinem Bruder gehen … aber ich hab's ignoriert. Ich hab's irgendwie nicht geschnallt … ich war ja selber so beknackt drauf, hatte Pillen geschluckt und ziemlich viel getrunken …» Tränen perlten aus seinen Augen. «Da war dieses Mädchen, und ich … ich war so ein Idiot. So ein kranker, blöder Idiot. Und dann war's zu spät … seit dem Tag hab ich Mingo nicht mehr von dem Zeug weggekriegt …»
Er weinte und verzog sein Gesicht, weil ihn jede Bewegung schmerzte. Mama drückte seine Hand.
«Vor seinem Tod hatte ich noch Dinge zu ihm gesagt, die mir nachher so leidtaten. Ich wollte das nicht. Ich hatte das nicht so gemeint. Aber ich war mit den Nerven einfach total am Ende!» Er schluchzte heftig. «Aber als ich ihn dann im Arm hielt … als er im Sterben lag, da fühlte ich, wie er sich noch mal bewegte, und da hab ich es ihm gesagt. Dass ich ihn liebe. Und dann ist er in meinen Armen gestorben. Ich habe es gefühlt. Ich hab ihn echt geliebt! Mehr als alles andere!»
«Das wusste er, Nicki. Davon bin ich überzeugt», sagte Mama. «Und mach dir keine Vorwürfe mehr. Es war nicht deine Schuld. Du hast doch wirklich alles für ihn getan! Und unheimlich viel mit ihm ausgehalten. Ich finde das sehr bewundernswert, wie du dich um ihn gekümmert hast.»
«Echt?», schniefte er. Mama nahm ein Taschentuch heraus und wischte ihm die Tränen weg, weil er sich selber kaum rühren konnte.
Paps räusperte sich und schaute auf die Uhr. «Die Besuchszeit ist um, und du brauchst unbedingt noch ein bisschen Ruhe. Nur eines noch: Ich bin bereit, mein Einverständnis zu geben, falls du nach deinem Krankenhaus-Aufenthalt eine Weile bei uns wohnen möchtest. Jedenfalls so lange, bis du wieder auf dem Damm bist. Ich wäre sogar ziemlich dafür, denn dann könnte ich dich ärztlich überwachen und dir auch helfen bei der Raucherentwöhnung. Was meinst du dazu?»
Domenico zögerte. Sein Blick blieb an mir hängen.
«Ich weiß nicht, ob das so 'ne gute Idee ist», sagte er schließlich. «Wegen ihr, meine ich.»
Ich wurde rot.
«Ich möchte ihr nicht ständig dazwischenfunken. Sie hat doch 'nen Freund … und ich weiß nicht, ob das so gut wäre, wenn ich da ständig rumgeistern würde. Ich möcht einfach nicht mehr dauernd alles kaputtmachen und schuld sein, wenn etwas schiefläuft …»
«Das ist kein Problem!», erwiderte ich schnell.
«Wir müssen halt irgendwie miteinander klarkommen. Vielleicht müsst ihr zwei Jungs – du und Leon – mal offen reden und die Fakten klären», schlug Mama vor. «Außerdem wäre es ja, wie Martin gesagt hat, nur vorübergehend. Aber ich fürchte, im Wohnheim würdest du zu schnell wieder in Versuchung kommen, dich von den anderen Jungs provozieren zu lassen und den Coolen zu mimen. Und damit würdest du dich jetzt nur unnötig in Gefahr bringen.»
Er nickte, das schien ihm einzuleuchten.
«Außerdem», Mama schmunzelte, «wollte ich dich sowieso fragen, ob du nicht Lust hättest, mir ein paar Italienisch-Nachhilfestunden zu geben. Ich möchte schon so lange meine Kenntnisse wieder auffrischen.»
Domenico schaute Mama perplex an. «Ich soll dir Italienisch beibringen? Aber ich weiß nicht, ob ich das gut genug kann. Wir reden anders auf Sizilien. Bei mir hat sich das alles irgendwie vermixt. Mit dem Dialekt dort. Ich fürchte, ich werde 'nen hundsmiserablen Lehrer abgeben!»
«Ja, das fürchte ich wirklich auch», neckte ihn Mama.
Domenico musste drei Wochen lang im Krankenhaus bleiben. Wir gingen ihn fast täglich besuchen. Manchmal, wenn ich Schule hatte, gingen meine Eltern sogar ohne mich hin. Besonders Mama nahm sich sehr viel Zeit für ihn. Ich ging oft in Begleitung meiner Freunde hin, mit Jenny, Patrik und Manuela. Jenny brachte meistens ein Spiel aus ihrer gigantischen Sammlung mit, das wir auf seiner Bettdecke ausbreiteten. Domenico war die Schläuche und die Infusionen schon bald los und konnte sich wieder im Bett aufsetzen. Wir spielten zusammen «Mensch ärgere dich nicht» und «UNO». Meine Eltern und ich holten auch seine Malsachen aus dem Wohnheim und brachten sie ihm. So konnte er sich die Zeit mit Zeichnen vertreiben, wenn er allein war.
Sogar Delia und Ronny besuchten ihn. Domenicos Kollaps im Turnunterricht war Ronny echt eingefahren. Seither hatte er keine einzige Zigarette mehr angerührt.
Auch Frau Galiani kam zwei, drei Mal vorbei, und Frau Schütze vom Jugendamt kam einmal pro Woche und regelte mit Domenico vor allem die Angelegenheiten, die den bevorstehenden Gerichtstermin betrafen. Sie war auch einig mit meinen Eltern, dass Domenico nach seinem Krankenhaus-Aufenthalt bei uns vorerst am besten aufgehoben war.
Der schönste Tag war für ihn jedoch, als ihm Frau Schütze Bianca vorbeibrachte. Mama und ich waren auch dabei. Bianca lebte jetzt vorübergehend in einer Art Bereitschaftspflegestelle, bis man alle Fakten abgeklärt hatte. Ich schaute die Kleine mit gemischten Gefühlen an. Wie kleinlaut sie wirkte, als sie neben Frau Schütze herging, die sie zu Domenico brachte. Zum ersten Mal sah sie aus wie ein achtjähriges Kind, so, wie sie wirklich war. Nicht aufgedonnert, nicht auf älter gestylt. Trotzdem lag immer noch etwas Hartes in ihrem Gesicht. Ach, Bianca. Ob ich ihr je näher kommen würde?
Ich war überrascht, als Mama Frau Schütze zu einem Gespräch unter sechs Augen bat – mit mir zusammen. Und Frau Schütze war bereit, uns ein paar Informationen zu geben. Es war das erste Mal, dass ich bei einem Gespräch mit ihr dabei war, und ich staunte, wie sympathisch und offen sie war.
«Nun, im Moment sind wir dabei, die Fakten abzuklären und die ersten Kontakte zu Biancas Vater zu knüpfen. Sollte wirklich der Tatbestand einer Misshandlung vorliegen, werden wir natürlich eingreifen. Ich nehme da Domenicos Informationen schon sehr ernst», meinte Frau Schütze auf Mamas Frage, ob man Bianca wieder zu ihrem Vater zurückschicken würde.
«Was gäbe es denn für Alternativen für die Kleine?», wollte Mama wissen.
«Ich persönlich fände es die schönste Lösung, wenn Bianca zu einer guten Pflegefamilie käme, wo sie auch weiterhin regelmäßigen Kontakt zu Domenico haben darf. Am Anfang vielleicht nur begleitet, bis wir sicher sind, dass er sich wirklich im Griff hat und nicht wieder mit ihr ausbüxt. Und je nachdem, wie sich seine Situation ergibt und wie er sich bewährt, dürfte sie dann später vielleicht auch regelmäßig ein Wochenende oder sogar die Ferien bei ihm verbringen. Eine andere Option wäre, dass Bianca zurück zu ihrer Mutter geht. Aber auch da müsste erst sehr sorgfältig geprüft werden, ob die Frau überhaupt in der Lage ist, für ihre Tochter zu sorgen.»
«Was für Bedingungen müsste denn die Pflegefamilie erfüllen?», fragte Mama weiter.
«Nun, sie muss natürlich ein solides Fundament und ein geregeltes finanzielles Einkommen aufweisen. Von Vorteil ist es auch, wenn sie selbst schon Kinder hat. Die Familie wird sorgfältig auf ihre Eignung getestet und muss dann auch an Schulungen teilnehmen. Natürlich muss Biancas Vater, der ja immer noch das Sorgerecht hat, erst seine Einwilligung geben. Je nachdem ist das kein Problem, aber unter Umständen kann es auch in einen komplizierten Prozess münden. Das müssen wir erst sehen.»
«Gibt es denn schon jemand Konkretes, der als Pflegefamilie in Frage kommt?», war Mamas letzte Frage.
«Im Moment noch nicht, nein.»
Mama war mal wieder ziemlich nachdenklich auf dem Heimweg.
Leon war eines Nachmittags zu mir gekommen und hatte sich für sein Verhalten entschuldigt.
«Es tut mir wahnsinnig leid, Maya!», sagte er. «Ich habe an diesem Nachmittag ziemlich überspannt reagiert.»
«Schon gut», sagte ich. Ich war nie lange wütend. Das schaffte ich gar nicht. «Ich war einfach sauer, weil du meine Eltern quasi als … als Amateure hingestellt hast.»
«Das tut mir echt leid. Das hab ich wirklich nicht so gemeint. Nur, ich habe einfach festgestellt, dass dein Herz nicht wirklich bei mir ist. Und das hat mir so wehgetan. Ich liebe dich nämlich, Maya. Das weißt du. Und ich finde, wir passen so gut zusammen. Ich wollte nicht, dass all das kaputtgemacht wird durch diesen Jungen!»
«Das wollte ich auch nicht.» Und weil Leon so ehrlich war, hatte auch er einen Anspruch darauf, dass ich ehrlich war.
«Du hast Recht. Mein Herz war nicht wirklich bei dir. Und es war nicht fair von mir, dir das nicht zu sagen. Ich war selber so durcheinander und habe nicht gewusst, wo ich wirklich stehe. Und ich weiß es wahrscheinlich auch jetzt noch nicht.»
«Sag mir eins: Ist er einfach nur dein Freund, oder hast du eine Beziehung zu ihm?»
«Wir sind gute Freunde», sagte ich. «Eine Beziehung mit ihm dürfte kaum in Frage kommen. Ich denke auch nicht, dass meine Eltern das erlauben würden.»
Leon nickte nachdenklich. «Okay. Danke. Nur, weißt du, wenn ich nicht den Platz in deinem Leben habe, den ich mir wünsche, dann weiß ich nicht, ob ich noch länger mit dir zusammen sein kann, Maya!» Er sah mich traurig an. «Ich mag kein Lückenbüßer sein, verstehst du?»
Eine Weile hing bitteres Schweigen in der Luft. Schließlich war es Leon, der den Entschluss fällte: «Ich schlage vor, dass wir eine Pause einlegen», sagte er. «Eine Pause, in der du dir überlegen kannst, was du wirklich willst. So dass – wenn du wieder zu mir zurückkommen willst – du es von ganzem Herzen tun kannst. Oder mir, wenn du es nicht willst, wenigstens eine vernünftige Abfuhr erteilst!»
Ich nickte betreten. Ja, das war eine faire Lösung.
Hinterher ging ich auf mein Zimmer und schloss mich ein. Dort blieb ich lange auf meinem Bett sitzen und schämte mich. Schämte mich, weil ich jemandem so wehgetan hatte.