Domenicos Gerichtstermin war am 19. März, drei Tage vor meinem sechzehnten Geburtstag. Der Winter hatte nochmals kräftig zugelangt und uns mit einer dicken Ladung Schnee versorgt.
Domenico stopfte den silbernen Totenkopf unter seinen schwarzen Pullover und sah sich nervös im Spiegel an. Er betrachtete seine vom Rauchen verfärbten Zähne und verzog sein Gesicht.
«Sei vor Gericht einfach ehrlich, Nicki», riet Mama freundlich, die hinter ihm stand. «Das ist das Allerbeste! Aber vielleicht solltest du besser diese Nietenarmbänder ausziehen? Sie sehen ein bisschen dominant aus!»
Er schaute auf die Armbänder, die er seit Mingos Tod immer getragen hatte. Etwas zögernd streifte er sie ab und versteckte seine Handgelenke sofort unter den Ärmeln, damit wir die Narben nicht sehen konnten.
Wir hatten ihn vom Wohnheim abgeholt, damit wir alle zusammen mit ihm zum Gericht fahren konnten. Mama hatte ihm auch geholfen, alle Papiere vorzubereiten, die er vorweisen musste. Er war so schrecklich nervös und schob sich alle zehn Minuten einen neuen Nikotinkaugummi in den Mund. Denn der bevorstehende Prozess war nicht das Einzige, was ihm die Nerven raubte. Da war noch etwas anderes. Er würde an diesem Tag zum ersten Mal seit langem seiner richtigen Mutter gegenübertreten müssen, die ebenfalls als Zeugin vorgeladen worden war. Das war etwas, das er bisher mit aller Kraft vermieden hatte.
Domenico und ich saßen zusammen auf dem Rücksitz, doch er sah mich kaum an und kaute an seinen Nägeln rum. Paps fuhr auf den Parkplatz vor dem Amtsgericht. Vor dem Eingang wartete Suleika in ihrer rotweißen Jacke und braunen Cowboystiefeln. Sie winkte mir zu und hängte sich bei Domenico ein. Ihr langes Haar, das sie an diesem Tag offen trug, wallte wie glänzende Seide über ihren Rücken. Ich wandte meinen Blick ab und starrte beklommen zu dem Gebäude hoch. Es wirkte drohend, im wahrsten Sinne amtlich und steif, ein Monster mit schweren Türen und Rundbogenfenstern.
Der Gerichtssaal befand sich im Hauptgebäude. Domenico wurde von seinem Jugendanwalt in Empfang genommen und in den Saal geführt, während wir draußen auf der langen Wartebank Platz nahmen. Nur Suleika setzte sich nicht zu uns auf die Bank, sondern schwang sich gegenüber aufs Fensterbrett, wo sie ihren Kopf an die Wand lehnte und ihre Beine mit den Armen umschlang. In dieser Pose verharrte sie und schaute aus dem Fenster, während ich erst das Muster auf ihren braunen Cowboystiefeln studierte und dann ihre wunderschönen Haare.
Erst als ich hallende Schritte die Treppen heraufkommen hörte, löste ich mich von Suleikas Anblick. Die Schritte klangen wie zwei Paar Frauenschuhe.
«Kommen Sie, Maria», hörte ich kurz darauf Frau Galianis leise Stimme.
Und dann sah ich zum ersten Mal Domenicos Mutter. Maria di Loreno.
Ich war erstaunt, wie klein sie war. Sie reichte Frau Galiani nur knapp über die Schulter. Sie hatte sich mühevoll zurechtgemacht, doch irgendwie passte sie nicht so richtig in dieses enge Kostüm, das sie trug. Ihr Blazer wirkte schmuddelig, als hätte sie ihn aus einem Altkleider-Container gezogen. Ihre widerspenstigen schwarzen Haare hatte sie notdürftig mit ein paar Klammern in ihre Schranken verwiesen. Alles in allem wirkte sie müde, wie nach einer durchzechten Nacht. Ihre grobporige Haut war käsig und fahl. Sie sah überhaupt nicht aus wie das Model auf dem Foto im Erotik-Shop. Nur ihr Gesicht ließ etwas davon erkennen. Sie hatte die gleichen markanten hohen Wangenknochen, dieselbe feine Nase und ähnlich schön geschwungene Augenbrauen wie ihre drei Kinder Domenico, Mingo und Bianca.
Sie setzte sich auf den freien Platz neben mir. Sie trug eine Menge Silberketten um den Hals und um ihre Arme, die bei jeder Bewegung klimperten. Eine herbe Mischung aus Bier, Rauch und Parfum kitzelte meine Nase.
Wir warteten. Niemand von uns sprach ein Wort. Nur murmelnde Stimmen waren aus dem Gerichtssaal zu hören. Inzwischen traf auch Lukas von der WG ein und setzte sich schweigend zu uns. Dann wurden Maria di Loreno und Frau Galiani in den Saal gerufen, und wieder wurde die Tür verschlossen. Suleika saß immer noch wie eine reglose Skulptur auf dem Fensterbrett und starrte hinaus. Ich hätte gern gewusst, was in ihr vorging.
Wieder kamen Schritte die Treppe herauf, und diesmal waren es Delia und ihre Mutter. Delia wirkte blass und dünn. Sie war total nervös, weil sie vor Gericht das Ereignis schildern musste, wie Domenico sie zusammengeschlagen hatte – dieses für sie traumatische Erlebnis, das sie am liebsten aus ihren Gedanken verdrängte. Außerdem fürchtete sie sich vor ihrer Mutter, die mit einem grimmigen Gesicht neben ihr herging und ständig aussah, als würde sie die Nase rümpfen. Ich hatte mich mit Delias Mutter nie anfreunden können. Sie war meiner Meinung nach eine hektische und ständig genervte Frau.
Delia und ihre Mutter wurden beide in den Saal gebeten, während meine Eltern und ich immer noch draußen warten mussten. Ich bohrte meine Fingernägel in meinen Handballen, bis er richtig rot war. Ich kaute im Kopf all die Worte durch, die ich mir zurechtgelegt hatte, stellte sie noch hundertmal um und war doch überzeugt, dass ich dort drin nicht mehr als ein Stottern rausbringen würde. Mama packte zwei Äpfel aus und reichte mir einen, doch ich lehnte ihn ab. Ich hatte keinen Hunger. Ich hätte jeden Bissen wieder ausgespuckt.
Und dann endlich kamen wir dran. Bevor ich hinter Paps den Saal betrat, wandte ich mich um und fing einen auffordernden Blick von Suleika auf, den ich nicht zu deuten wusste. Dann wurde die Tür geschlossen, und wir standen mitten im Saal.
Ich sah Domenico nur von hinten. Er saß mit geneigtem Kopf vorne, unmittelbar vor der Richterin. Er schaute sich nicht nach mir um. Bei ihm saßen sein Jugendanwalt, Frau Schütze, sein Psychiater, zwei Polizeibeamte und noch ein weiterer Herr mit schwarzem Anzug und grauen Schläfen, von dem ich nicht wusste, wer er war.
In der hinteren Reihe saßen Delia, ihre Mutter, Maria di Loreno, Frau Galiani und Lukas, die alle ihre Aussagen schon hinter sich hatten. Die Stille wurde von heftigen Schluchzern unterbrochen. Maria di Loreno heulte unentwegt und tupfte sich mit einem zerknüllten Taschentuch die schwarzen Mascara-Spuren auf ihren geröteten Wangen weg.
Weil ich noch vor meinen Eltern mit der Aussage drankam, musste ich mich in die vordere Reihe setzen. Alle starrten mich an. In meinem Hals wuchs ein mächtiger Klumpen. Mein Herz trommelte heftig. Ich war überzeugt, keinen Pieps von mir geben zu können, und fragte mich, wie Domenico sich fühlte unter all diesen Blicken.
Zu meiner Erleichterung lächelte die Richterin mir zu, als ich Platz nahm. Ihre freundliche Begrüßung nahm mir wenigstens gleich einen Teil der Aufregung weg. Ganz zu Anfang stellte sie mir ein paar Fragen. Wo ich zur Schule ging, wo ich wohnte und in welchem Verhältnis ich zu Domenico stand. Bevor sie mir ihre Fragen stellte, wies sie mich auf meine Wahrheitspflicht hin und dass ich mich im Fall einer Falschaussage strafbar machen würde.
Dann kamen eine Menge weiterer Fragen. Wie lange ich Domenico schon kannte. Wie ich das Ereignis mit Delia aus meiner Sicht schildern würde. Warum es meiner Meinung nach zu dieser Tat gekommen sei. Ob ich glaubte, dass er an diesem Tag irgendwelche Drogen genommen hätte. Wie er sich sonst an diesem Tag verhalten hätte. Ob er mir je was geklaut hätte. Was ich über die Verhältnisse bei ihm zuhause wüsste. Ob ich denn auch Bescheid gewusst hätte, dass er in die Wohnung bei Herrn Biedermann eingebrochen sei und die zweitausend Euro geklaut hätte. Ob ich bestätigen könne, dass er oft Geld für seinen Zwillingsbruder gestohlen hätte. Und so weiter. Das waren mehr Fragen, als ich mir Antworten zurechtgelegt hatte, und sie waren nicht leicht zu verarbeiten.
Es war heftig, der Richterin zu bestätigen, dass Domenico die zweitausend Euro tatsächlich geklaut hatte. Dass er ab und zu Pillen geschluckt hatte, wobei ich aber nachdrücklich betonte, dass er nie harte Drogen genommen hatte. Meine Handflächen waren schweißnass, als ich Mingos Drogenprobleme schildern musste und die Verhältnisse, unter denen die Brüder gelebt hatten. Es schnürte mir fast die Luft ab, weil ich vor all diesen fremden Leuten Domenicos Geheimnisse preisgeben musste, die er so sorgsam hinter seinem Vorhang gehütet hatte.
Ab und zu wandte sich die Richterin dann zu Domenico und fragte ihn, ob er meine Aussagen bestätigen könne. Er nickte jedes Mal nur. Ich sah ihm an, wie sehr er es hasste, vor allen Leuten so auseinandergenommen zu werden. Als der Suizidversuch zur Sprache kam, brachte ich fast keinen Ton mehr raus. Und für einen kurzen Augenblick begegnete ich Domenicos Augen, sah den finsteren Abgrund darin, die starre, bittere Trauer und ein stummes Flehen, nicht mehr als nötig darüber zu erwähnen.
Dann, als ich endlich Gelegenheit hatte, all die guten Dinge in seinem Leben zu erwähnen, seine Freundschaft, sein aufrichtiges Bemühen, das Leben in den Griff zu kriegen, und seine liebevolle Fürsorge Mingo und Bianca gegenüber, wurde mir wieder leichter ums Herz.
Die Richterin bedankte sich, und ich durfte mich wieder zu meinen Eltern setzen. Dann musste mein Vater berichten.
Paps hatte eine wunderbare Rede vorbereitet. Er schilderte unseren Besuch auf Sizilien, die rauen Umstände, unter denen die Brüder und ihre Schwester ihr Leben zu meistern versucht hätten, und ganz besonders betonte er, wie vorbildlich und höflich sich Domenico in den letzten Wochen verhalten hatte.
Dann redete wieder der Psychiater und teilte der Richterin noch ein paar Dinge mit, aus denen eine kleinere Diskussion entstand, die ich kaum mitbekam, weil ich schon wieder so nervös war. Zum Schluss stand der Herr mit dem schwarzen Anzug auf und hielt eine längere Rede, die mir überhaupt nicht gefiel. Er verwies darauf, dass der Angeklagte bereits vorbestraft und trotz mehrmaliger Verwarnungen erneut straffällig geworden sei. Und dass deshalb trotz schwerer Umstände diesmal ein härteres Urteil angebracht sei. Ich ballte empört die Fäuste, doch Paps erklärte mir, dass das der Staatsanwalt war und er den gesetzlichen Antrag zur Verurteilung stellen musste.
Danach stand Domenicos Verteidiger, der Jugendanwalt, auf und hielt eine Rede, mit der ich mich schon eher anfreunden konnte. Er erwähnte Domenicos Besserungsabsichten, sein vorbildliches Verhalten in den letzten Wochen und den tragischen Todesfall seines Zwillingsbruders, der ja schließlich zu dem tätlichen Übergriff gegen den Polizeibeamten geführt habe, und plädierte daher auf ein mildes Urteil.
Danach wurde zur Beratung eine kurze Pause einberufen. Wir gingen hinaus in den Flur, um ein wenig Luft zu schnappen. Suleika saß immer noch auf der Fensterbank. Sie warf mir einen fragenden Blick zu, doch ich zuckte nur mit den Schultern.
Maria di Loreno verschwand mit hastigen Schritten in der Toilette. Domenico blieb drinnen im Saal. Frau Schütze und sein Jugendanwalt unterhielten sich mit ihm. Auch Frau Galiani blieb dort. Delia stritt sich im Flur mit ihrer Mutter.
Dann wurden wir zurück in den Saal gerufen. Domenico musste sich erheben, während die Richterin das Urteil verlas, das zuerst eine lange Auflistung aller genannten Anklagen – schwere Körperverletzung, Diebstahl bis hin zu Drogendelikten – und zudem einen Haufen Fremdwörter beinhaltete. Aufgrund Domenicos positiver «Sozialprognose», wie die Richterin das nannte, und in Anbetracht der schweren Umstände, die zu den Straftaten geführt hätten, habe man sich jedoch zu einem milden Urteil entschlossen.
Domenico wurde zu acht Monaten Freiheitsstrafe, ausgesetzt auf zwei Jahre Bewährung, verurteilt. Weiter wurde er dazu verurteilt, sich einem Bewährungshelfer zu unterstellen und sich einer Therapie gegen sein jähzorniges Verhalten zu unterziehen.
Damit war die Verhandlung geschlossen. Ich fragte Paps, was das nun genau bedeutete. Mein Vater erklärte es mir: «Er muss die Freiheitsstrafe nur antreten, wenn er sich in den nächsten zwei Jahren wieder was zuschulden kommen lässt. Fällt er in den kommenden beiden Jahren polizeilich nicht mehr auf, verfällt die Strafe.»
«Heißt das, er muss nicht in den Knast?»
«So ist es! Er muss aber die Bewährungsauflagen erfüllen und sich regelmäßig bei seinem Bewährungshelfer melden.»
Ich unterdrückte einen Jubelschrei. Ich bahnte mir einen Weg zur Tür und suchte Domenico. Er war bereits draußen im Flur und stand bei Suleika am Fenster.
«Nicki!» Ich fiel ihm einfach um den Hals und drückte ihn glücklich an mich. «Du musst nicht in den Knast!»
Er lächelte erschöpft und machte sich von mir los, um sich eine Zigarette anzuzünden. Suleika warf mir einen intensiven Blick zu, dann kletterte sie vom Fensterbrett und hängte sich bei Domenico ein. Die beiden gingen miteinander ein paar Schritte von mir weg und stellten sich in eine Nische, wo ein Aschenbecher stand.
Ich blieb beim Fenster und behielt die beiden im Visier. Domenico lehnte sich an die Wand, blies Rauchkringel in die Luft und hörte Suleika zu, die sehr energisch auf ihn einsprach und sich dabei immer wieder die Haare aus dem Gesicht schüttelte. Täuschte ich mich, oder sprach sie tatsächlich Italienisch? Ich konnte es aus der Entfernung nicht genau hören. Ach ja, warum gehörte ich nur immer zu denen, die aus der Ferne zuschauen durften?
Langsam drehte ich mich um und schlenderte ein paar Schritte in die andere Richtung. Aber so war es eben. Ich musste mich von ihm lösen. Endgültig. Wir waren nun mal in zwei verschiedenen Welten zuhause.
Frau Galiani trat auf mich zu. «Wo ist Domenico? Seine Mutter hat etwas für ihn.»
Mein Blick fiel auf Maria di Loreno, die einen großen braunen Umschlag in den Händen hielt. Ich zeigte auf das Ende des Flurs. Frau Galiani ging kurzerhand zu Domenico hin, redete leise auf ihn ein und führte ihn dann zurück zu uns. Suleika blieb wie selbstverständlich im Hintergrund und kletterte wieder aufs Fensterbrett. Ihre gewandte, zurückhaltende Art faszinierte mich irgendwie. Sie musste sehr klug sein. Und sie schien zu wissen, was sie wollte. Im Gegensatz zu mir.
«Sieh mal, deine Mutter möchte dir etwas geben!», sagte die Lehrerin zu Domenico. Maria machte einen zögernden Schritt auf ihn zu und blickte scheu zu ihrem fast erwachsenen Sohn hoch.
«Zeigen Sie ihm den Umschlag, Maria», sagte Frau Galiani.
Maria streckte ihm zaghaft den braunen Umschlag hin. Domenico nahm ihn wortlos an sich und wandte sich ab, ohne seine Mutter noch eines weiteren Blickes zu würdigen.
«Ist schon gut, Maria», flüsterte Frau Galiani. «Gehen Sie ruhig zum Auto. Ich komme gleich nach.»
Maria nickte gehetzt. Dann stakste sie mit ihren Stöckelschuhen davon und hinterließ nichts weiter als eine verrauchte Parfumwolke.
Domenico stand da und starrte unschlüssig auf den Umschlag in seiner Hand, die glimmende Zigarette noch zwischen seinen Fingern.
«Willst du ihn nicht aufmachen?», fragte Frau Galiani.
Er klemmte die Zigarette zwischen die Lippen und öffnete vorsichtig die Lasche. Zum Vorschein kamen ein paar Fotos. Ich schaute ihm über die Schulter, als er die Bilder aus dem Umschlag zog. Ich stellte mich so dicht neben ihn, dass mir der Rauch seiner Zigarette in die Nase drang.
Doch ich hatte nur Augen für das eine Foto.
Es war ein wenig verschwommen und hatte einen starken Rotstich, doch es war immer noch scharf genug, um zu erkennen, was darauf war. Es zeigte eine alte Nonne mit zwei kleinen rothaarigen Jungs, die sich wie ein Ei dem anderen glichen. Zwillingsbrüder. Im Hintergrund sah ich einen blauen Himmel und gelbe sizilianische Häuser. Monreale.
Domenico nahm die Zigarette aus dem Mund, doch seine Hand bebte so stark, dass er die Kippe nicht mehr halten konnte. Sie purzelte auf den Boden. Ich packte ihn am Arm und zog ihn zu der Bank, damit er sich setzen konnte. Sein Blick blieb auf dem Bild kleben.
«Siehst du nun, dass es kein Traum war, Nicki?»
Er brachte keinen Ton heraus. Ich glaubte fast zu hören, wie in diesem einen Moment ganze Mauern in seiner Seele fielen, als endlich, nach all den Jahren, Licht und Klarheit in seine Vergangenheit kam. Ich saß ganz dicht bei ihm, und unsere Schultern berührten sich. Die Nonne sah ganz anders aus als auf der Zeichnung, die er damals in Monreale aus seinem Gedächtnis angefertigt hatte. Ganz anders. Viel älter. Sie war eine alte Frau. Klein und mit runzeligem Gesicht. Und sie hatte auch überhaupt keine Ähnlichkeit mit meiner Mutter. Doch ihre Augen blickten gütig und beschützend auf die beiden kleinen Jungs, die sie an der Hand hielt. Domenico Manuel und Michele Domingo.
Aber da waren noch mehr Bilder. Bilder aus längst vergangenen Tagen. Von Sizilien. Die Zwillingsbrüder auf einem Fischerboot, beide in blauen Badehosen, grinsend auf dem Bootsrand balancierend und sich fest aneinander klammernd.
Dann ein weiteres Bild von einem Fest. Ein Bild voller Fröhlichkeit. Im Hintergrund bunte Lämpchen und eine Menge Leute. Und im Mittelpunkt Nicki und Mingo mit roten Pappnasen und Grimassen schneidend.
Auf dem nächsten Bild waren die Zwillinge älter, neun Jahre alt vielleicht, und der eine von ihnen trug ein Baby auf dem Arm. Das musste Bianca sein. Die Blicke der Jungs hatten sich verändert. Das Lachen war aus ihren Gesichtern gewichen, ihre Haare waren dunkler und länger geworden, das Kinn spitzer und dünner. Das Fenster im Hintergrund zeigte graues Wetter. Das musste in Deutschland gewesen sein.
Auf dem nächsten Foto standen viele, viele Jugendliche um eine riesige Torte, und in der Mitte erkannte ich Suleika, wie eine strahlend schöne Prinzessin. Die Zwillinge standen links und rechts von ihr, und hier konnte ich sie zum ersten Mal auseinanderhalten. Während Domenico sich cool an Suleikas Schulter lehnte und sein Haar über sein linkes Auge fallen ließ, trug Mingo einen Punkhaarschnitt mit abrasierten Seiten, Sicherheitsnadeln im Ohr und Metallkrallen um den Hals. Seine Augen starrten wie spitze Stecknadeln in die Kamera.
Auf einmal nahm ich Frau Galiani neben uns wahr.
«Wir haben diese Bilder gefunden. Deine Mutter hat sie für dich aufbewahrt. Wir dachten, dass du sie vielleicht haben möchtest», sagte sie behutsam.
Ich hatte ganz vergessen, dass wir uns immer noch im Gerichtsgebäude befanden. Stille war um uns herum. Frau Galiani war wieder verschwunden.
Dann spürte ich etwas Feuchtes auf meiner Hand.
Und noch etwas.
Es waren Tränen. Nickis Tränen, die wie Frühlingsregen auf meine Hand tropften. Regen, der den dicken Winterschnee wegwischte, die eisige Kälte, die sein Leben eingefroren hatte. Seine Hand verlor jegliche Kontrolle. Die Fotos flatterten zu Boden. Ich bückte mich und hob sie auf.
Dann ein Blick in Nickis Gesicht. Seine Augen, die von den Sonnenstrahlen geblendet wurden, die gerade durch das Fenster in sein Gesicht schienen. Tränen, die aus seinen Augenwinkeln liefen und beide Wangen benetzten. Ein erwachender Glanz in seinen Augen. Und die Narben, die in diesem hellen Licht nun deutlich zu sehen waren.
Die Narben … und die Vergangenheit … und die Zukunft.
Mama setzte sich leise neben ihn und schlang ihre Arme um ihn. Ein tiefer Schluchzer kam aus seiner Seele, während er seinen Kopf an Mamas Brust legte. Sie drückte Nicki fest an sich wie einen verlorenen Sohn, und er weinte und weinte. Er weinte, wie er wahrscheinlich noch nie in seinem ganzen Leben geweint hatte. Er weinte die Tränen, die er siebzehn Jahre lang runtergeschluckt hatte, die ihn gefoltert und mit diesen Alpträumen gemartert hatten.
Mamas Bluse war ganz nass, aber es störte sie nicht.
«Nicki», sagte sie leise, «deine Mutter konnte sich nie richtig um dich kümmern. Du hast sie eigentlich nie als Mutter bei dir gehabt. Sie war nicht imstande, dir Mutter zu sein. Ja, im Grunde hast du sie schon bei der Geburt als Mutter verloren. Und ich, ich habe sehr früh meinen Sohn verloren! Weißt du was? Ich werde ab jetzt deine Ersatzmutter sein. Oder sagen wir lieber: deine Aushilfsmutter – aber das von ganzem Herzen!»
Ich werde diese Worte nie vergessen. Und ich werde auch den Augenblick nie vergessen, als ich zusehen konnte, wie dieses letzte fehlende Puzzleteil eingefügt wurde. Das letzte Puzzleteil – sowohl im Leben meiner Mutter wie auch in dem von Domenico. Und wie wir endlich das ganze Bild sehen durften.
Gott hat dieses fehlende Puzzleteil gekannt.
Es war dieses Wunder, nach dem ich die ganze Zeit gesucht hatte, um das ich auch die ganze Zeit gebetet hatte, und es führte dazu, dass etwas in Nickis Seele zu heilen begann.
Paps hatte sich schweigend zu uns gesetzt. Auch er hatte keine Fragen mehr. Ich bettete meinen Kopf auf Papas Schoß, und er legte fest den Arm um mich, als ich still Gott dafür dankte, dass Domenico endlich das bekommen hatte, wonach er sich so sehr gesehnt hatte: einen Lichtstrahl auf die Vergangenheit. Und eine Mutter.
Seine letzte, inzwischen verglühte Zigarette lag immer noch am Boden. Ich hob sie auf und trug sie zum Aschenbecher.
Als wir später das Gerichtsgebäude verließen, sah ich Suleika auf mich zukommen. Ich hatte sie beinahe vergessen, doch sie hatte die ganze Zeit auf der Fensterbank gewartet. Meine Eltern und Domenico waren schon draußen. Suleika rannte mir nach und packte mich am Arm.
«Warte!»
Ich drehte mich zu ihr um. Ihr schönes, sonst so freundliches Gesicht war ernst und zornig.
«Sag mal, wann bist du endlich ehrlich zu ihm?», schimpfte sie auf mich ein. Ich starrte sie verständnislos an. Wovon redete sie?
Sie stemmte forsch ihre Hände in die Hüfte.
«Hör mal, du kannst mir doch nichts vormachen. Ich weiß ganz genau, dass du in ihn verliebt bist! Warum gehst du denn nicht mit ihm? Ich glaube, er würde sich das echt wünschen!»
Ich war komplett überrumpelt von dieser Frage und schüttelte fassungslos den Kopf.
«Suleika, das … das geht nicht einfach so. Meine Eltern würden das nie erlauben!»
«Hast du denn schon mal mit ihnen geredet?»
«Nicht so direkt, aber … es … das ist gar kein Thema mehr!»
«So? Bist du sicher? Oder anders ausgedrückt: Wenn du frei entscheiden könntest, was du willst: Was würdest du tun?»
«Ich …» Ich konnte diese Frage nicht beantworten. Oder besser gesagt: Ich wagte nicht, sie zu beantworten. Aber Suleika wartete auf eine Antwort. Ihre klugen Augen durchschauten mich.
«Suleika, ich glaub nicht, dass das gutgehen würde mit Nicki und mir.»
«Woher willst du das wissen?» Sie warf ihren Kopf in den Nacken und sah mich herausfordernd an.
«Ich weiß nicht … ich glaube … er war ja nie lange mit demselben Mädchen zusammen.»
«Dinge können sich ändern!» Sie trat einen Schritt näher an mich heran. «Hey! Hör zu, Maya, er liebt dich! Er kann es dir nur nicht sagen. Weißt du, was er die letzten Wochen durchgemacht hat? Es war echt schwer für ihn, dir nicht nahe zu kommen. Ich habe die Bilder gefunden, die er von dir gemalt hat. Ich kann nur sagen: Wow! Maya, solche Bilder hat er noch nie von einem Mädchen gemacht!»
Ich bebte. Mein ganzer Körper war in Schweiß gebadet. Der Flur nahm unscharfe Konturen an. An dessen Stelle trat ein längst vergrabener Ort.
Die Laterne …
«Hey … warum gibst du ihm nicht wenigstens eine Chance?» Suleikas Stimme war immer noch da und holte mich wieder in die Wirklichkeit zurück. Ich stieß die Luft aus. Ich blinzelte, um wieder scharf sehen zu können.
«Aber was ist mit dir?», fragte ich leise. «Du bist doch jetzt mit ihm zusammen?»
«Um mich mach dir mal keine Sorgen!», sagte sie. «Das ist kein Thema. Sieh mal, ich hab keinen Bock, in seinem Leben die zweite Geige zu spielen. Dazu bin ich mir zu schade. Und ich mag Nicki und würde mich freuen, wenn er mit dir glücklich werden würde.»
Ich zögerte und starrte meine Schuhe an.
«Schau, es liegt an dir! Du hast die Macht, darüber zu entscheiden. Er hat sie nicht. Er weiß, woher er kommt und woher du kommst! Er weiß, dass euch Welten trennen. Er kann es sich nur wünschen, dass er die Chance bekommt, mit so einem Mädchen wie dir zusammen zu sein. Du liebst ihn doch auch, oder?»
Ich biss mir auf die Lippen. Mir war so heiß.
«Hör zu: Wenn du ihn wirklich liebst, dann wirst du einen Weg finden», sagte sie mit fester Stimme. «Liebe überwindet alles! Davon bin ich fest überzeugt.»
Ich nickte vorsichtig. Sie kniff mir in den Arm.
«Entscheide dich! Und jetzt geh. Geh!»
Ich rannte los. Als ich im Freien stand und mich umdrehte, sah ich Suleikas Gesicht am Fenster im Erdgeschoss. Sie winkte mir zu und machte das Siegeszeichen. Und ich lief zum Auto, wo meine Eltern mit Domenico einstiegen.
«Wo warst du so lange, Maya?», rief Paps.
Domenico wandte sich zu mir um und sah mich an. Und als ich in seine Augen schaute, wusste ich, dass Suleika Recht hatte. Und als ich das begriff, taumelte ich beinahe.
Ich liebte Nicki. Ich liebte ihn so sehr, dass ich fast verrückt wurde vor Schmerz.
Es war mir in diesem Augenblick egal, wie viele Probleme er hatte.
Es war mir egal, ob er rauchte.
Es war mir auch völlig egal, ob er einen Schulabschluss hatte oder nicht.
Es war mir egal. Ich konnte nichts dagegen tun.
Ich liebte ihn. Ich liebte diesen verrückten Typen!
Und ich wusste, dass ich niemals eine logische Erklärung dafür finden würde, weil es einfach keine gab.