Paps brachte Domenico an einem Samstagnachmittag mit. Ich brütete über meinen Matheaufgaben (nun war kein Leon mehr da, der mir half!), als jemand an meine Zimmertür klopfte. Ich rief «Herein!» und glaubte meinen Augen nicht zu trauen, als ich Domenico im Türrahmen stehen sah.
«Nicki!» Ich ließ überrascht den Kugelschreiber fallen.
«Da bin ich!», grinste er matt und schob seine Hände in die Hosentaschen.
«Das sehe ich! Wie geht es dir?»
«Ganz gut. Sie haben mich vorzeitig entlassen. Zum Glück. War langsam echt ätzend dort.»
«Kann ich mir lebhaft vorstellen. Na ja, jetzt hast du es ja hinter dir.»
Ich musterte ihn prüfend. Er war immer noch schmal, aber wenigstens nicht mehr so blass. Eine Weile sahen wir uns stumm in die Augen. Dann wandte er sich einfach ohne ein weiteres Wort wieder von mir ab und verzog sich in sein neues Zimmer, das Mama für ihn vorbereitet hatte. Ich blieb sitzen und starrte zur Tür, wo er gerade noch gestanden hatte. Träge nahm ich meinen Kugelschreiber wieder zur Hand. Was war los? Baute er jetzt wieder eine Mauer um sich herum auf?
Ich sah ihn erst beim Abendessen wieder. Meine Eltern waren richtig fröhlich und locker und unterhielten sich mit ihm, als würde er schon immer zur Familie gehören. Und Domenico fühlte sich offensichtlich ganz wohl. Das konnte ich daran sehen, dass er seine Augen nicht mehr zusammenkniff und sie nicht mehr hinter seinen Haarsträhnen versteckte. Jedenfalls nicht, was meine Eltern betraf, denn mir gegenüber verhielt er sich immer noch total reserviert. Er sah mich kaum an und sprach wenig mit mir. Nur wenn ich ihm eine Frage stellte, gab er Auskunft – aber auch das nur so spärlich wie nur irgendwie möglich.
Später saßen wir beim Nachtisch. Mama hatte uns extra einen Kuchen gebacken, weil sie inzwischen Domenicos Vorliebe für Süßspeisen kannte. Paps gab ihm ein paar Regeln, an die er sich halten musste, solange er mit uns zusammen unter einem Dach wohnte. Erstens, er durfte im Haus nicht rauchen. Zweitens, er musste uns Bescheid sagen, wenn er weggehen wollte und auch, wie lange er wegbleiben würde. Drittens, er musste wie ich seinen Teil im Haushalt beitragen. Und viertens, er musste sich an unsere Schlafenszeiten halten und morgens auch zu einer angemessenen Zeit wieder aufstehen.
«Es wird nicht bis in die Mittagszeit gepennt!», sagte Paps energisch.
Domenico nahm die Regeln hin, ohne mit der Wimper zu zucken. «Geht klar», murmelte er. «Ich geb mir Mühe.»
Und das tat er auch. Er lebte sich recht gut ein. Besser, als wir es vermutet hatten. Ich hatte zuerst befürchtet, dass er bald gegen Paps' Regeln rebellieren würde, aber er strengte sich wirklich wahnsinnig an. Er brauchte allerdings ein bisschen die Hilfe meiner Eltern. Wenn er am Morgen Mühe hatte, aus den Federn zu kommen, weckte ihn Mama so hartnäckig, bis er keine andere Wahl mehr hatte, als aufzustehen. Anfangs torkelte er morgens schlaftrunken rum und war kaum ansprechbar, aber nach einer Woche wurde es schon besser. Paps verschrieb ihm die nötige Portion Schlafpillen, die er brauchte, um eindösen und überhaupt einigermaßen durchschlafen zu können.
«Es hat keinen Zweck, ihn jetzt auch noch mit Schlafmethoden zu plagen», meinte er. «Dieses Problem packen wir zu einem späteren Zeitpunkt an. Er hat genug andere Dinge, mit denen er klarkommen muss.»
Ja, das hatte er in der Tat. Ein anderes Thema war, sein Zimmer ordentlich zu halten. Mama half ihm dabei. Sie sagte ihm jedes Mal klipp und klar Bescheid, wenn es an der Zeit war, wieder mal ein bisschen aufzuräumen. Und er tat es. Er rebellierte nie gegen meine Mutter, egal, was sie von ihm verlangte. Ich fühlte, dass er meinen Eltern aufrichtig dankbar war für alles, was sie für ihn getan hatten.
Doch die größte Herausforderung für ihn war die Sache mit dem Rauchen. Paps hatte für ihn ein richtig strenges Entwöhnungs-Programm mit Nikotinpflastern und Kaugummis erstellt.
«Ich weiß nicht, ob ich das hinkriege», stöhnte Domenico.
«Keine Widerrede, junger Mann!», sagte Paps streng. «Wenn du im Krankenhaus mit Nikotinpflastern durchgekommen bist, schaffst du es auch hier!»
«Ja, aber dort haben sie mich so mit Medikamenten vollgepumpt, dass ich fast nur gepennt hab», klagte Domenico.
Doch dank Paps' unerbittlicher Überwachung schaffte Nicki es doch, mit diesen Ersatzmitteln auszukommen. Schließlich war er selber ganz stolz darauf.
«Hätte ich echt nicht gedacht», murmelte er. «Ich dachte, bei mir seien Hopfen und Malz verloren.»
«Das fühlt sich doch jetzt viel besser an, nicht?», sagte ich zu ihm.
«Mhmm», murmelte er und wich meinem Blick aus. Ich schaute ihm traurig nach, wie er wieder in seinem Zimmer verschwand. Er ging mir permanent aus dem Weg. Wir wohnten zwar nebeneinander, aber es war, als wären wir zwei fremde Gäste in einem Hotel. Ich sah ihn bei den Mahlzeiten und beim Abwaschen, und manchmal begegneten wir uns im Flur, wenn sich unsere Wege zum Badezimmer kreuzten. Doch er redete selten mit mir und erwiderte mein Lächeln kaum. Ich ahnte, dass er sich von mir zurückzog, weil er, wie er behauptet hatte, mein Leben nicht zu sehr durcheinanderbringen wollte. Aber deswegen musste er mich doch nicht wie Luft behandeln!
Zudem hörte ich fast jede Nacht, wie er im Schlaf heulte und redete. Die Wände meines Zimmers waren dünn, und so konnte ich fast jedes Wort verstehen. Ganz oft hörte ich Mingos Namen, und es versetzte mir jedes Mal einen Stich ins Herz. Tagsüber ließ er sich nie was anmerken, aber ich ahnte, dass die Nächte für ihn am schlimmsten sein mussten, wenn er aufwachte und realisierte, dass sein Zwillingsbruder nicht mehr bei ihm war. Ich wäre zu gern zu ihm rübergegangen und hätte ihn getröstet und ihn in den Arm genommen, aber ich wusste, dass ich es nicht tun durfte. Da war eben diese Mauer, dieses ungeschriebene Gesetz, das er zwischen uns aufgerichtet hatte.
Und so war ich darum bemüht, mich damit abzufinden, und vergrub mich mehr denn je in meine Hausaufgaben. Ich wollte jetzt wirklich den verpassten Stoff endlich aufholen. Frau Galiani hatte mit mir ja auch extra dieses Nachhilfe-Programm ausgearbeitet. Leons Hilfe in Chemie und Mathematik fehlte mir, aber da musste ich nun durch. So büffelte ich vor mich hin und verschloss mich in meiner Welt, während Domenico entweder in seinem Zimmer saß und zeichnete oder mit Mama zusammen Italienisch paukte. Manchmal unterhielten sich die beiden sogar den ganzen Nachmittag lang nur italienisch, und ich ertappte mich dabei, dass ich eifersüchtig war.
Mama unternahm auch viel mit ihm. Sie fuhr mit ihm in die Stadt und kaufte ihm neue Klamotten, richtig coole Kleidung. Sie schickte ihn auch zum Friseur, und als er in seinem neuen Look nach Hause kam, flüchtete ich sofort in mein Zimmer, um ihn nicht ansehen zu müssen. Er sah besser aus als je zuvor!
Nur ein einziges Mal kam er zu mir ins Zimmer und fragte mich nach der Bibel, die ich ihm und Mingo geschenkt hatte. Er wollte sie unbedingt wiederhaben.
«Geb ich dir gern, aber sie ist doch total kaputt. Die Seiten fallen schnell auseinander. Ich schenk dir lieber eine neue!»
«Ist nett von dir. Aber ich möchte sie trotzdem haben. Sie … sie bedeutet mir einiges.» Den letzten Satz sagte er sehr leise.
Als ich sie aus der Schublade holte und ihm überreichte, hob er seinen Kopf. Für einen Moment gestattete er mir einen Blick in seine unergründlichen Augen. Nur ganz kurz, aber es reichte, um mich für den Rest des Tages außer Gefecht zu setzen.
Er fing auch an, sich öfters mit Patrik zu verabreden, und die beiden Jungs entwickelten eine echte Freundschaft. Außerdem hatten sie etwas gemeinsam: Domenico wollte vom Nikotin loskommen, und Patrik wollte ein paar Kilo abnehmen. Patrik schwärmte mir oft in der Schule vor, wie nett Domenico zu ihm sei. Aber der erzählte nie was über die Abende, die er bei Patrik verbrachte. Wenigstens erfuhr ich dann von Patrik das Meiste.
«W-wir haben g-gestern bis Mitternacht geredet. E-er ist bei mir geblieben, und wir h-haben erst einen F-film geguckt und dann noch g-ganz lang gequatscht! Er hat mir von S-sizilien erzählt …»
Domenico hatte offensichtlich auch Patriks ganze Flugzeugsammlung bewundert.
«Er f-findet Flugzeuge auch cool», schwärmte Patrik. «Aber st-stell dir vor, er ist noch n-nie geflogen!»
Ich hörte Patriks Ausführungen mit einem lächelnden und einem weinenden Auge zu. Einerseits freute ich mich natürlich, dass Nickis Leben endlich festen Boden bekam. Nur wäre ich so gern ein Teil seines Lebens gewesen. Aber vielleicht würde dieser Eiertanz ja wieder aufhören, wenn Domenico in seine WG zurückkehrte …
«Einen älteren B-bruder wie Nicki zu haben wär so cool!», erzählte Patrik weiter, der sich immer Geschwister gewünscht hatte. Vielleicht würde Patrik in Domenicos Leben ja bald die Lücke ausfüllen, die durch Mingos Tod entstanden war?
«U-und er ist so nett. Man k-kann mit ihm echt über a-alles reden! Auch über abgedrehte Sachen. Er s-sagt nie, dass er es d-doof findet oder so …»
Ich seufzte. Ja, das war auch eine der Eigenschaften, die ich an Domenico so mochte. Man konnte ihm echt alles anvertrauen, selbst die verrücktesten Träume und Gedanken. Er brauchte keine logischen Erklärungen, wie Leon sie immer hören wollte. Er verstand einfach.
Anfang März fasste Domenico den Entschluss, wieder in die WG zurückzukehren. Meine Eltern waren sehr skeptisch.
«Meinst du nicht, dass es noch zu früh ist?», fragte Paps. «Du bist noch nicht ganz gesund. Ich will einfach vermeiden, dass du dich wieder in Gefahr begibst und dir einen neuen Lungenriss holst. Außerdem bin ich mir nicht sicher, ob du ohne meine Hilfe schon stark genug bist, deinen Nikotinentzug alleine durchzustehen.»
«Schon, aber ich muss ja irgendwie auch lernen, allein klarzukommen. Ich kann ja eh nicht für immer bleiben. Spätestens dann, wenn sie mich in den Knast stecken, muss ich's ja allein schaffen. Und außerdem …» Sein Blick schweifte zu mir rüber.
«Was denn?», fragte Mama.
«Es ist nicht einfach für sie», murmelte er. «Und für mich auch nicht …»
«Wie meinst du das?», fragte ich mit hochrotem Kopf. Er sah mir zum ersten Mal seit langem wieder direkt in die Augen.
«Ich spür doch, dass ich dich ständig durcheinanderbringe. Und das will ich nicht. Drum weiche ich dir ja dauernd aus!»
Meine Eltern nickten schließlich. Klar, das hatten sie ja auch längst geahnt.
«Ich schätze es, dass du so rücksichtsvoll bist», sagte Paps. «Und du hast dich auch wirklich tadellos verhalten hier bei uns, das muss schon gesagt sein. Nun gut, hoffen wir mal, dass du es im Wohnheim genauso halten kannst!»
Lukas war auch bereit, ihn wieder in der WG aufzunehmen, unter der Bedingung, dass er an den wöchentlichen Gesprächssitzungen teilnahm und sich an die Hausregeln hielt.
«Sei einfach vorsichtig, ja?», mahnte Mama, als er sich mit Sack und Pack von uns verabschiedete. «Und lass dich nicht provozieren!»
Es wurde nicht einfacher, als er weg war. Jetzt musste ich zwar seine Ausweichmanöver nicht mehr ertragen, aber dafür fehlte er mir nun. Ich hatte es irgendwie schön gefunden zu wissen, dass in dem Zimmer neben mir jemand wohnte.
Er kam natürlich immer noch regelmäßig her, manchmal zum Essen, manchmal, um mit Mama Italienisch zu pauken, oder einfach nur, um mit ihr zu quatschen, doch sein Gesicht hatte wieder diesen coolen, verschlossenen Touch bekommen. Ich ahnte, dass die raue Atmosphäre im Heim daran schuld war. Und vielleicht auch der Gerichtstermin, der in großen Schritten näher rückte und der über Domenicos unmittelbare Zukunft entscheiden würde. Auch meine Eltern und ich hatten eine Vorladung bekommen, um als Zeugen Auskunft zu geben. Ansonsten wusste ich nicht so genau, was da lief, nur dass Domenico eine Menge Termine und Gespräche mit Frau Schütze, seinem Psychiater und seinem Jugendanwalt hatte.
Einmal pro Woche durfte er zwei Stunden mit Bianca verbringen, wenn auch unter Frau Schützes Aufsicht. Diese Kontrolle war nicht einfach für ihn, aber er akzeptierte sie, weil er wusste, dass er keine andere Wahl hatte.
Ein anderes, größeres Problem waren die Schulden, die ihm Mingo hinterlassen hatte. Domenico gestand Paps eines Tages beim Mittagessen, dass er nicht wüsste, wie er das alles regeln sollte. Es waren weitaus mehr als diese verflixten zweihundert Euro, wegen denen Janet mich hatte erpressen wollen. Es waren hauptsächlich offene Beträge aus der Zeit vor Sizilien; Schulden, die Mingo nie beglichen hatte.
«Die Dealer aus der Szene sind dauernd hinter mir her», erzählte er. «Wenn ich das nicht berappen kann, machen sie mir das Leben zur Hölle. Die kennen da keine Gnade!»
Paps bot ihm daraufhin finanzielle Unterstützung an. Sie einigten sich darauf, dass Domenico sich das Geld verdienen würde, indem er Mama im Haushalt und Paps bei einigen handwerklichen Tätigkeiten zur Hand ging. Das war eine gute Lösung, die Domenico dankbar annahm.
Er half Mama mit den Einkäufen, beim Saubermachen, beim Fensterputzen, beim Waschen und nicht zuletzt auch beim Kochen. Natürlich achtete Mama streng darauf, dass er sich wegen seiner kranken Lunge nicht übernahm. Aber die Arbeit schien ihm echt Spaß zu machen. Er reparierte sogar einige Dinge, etwa den verstopften Abfluss im Bad, die kaputte Stehlampe und die Kamintür.
«Du bist ein richtig guter Handwerker, weißt du das?», stellte Mama fest.
«Ach was, mein Bruder war zehnmal besser», sagte Domenico traurig. «Der konnte definitiv alles reparieren!»
Mingo … Ja, ich träumte immer noch oft von Mingo. Und die Träume waren so real. Manchmal kam er im Traum und erzählte mir, dass er nun frei war von den Drogen, doch immer wenn ich ihn festhalten wollte, sagte er, dass er nicht bleiben könne, dass er wieder gehen müsse. Und jedes Mal waren meine Augen feucht, wenn ich aufwachte.
Ich ging nicht mehr so häufig zu seinem Grab wie am Anfang, aber immer noch regelmäßig. Ein paar Mal hatte ich fremde Blumen darauf gefunden, und ich zerbrach mir den Kopf, von wem die stammen konnten. Domenico hatte sich ja immer noch nicht dazu überwinden können, sich dem Grab auch nur zu nähern. Wer außer ihm hatte so eine nahe Beziehung zu Mingo gehabt? Bianca? Oder vielleicht das Punk-Mädchen Carrie?
Inzwischen hatte ich vorsichtig versucht, etwas über Domenicos Vater herauszufinden, indem ich seinen Namen googelte. Ich fand heraus, dass er mit seiner Frau und seinen Kindern in Norwegen lebte und seine Sportlerkarriere mittlerweile beendet hatte. Außerdem hatte ich ein ziemlich bemerkenswertes Bild im Internet gefunden, ein Bild, auf dem Morten Janssen lächelte. Seine Zähne zeigten eine deutliche Lücke vorne, genau wie bei Domenico und auch Mingo. Außerdem waren in seinen lächelnden Wangen Ansätze von Grübchen zu sehen. Doch das war natürlich viel zu wenig, um irgendwas beweisen zu können. Und zudem erschien mir das Ganze immer noch ziemlich utopisch …
Und dann kam Domenico eines Abends ganz unerwartet zu mir ins Zimmer. Ich roch, dass er wieder geraucht hatte. Ja, das war auch so eine Sache, dieses leidige, immer wiederkehrende Problem. Seit er ins Heim zurückgekehrt war, hatte er wieder angefangen zu rauchen. Paps hatte das natürlich schnell herausgefunden und ihn zur Rede gestellt.
«Jaaa, ich weiß … ach, ich glaub, ich pack das sowieso nie», hatte Domenico zerknirscht zugegeben.
«Wenn du eines Tages unbedingt Lungenkrebs kriegen willst, kann ich dich auch nicht dran hindern!», hatte Paps geseufzt. Die Sache ging meinem Vater unheimlich nah.
«Vielleicht fehlt ihm noch irgendwas», überlegte Mama. «Vielleicht ist er einfach nervös wegen des Gerichtstermins.»
Genau das hoffte auch ich. Trotzdem … es war einfach, als würde immer noch irgendwas fehlen, eine Lücke im ganzen Puzzle, etwas, das wir nicht wussten … was Gott allein wusste.
«Äh … du, Maya …» Domenico trat zaghaft näher an mich heran. Ich klappte schnell mein Tagebuch zu. Meine Hände zitterten schon wieder. Irgendwie bebte immer etwas an mir, wenn ich ihn ansah. Er trug seine Haare jetzt kürzer, aber immer noch lang genug, um seine frechen Strähnen in die Stirn hängen zu lassen. Er hatte auch etwas zugenommen, seit er regelmäßig aß, und es stand ihm gut. Ja, jetzt würde er den Mädchen wohl erst recht den Kopf verdrehen …
«Ich dachte, na ja, ich sag's dir lieber …» Er blieb schüchtern neben mir stehen.
«Was denn?», hauchte ich – auf alles gefasst.
«Dass ich … na ja … dass ich mich in letzter Zeit ein paar Mal mit Suleika getroffen habe.»
Ich spürte, wie sich ein Seil um meinen Magen zog.
«Und was heißt das?», fragte ich mit beklemmendem Gefühl. «Seid ihr zusammen?»
«Mhmm, mal sehen. Wir sind am Abchecken, ob aus uns vielleicht noch mal was werden kann. Sie … na ja, sie sagt, sie würde es gern noch mal mit mir versuchen, und ich …»
Ich vergaß für einen Moment, wie man atmet, und starrte ihn mit großen Augen an. Er senkte seinen Kopf.
«Komm», sagte er leise, «können wir uns nicht kurz auf dein Bett setzen?»
Wir gingen rüber, und es war das erste Mal seit langem, dass er mir wieder so nahe war und ich seine Schultern spüren konnte.
«Weißt du, irgendwie brauche ich das einfach, 'ne Freundin», sagte er. «Ich dachte, ich könne mal 'ne Zeitlang ohne Mädchen sein, aber irgendwie fehlt mir was. Sie ist nett, und ich mag sie, und ich möchte gern jemand haben, dem ich treu sein kann. Ich weiß, ich war früher ziemlich wild und so, aber das ist vorbei. Und Suleika kennt mich schon so lange und kommt aus der gleichen Welt wie ich. Da muss ich nicht dauernd Angst haben, sie zu schocken oder so.»
«Verstehe», sagte ich tonlos. Der Gedanke, dass Suleika fortan in Nickis Armen liegen würde, bohrte sich wie ein spitzer Nagel in meine Innenwelt, obwohl ich doch gar keinen Grund hatte, deswegen eifersüchtig zu sein. Domenico und Suleika. Das war vielleicht das einzig Richtige, und klar, er brauchte eine Freundin.
«Das … das freut mich, Nicki», sagte ich tapfer.
Er sah mich wehmütig an. «Maya … weißt du, ich … nee, es ist nicht gut, wenn ich dir das sage. Sieh mal, ich hab 'ne Menge nachgedacht. Ich weiß, dass ich eines Tages wieder auf Sizilien leben möchte. Ich brauch die Sonne und das Meer, irgendwie. Ich hab mit Suleika darüber geredet. Sie würde vielleicht sogar mitkommen.»
Er lehnte sich ein wenig zurück und musterte mich mit seinen blaugrauen Augen. Und irgendwie fühlte ich mich einen intensiven Moment lang, als würden wir wieder zusammen am Meer sitzen. Doch ich schüttelte diesen Gedanken ganz schnell ab.
«Und dann würdest du Suleika heiraten!», sagte ich knapp.
«Na ja, vielleicht. So weit gehen meine Gedanken nicht, Maya …», murmelte er ausweichend. Er schaute zur Seite, und ich betrachtete sein schönes Profil, das in den letzten Monaten markanter geworden war. Ja, Nicki war erwachsen geworden … ein junger Mann.
Ich seufzte und nickte schwermütig. «Klar, Nicki. Das finde ich gut. Jetzt hast du wenigstens einen Traum …»
Wie sehr mich der Gedanke schmerzte, wie es wäre, wenn er weggehen und ein anderes Mädchen mit ihm auf dem Motorrad durch Sizilien brausen würde – das behielt ich für mich.