22. Für immer?

Die letzten Schneefetzen leuchteten im Licht der Straßenlampen, als wir vor dem Parkeingang standen. In zwei, drei Tagen würde der Schnee ganz weg sein. Es wurde langsam Zeit. Domenico hatte seine Hand mit meiner zusammen in seine Jackentasche gesteckt. Mama hatte ihm ein paar warme Lederhandschuhe gekauft.

Ich war noch nie nachts auf einem Friedhof gewesen. Es hatte tatsächlich etwas Eigenartiges an sich. Ich war froh um die Taschenlampe und darüber, dass ich nicht an Gespenster glaubte. Und dass Domenico bei mir war.

Hier oben auf dem Hügel lag natürlich noch viel mehr Schnee. Unsere Stiefel versanken richtig darin, als wir über die Wiese zum Friedhof stapften. Die Gräber waren fast alle mit einer unberührten Schneedecke überzogen. Domenico verlangsamte seine Schritte und blieb dann stehen. Er atmete schwer, presste für einen Moment die Hand auf seine Brust und schloss die Augen.

«Hast du Schmerzen?», fragte ich besorgt. Seine Lunge machte ihm immer noch zu schaffen. Paps meinte, dass diese Regeneration sehr viel Zeit brauchte.

«Ein bisschen. Geht schon.»

«Möchtest du lieber wieder umkehren?»

Er schüttelte den Kopf. «Nee, es ist nur … also, falls ich am Grab losflenne … kannst du mich dann ein bisschen im Arm halten und so? Also, nur wenn du willst …?»

«Aber klar!», sagte ich und drückte seine Hand.

Es waren nur noch wenige Schritte bis zu Mingos Grab. Bei jedem Schritt musste er sich zwingen, weiterzugehen.

«Da!», flüsterte ich und wollte den Lichtkegel der Taschenlampe auf das Holzkreuz richten. Stattdessen leuchtete ich mitten auf ein kreidebleiches, entsetztes Gesicht. Ein gellender Schrei zerriss die Luft, und etwas Schwarzes huschte hinter eine Tanne. Ein Hund jaulte. Vor Schreck zuckten meine Finger zusammen und verloren die Taschenlampe. Domenico fing sie gerade noch rechtzeitig auf, bevor sie im Schnee versank.

«Wer war das?» Er ließ den Lichtkegel der Lampe zur Tanne schweifen.

«Da war jemand bei Mingos Grab!», flüsterte ich total aufgeregt.

«Hallo? Ist da wer?», rief Domenico durch die Stille. Nichts rührte sich. Nur Tannenzweige raschelten leise im Wind.

«Komm heraus! Wir tun dir nichts!» Domenico richtete den Lichtkegel präzise auf einen bestimmten Punkt. Sah er etwas, das ich nicht sah? Und da tauchten auf einmal zwei schüchterne Augen hinter der Tanne auf. Und das blasse Gesicht von vorhin. Silberne Piercings und Totenkopf-Ohrringe funkelten im Lichtstrahl.

Ich schrie panisch auf – gab es etwa doch Gespenster?

«Carrie? Bist du nicht Carrie?» Domenico stapfte zaghaft durch den Schnee auf sie zu. Ich beruhigte mich langsam wieder.

Es war tatsächlich Carrie. Sie kauerte kläglich am Boden, eingehüllt in ihren dunklen Mantel, die schwarzen Augen zu Boden gerichtet. Ihr kleiner weißer Hund kauerte winselnd neben ihr in einer Schneemulde.

«Ich geh gleich wieder …», murmelte sie, «'tschuldige für die Störung!»

«Sag mal, was machst du hier?», fragte Domenico verblüfft.

«Werd ja wohl noch den Vater meines Kindes besuchen dürfen!» Sie hob den Arm und bedeckte ihr Gesicht. Ihre Punkfrisur zeichnete eine gezackte Silhouette. Domenico ließ den Lichtstrahl sinken und die Lampe in den Schnee fallen.

«Vater?» Er hatte dieses Wort noch nie so bewegt ausgesprochen.

Carrie schob schüchtern ihre Hand unter den Mantel. «Bin im vierten Monat schwanger …», murmelte sie leise.

Domenico und auch ich fanden für einen Moment keine Worte mehr. Domenico musste erst ein paar Mal Luft holen, ehe er wieder einen Ton herausbrachte.

«Du … du willst mir nicht etwa sagen, dass … dass du von Mingo schwanger bist?» Er trat langsam auf sie zu und kniete sich vor ihr in den Schnee. Sie nickte weinerlich.

«Es tut mir leid … wir waren … er war bei mir und … und ich … ich hab ihm gesagt, er soll nich immer so schüchtern sein, und da isses halt passiert …» Ihr Gestammel war von heftigen Schluchzern begleitet, und sie schaute mit ihren blassen Mondaugen zu Domenico hoch, als fürchte sie, dass er sie gleich ordentlich ausschimpfen würde. Doch das tat er nicht. Er verharrte reglos in seiner Stellung, als wäre er zu einer Statue gefroren. Die Stille um uns herum wurde nur durch das leise Tannenrauschen und Carries schniefende Laute unterbrochen.

«Mann, das fass ich einfach nicht!», brachte er nach einer Weile heraus, nachdem er Carries Worte verdaut hatte.

«Es tut mir ja leid, Mensch … i-ich wollte es nich abtreiben», schniefte sie. «Es ist alles, was ich von ihm habe!»

«Du sollst es auch nicht abtreiben! Carrie!» Domenico reichte ihr die Hand und half ihr vorsichtig beim Aufstehen.

«Ich weiß, dass es bescheuert war!», klagte sie. «Hab ja nich mal 'nen Job. Die werden mir das Kind eh wegnehmen, das weiß ich!»

«Carrie, niemand will dir was wegnehmen!», sagte Domenico. «Es liegt ganz allein an dir. Und ich helf dir ja. Ich helfe dir mit dem Kind, das versprech ich dir! Aber du musst mir auch versprechen, dass du keine Drogen mehr nimmst und aufhörst zu rauchen, okay? Mingos Kind darf nicht drogensüchtig zur Welt kommen!»

Carrie senkte ihren Blick und legte ihre Hand um die schwere Totenkopfkette, die sie um den Hals trug.

«Wenn ich das kann …»

«Du kannst!», sagte Domenico mit fester Stimme.

Sie nickte schniefend.

«Hab ihm immer Blumen gebracht!», meinte sie schließlich mit einem zaghaften Nicken auf das Grab. «Er war doch mein Schatz, weißt du! Hätte ihn so gern noch besser gekannt …»

«Ja, ich weiß. Aber Carrie, versprich mir, dass du auf dich und das Kind achtgibst, ja? Ich werde dich ganz sicher nicht im Stich lassen!»

Als sie etwas später mit ihrem kleinen Hund durch die Dunkelheit davonstolperte und unseren Blicken entschwand, wusste ich, dass ich Domenico für den nächsten Moment nicht ansprechen durfte. Er bückte sich und hob die Taschenlampe wieder auf. Dann richtete er den Lichtstrahl auf das Holzkreuz. Ich trat vorsorglich neben ihn.

Michele Domingo Di Loreno
Friede sei mit ihm

Schweigen umhüllte uns, die eisige Luft ließ uns frösteln. Die Taschenlampe fiel erneut in den Schnee. Und Nicki sank in die Knie.

Ich kauerte mich neben ihm hin und streichelte sein Haar, während er sein Gesicht in seinen Händen vergrub. Dann fasste ich in seine Jackentasche und zog sein Feuerzeug raus. Ich steckte die beiden Kerzen in die Erde, links und rechts vom Holzkreuz, und zündete sie an. Eine für Nicki und eine für Mingo. Zwillingskerzen.

Und ich blickte zum Himmel hoch und sah die Sterne an, die auf uns herablächelten. Und ich dachte auf einmal daran, dass Gott sie alle gezählt hatte und sie alle mit Namen kannte. Und daran, dass Gott größer war als der Tod.

Dann erinnerte ich mich daran, dass Nicki mich gebeten hatte, ihn im Arm zu halten. Und so setzte ich mich in den kalten, nassen Schnee, ohne mich darum zu scheren, dass mein Hinterteil klatschnass wurde. Ich zog Nickis Kopf auf meinen Schoß. Ich hielt ihn fest und versuchte ihn ein bisschen in meinen Armen zu wiegen, so wie Mama es getan hatte, während ihm Tränen übers Gesicht liefen.

«Ich kann einfach nicht glauben, dass er nun da unter der kalten Erde liegt!», heulte er. «Mein Zwillingsbruder … es tut so weh, Maya. Oh Gott, es tut so wahnsinnig weh!»

Ach, Nicki. Es würde wohl noch ewig dauern, bis sein Schmerz verheilen würde. Und ich konnte nichts tun, als ihm beizustehen, ihn in meinen Armen zu halten, ihn zu trösten und mit ihm zu weinen. Ja, er brauchte mich … er brauchte mich mehr, als ich dachte …

«Soll ich ein Gebet sprechen?», fragte ich leise.

Ich registrierte eine leichte Bewegung seines Kopfes, die sich wie ein Nicken anfühlte. Ich wusste erst nicht recht, wie ich beginnen sollte. Dann sah ich wieder zu den Sternen hoch.

«Gott, Jesus, ich danke dir, dass wir Mingo kennen durften. Auch du hast ihn gekannt und geliebt, trotz seines Elends, davon bin ich fest überzeugt. Ich hoffe, er hat wenigstens ein bisschen was von deiner unendlich großen Liebe gespürt. Ich habe versucht, sie ihm zu zeigen. Und du hast auch gesehen, dass er irgendwie immer wieder nach dir gefragt hat. Ich hoffe so sehr, dass er jetzt bei dir im Himmel ist und du ihm alle Tränen abwischst und ihn mit Barmherzigkeit zudeckst. Mingo war ein guter Freund. Und wir werden ihn auf alle Fälle für immer in unserem Herzen behalten. Amen.»

Als ich fertig war, hob Domenico seinen Kopf und wischte sich mit dem Ärmel über die Augen. Dann drückte er mir vorsichtig einen zarten Kuss auf die Wange.

«Als wir ungefähr neun waren, da hatten wir ein Kaninchen. Mingo hat es immer beschützt. Und wenn es Angst hatte, weil der Alte so gebrüllt hatte, hat er es in den Arm genommen und an sich gedrückt. Ach, das ist lange her …»

Er zuckte mit den Schultern und folgte meinem Blick zu den Sternen. Er fragte leise: «Sag mal, glaubst du, dass es 'nen Himmel gibt, Maya?»

«Ja», sagte ich, «ja, das glaube ich fest!»

«Und glaubst du, dass Mingo … dass er … 'ne Chance hatte, dorthin zu kommen?»

«Kennst du die Geschichte aus der Bibel von den zwei Verbrechern, die zusammen mit Jesus gekreuzigt wurden? Als der eine kurz vor seinem Tod fast mit den letzten Atemzügen Gott um Vergebung bat, bekam er auch eine Chance!», sagte ich, anstatt die Frage direkt zu beantworten.

«Stimmt!», sagte Domenico leise. «Ich kann mich dran erinnern.» Auf meinen verwunderten Blick fuhr er fort: «Die Nonne … sie hat uns viel erzählt. Als ich ihr Bild gesehen hab, sind die Erinnerungen wiedergekommen! Ros…» Er stockte. «Rosalia Lucia. So hieß sie!»

Ich sah ihn staunend an.

«Ich konnte mich nicht mehr an ihren Namen erinnern, bis ich ihr Foto gesehen hab!»

«Oh Nicki … das ist doch wunderbar. Jetzt kannst du sie vielleicht finden!»

Er schüttelte den Kopf. «Nein. Sie ist tot.»

«Bist du sicher?»

Er nickte zögernd.

«Warum glaubst du, dass sie tot ist?»

«Weil … sie starb, bevor …» Seine Stimme kam stockend, und seine Brust bebte, «… bevor wir aus Sizilien weggingen.»

«Uuh, Nicki!», seufzte ich, als ich das unglaubliche Ausmaß dieser Erkenntnis zu begreifen begann. «Und das hast du nicht mehr gewusst?»

Er schüttelte den Kopf und schluchzte auf. «Ich hab es verdrängt … ich hab es einfach verdrängt. Ich wollte glauben, dass ich sie auf Sizilien finden würde, weißt du. Und als ich dann das Foto sah, da … da … kamen die Erinnerungen wieder.»

Ich schwieg und legte meinen Arm auf seine Brust.

«Ich bin verrückt, Maya …», weinte er. «Ich bin total verrückt!»

«Nein …» Ich schüttelte den Kopf. «Ist doch völlig verständlich, Nicki! Jeder von uns verdrängt ein paar Sachen, die ihm zu schwer sind.»

Er schniefte. «Sie haben uns weggebracht … ich sah, wie sie starb, wie sie in Schmerzen lag und starb, und Mingo stand neben mir, und er heulte, und es war das letzte Mal, dass ich ihn heulen sah. Er hat danach alles vergessen und nie wieder geheult. Einfach gar nie. Keine einzige Träne mehr …»

«Nicki … er hat geweint! Am letzten Abend, als er bei mir im Zimmer war, hat er geweint.»

«Er hat wirklich geweint? Ist das wahr? Mein Bruder hat geweint?»

«Ja!»

Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, als ich das sagte.

«Aber erzähl doch weiter, Nicki. Was geschah dann?»

«Dann hat man uns weggebracht, und dann hat unsere … unsere …» Er holte tief Luft.

«Eure Mutter?», half ich.

«Ja. Sie hat uns mit nach Deutschland genommen. Und dann … ich hab versucht, das Bild zu vergessen, weißt du, das Bild, als … Mama Rosalia starb, und dann kamen diese Alpträume … jahrelang … nur einmal war ich sie für 'ne Zeit los, aber dann kamen sie zurück.» Nervöse Zuckungen huschten über sein Gesicht, als er die Augen schloss.

Ich nahm seine Hand und drückte sie.

«Sag mal, dein Name … Domenico … was bedeutet er?»

«Weiß ich nicht. Hab ich mir noch nie überlegt …»

«Ich denke bloß, wenn euch eine Nonne solche Namen gibt, dann muss es schon was bedeuten, oder?»

«Hmm …» Er ließ den Blick zu den Kerzen schweifen. Der Wind hatte eine davon ausgeblasen.

«Vielleicht hat ihr der Name so viel bedeutet, dass sie ihn nicht nur dir, sondern auch Mingo gegeben hat. Du hast mir mal gesagt, dass Domenico der gleiche Name sei wie Domingo. Vielleicht erklärt das, warum ihr italienische und spanische Namen habt. Ich meine, das ist jetzt nur so ein Gedanke …»

«Nein, das könnte echt sein! Der Name hat ihr was bedeutet. Ich hab da so ein Gefühl.» Er schloss die Augen. «Ich weiß nicht, aber ich glaub, ich bin echt gut darin, Dinge zu fühlen und so. Ich hab auch immer genau gefühlt, wenn es Mingo mies ging. Wenn er Angst hatte. Oder Schmerzen. Umgekehrt war es genauso. Wir wussten immer, was der andere dachte. Krass, was?»

«Na ja, ihr wart schließlich Zwillinge. Aber wenn das so ist: Was denkst du, wie er sich vielleicht jetzt fühlt, wo immer er auch sein mag?», fragte ich vorsichtig. Er schloss die Augen und horchte tief in sich hinein.

«Na ja, es hört sich jetzt verrückt an, ich weiß. Aber ich fühle … ich stelle ihn mir vor … wie er dasteht und grinst … und wie er mir zuwinkt … und wie seine Zähne wieder ganz sind und wie er keine Einstichwunden mehr hat und keine Totenköpfe mehr trägt und keine Drogen mehr nimmt … und wie er mich ansieht … und mir sagt, dass wir uns eines Tages wiedersehen werden … findest du das kitschig?»

«Nein.» Ich schloss ebenfalls die Augen und versuchte mir vorzustellen, was er mir beschrieben hatte.

«Ich muss einfach fest daran glauben!», sagte er und löste den Knoten seiner Lederkette.

«Was machst du da?»

«Ich zieh die Kette aus …»

«Aber sie ist doch ein Andenken an Mingo.»

«Schon. Aber ich möchte keinen Totenkopf mehr um den Hals tragen, weißt du. Ich bin nicht mehr tot. Ich lebe jetzt. Außerdem hab ich seit ein paar Minuten ein noch viel größeres Andenken an Mingo …»

Er stopfte die Kette sorgsam in seine Jackentasche und stand auf. Ich packte seine Hand, und er zog mich aus der Schneemulde, in der ich gesessen hatte.

«Wo liegt eigentlich dein Bruder begraben?», fragte er auf einmal.

«Dort drüben, bei den Kindergräbern.»

«Möchtest du hingehen?» Er reichte mir sanft den Arm.

Ich schüttelte den Kopf. «Ein anderes Mal. Ich glaube, wir sollten langsam wieder zurück …»

Ich wandte mich nochmals zum Grab um und sah, dass auch die zweite Kerze erloschen war. Schnell klaubte ich das Feuerzeug wieder aus Domenicos Tasche, ging zurück und zündete erneut zwei kleine Flämmchen an.

Zwillinge. Sie waren eins, trotz allem. Für immer vereint.

Domenico nahm meine Hand wieder in seine Jackentasche, und wir verließen den Friedhof. Wir redeten nicht darüber, aber es war klar, wohin wir gingen.

«Eins glaube ich jetzt, Maya», sagte er unterwegs. «Ich glaube jetzt, dass du Recht hattest, mit Gott und mit allem und so.»

Ein wenig später standen wir auf dem Platz bei der Villa, und die Laterne leuchtete kristallklar auf uns herab. Sie trug ein kleines weißes Schneehäubchen.

«Und da sind wir wieder!», sagte Domenico leise.

Ja, da waren wir wieder … nach so langer Zeit!

Ich schloss die Augen und horchte tief in mich hinein. Fühlte das Licht der Laterne, das auf uns herabschien wie weiches, flüssiges Gold. Ich war wieder an dem Ort, den ich früher so oft im Traum besucht hatte. Dieser Ort, an dem alle meine Wünsche, Träume und Sehnsüchte wahr geworden waren.

Aber jetzt war ich älter geworden und hatte viel erlebt. Und die süßen, verschwommenen Träume von früher waren mit Ecken und Kanten versehen, waren mit den harten Konturen der Realität versetzt worden. Ich war nicht mehr dieselbe, und auch Nicki war nicht mehr derselbe. Und ich erinnerte mich an die Nacht, als wir zum ersten Mal hier gewesen waren, als der Traum noch so jung und süß gewesen war. Und ganz vage erinnerte ich mich daran, wie wir damals ohne Worte miteinander gesprochen hatten. Ob das zwischen uns immer noch funktionierte?

Hey, Nicki … hier bei der Laterne hat alles angefangen, weißt du noch? Kannst du dich erinnern, was wir uns damals versprochen haben?

Als hätte er gespürt, was ich dachte, strich er vorsichtig mein Haar zur Seite, damit er einen Blick in mein Gesicht werfen konnte.

Klar erinnere ich mich … wie hätte ich das jemals vergessen können?

Ich schloss die Augen, damit ich das Glühen seines Blickes und seinen warmen Atemhauch spüren konnte. Er legte den Arm um mich und führte mich näher zum Lichtkegel der Laterne, der viel wärmer auf uns herabschien als damals.

Und da stand nun diese eine Frage zwischen uns, die uns seit langem verband und die wir beide immer verdrängt hatten. Es kam nur noch darauf an, wer sie zuerst aussprach. Und obwohl wir so viel zusammen durchgemacht hatten, traute sich keiner von uns, diese Worte endlich Wirklichkeit werden zu lassen. Vorsichtig formte ich in Gedanken, was ich ihm so gerne mitteilen wollte:

Ich habe dich immer geliebt, Nicki. Das weiß ich jetzt. Ich brauche mir nichts mehr vorzumachen. Ich möchte es dir so gern sagen, aber ich habe Angst, dass die Worte zersplittern, wenn ich sie ausspreche.

Seine Hand fuhr seidigweich durch mein Haar.

Worte können nicht zersplittern, Maya, nicht, wenn sie aus tiefstem Herzen kommen. Aber es gibt Dinge, die durch sie zersplittert werden können, und ich habe diese Dinge gesehen. Doch ich bin stärker, als du denkst.

Schließlich war er es, der sich zuerst traute. Ich fühlte ein sanftes Kitzeln an meinem Ohr, als er mit seinen Lippen ganz nahe kam.

«Ey, ich liebe dich, Maya», flüsterte er heiser. «Ich liebe dich so sehr! Ich hab noch nie ein Mädchen so geliebt wie dich. Sugnu cottu d'amuri pi' ttia! Du bist für mich die wunderbarste Frau der Welt! Ssi u \6ranni amuri da vita mia.»

Seine Worte flossen wie weiche Butter in mein Herz. Ich holte tief Luft und wusste, dass ich sie dort sorgfältig aufbewahren würde. Für die Zukunft. Für immer. Für die Zeit, wenn sich zwischen unserer Kluft endlich eine Brücke befinden würde.

«Ich liebe dich auch, Nicki!», erwiderte ich aus tiefstem Herzen. «Ich konnte nie aufhören, an dich zu denken, also muss es ja wohl so sein. Du hast meine Welt und alles, was ich bin, total auf den Kopf gestellt.»

«Du meine auch … und ich war immer in dich verliebt, Maya. Auch damals, als du bei mir auf Sizilien warst.»

Die Stille, die darauf folgte, hielt einige Minuten an. Jetzt, wo es endlich ausgesprochen war, zog es schon die nächste Frage mit sich. Und wir beide wussten, dass es an ihm war, diese Frage zu stellen.

«Sag mal, falls ich es schaffe, könntest du dir dann vorstellen, mit mir zusammen zu sein?», fragte er mit einer Stimme, die leiser war als ein Hauch.

Erst jetzt merkte ich, dass ich die Augen noch immer geschlossen hatte. Aber ich wollte sie nicht öffnen. Noch nicht. Ich wollte einen Moment allein sein mit seinen Worten und sie in mir ausklingen lassen. Und ich wollte auch meine Antwort an ihn sorgfältig vorbereiten. Und er drängte mich nicht.

«Ich glaube, es gibt nichts, was ich mir mehr wünschen würde», sagte ich schließlich. «Aber wir müssen noch viel miteinander reden.»

Und da standen wir nun beide und wagten die ersten Schritte auf die Brücke, die unsere beiden Welten verband. Aber wir wussten beide, wie zerbrechlich diese Brücke war. Sie war aus Dornenranken gewoben. Und wir mussten aufpassen, dass wir uns nicht an den Stacheln verletzten.

«Sag mir, was du dir wünschst», meinte er leise, und ich öffnete die Augen wieder, als ich die feine Berührung seiner Finger auf meiner Wange fühlte. Ich blinzelte einen Augenblick, weil das helle Licht der Laterne mich blendete.

«Wir müssen es ganz vorsichtig aufbauen», flüsterte ich und sah ihn an. «Ich möchte nicht, dass es wieder zerbricht.»

«Das möchte ich auch nicht.» Fast schien es, als ob ein kleiner Schatten über seine Augen flitzte. Er holte tief Luft, und ich spürte, dass ihn seine Lunge wieder ein wenig schmerzte. Deshalb sprach ich nun aus, was ich dachte.

«Ich möchte, dass du … na ja, dass du dir Hilfe holst, Nicki. Dass du mit jemandem deine Vergangenheit aufarbeiten kannst. Da sind noch so viele Dinge, die nicht gelöst sind. Wir brauchen Rat und Unterstützung.»

«Klar!», meinte er. «Das weiß ich selber. Dein Vater hat vorhin auch mit mir darüber geredet. Ich weiß auch, dass ich kein einfacher Typ bin. Aber ich werde alles tun, Maya. Ich verspreche es dir! Ich hol die Schule nach. Und ich werde regelmäßig zur Beratung gehen und in diese Therapie, die sie mir verordnet haben, damit ich lerne, mit meinem Zorn umzugehen. Und wenn du willst, mach ich auch 'ne Therapie gegen das Rauchen. Ich will echt davon wegkommen, verstehst du?»

«Ja, das musst du. Das musst du unbedingt!»

Auf einmal erschienen die Grübchen in seinen Wangen.

«Hey, weißt du eigentlich, dass ich seit drei Tagen keine einzige Kippe mehr geraucht hab? Und das zum ersten Mal ganz ohne Nikotinpflaster und ohne Kaugummi.»

Ich schaute ihn freudig und überrascht an. Stimmt, jetzt erinnerte ich mich … sein Geruch …

«Seit dem Gerichtstag, als deine Mutter mich …» Er brach ab, weil das schon wieder so ein Ding war, das zu zerbrechlich wirkte, um es in Worte zu fassen.

«Aber ich bin erst am Anfang … es sind erst drei Tage.» Seine Stimme klang dünn und brüchig.

«Wir helfen dir ja alle!», sagte ich.

Er nickte gedankenversunken. Wir traten ein wenig aus dem Lichtkegel der Laterne. Fast schien es, als würde die Luft dadurch kühler.

«Meinst du, es ist okay, wenn ich dich küsse?», fragte er vorsichtig, und ich fühlte, wie das Blut in meine Wangen schoss.

«Ich denke schon!», sagte ich und versuchte, das aufgeregte Trommeln meines Herzens zu unterdrücken. Behutsam drehte er mich zu sich um und nahm mein Gesicht in seine Hände, so sanft, als wäre es aus Porzellan. Wieder schloss ich die Augen, damit ich jedes Detail seiner Lippen, die mich so oft in meinem Traum zum Glühen gebracht hatten, fühlen konnte. Ganz weich und gleichzeitig rau berührten sie meinen Mund, und seine Fingerspitzen bewegten sich zärtlich über meine Wangen. Ich legte meine Hände um ihn und verknotete sie hinter seinem Rücken, um nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren.

«Magst du das so?», fragte er sanft. «Du musst mir immer sagen, wenn ich etwas nicht machen soll, okay?» Er löste sich ein wenig von mir und blickte mir in die Augen.

«Ja, stimmt. Da wäre noch was …»

«Ja?»

«Ich weiß nicht genau, wie ich dir das sagen soll. Du warst schon mit so vielen Frauen zusammen, aber ich … ich bin noch nie mit einem Jungen … also, ich war noch nie mit einem im Bett, wenn du verstehst, was ich meine!»

«Das ist doch okay. Ich finde das schön!»

«Ja, aber ich möchte auch nicht so weit gehen. Auf alle Fälle nicht in dem jetzigen Stadium unserer Freundschaft.»

«Das versteh ich doch!» Er streichelte zärtlich mit seinem Handrücken über meine glühenden Wangen. «Ich hab kein Problem damit. Ich kann noch jahrelang warten, wenn du das möchtest. Weißt du, das ist mir momentan alles nicht so wichtig. Ey, seit ich diese Narben hab, hab ich eh keine Frau mehr so nah an mich rangelassen. Und so etwas ist eh viel zu schön, um es einfach billig zu vergeuden. Weiß ich doch ganz genau. Und mit dir möchte ich eines Tages etwas ganz Schönes haben!»

Ich nickte erleichtert, berührt über seine Worte. Doch auch der letzte Stachel musste noch gezogen werden.

«Aber ich kann nur deine Freundin sein, wenn du aufhörst, mit anderen Frauen zu flirten. Das würde ich nämlich echt nicht ertragen! Dann wäre ich nicht die Richtige für dich.»

Als Antwort schlang er seine Arme um mich und drückte mich fest an sich. «Hey, du musst keine Angst haben!», versprach er mit bebender Stimme. «Ich will so etwas Wunderschönes wie dich nie mehr zerbrechen!»

Und damit war auch diese wunde Stelle mit Balsam eingeölt worden. Auch wenn ich natürlich spürte, dass mir mein geliebter Prinz in dieser Nacht alles, aber auch wirklich alles versprechen würde! … Und trotzdem: Wie hatte sich Nicki doch verändert in den letzten Monaten! An seiner Ernsthaftigkeit war nicht zu zweifeln …

Ich hatte auf einmal wieder viel mehr Platz in meiner Lunge. Doch als ich tief Luft holte, spürte ich harte Metallkrallen in meinem Rücken.

«Aua!»

«Oh, sorry!», hauchte er erschrocken und lockerte seinen Griff sofort. «Die Dinger sind spitz, was?»

Er zog die Arme hinter meinem Rücken hervor und streckte sie mir entgegen. Ich trat einen Schritt zurück. Die spitzen Metallteile glänzten silbern im Laternenlicht.

«Nimm sie ab!», forderte er.

Ich schüttelte erst fassungslos den Kopf. Als er mich jedoch erwartungsvoll ansah, hob ich zögernd meine Hände, nur um sie dann wieder in der Luft hängen zu lassen.

«Mach schon!»

Mit pochendem Herzen löste ich erst das rechte, dann das linke Armband. Beide fielen mit einem leisen, metallenen Klimpern auf das feuchte Steinpflaster. Er drehte seine Handflächen um und hielt sie näher an das Licht heran. Und ich konnte jetzt alles sehen.

Die Narben waren wie kleine Mulden. Als hätte er sich die Haut regelrecht rausgeschnitten. Das linke Handgelenk, das schlimmer zugerichtet war, war dünner als das rechte. Er ließ mir Zeit, es zu betrachten. Ganz vorsichtig fuhr ich mit dem Zeigefinger über die zerstörte Haut, fühlte, wie dünn und verletzbar sie war. Und dann nahm ich seinen linken Arm und legte meine Lippen auf die wunde Stelle, während er mit seiner anderen Hand zärtlich mein Haar streichelte.

Er würde mir noch so viel über sich erzählen müssen.

Ich ließ seine Hand wieder los und blickte zu den Sternen. Es war eine wunderbare, klare Nacht, die klarste seit langer Zeit. Und egal, was immer die Leute zu mir sagen würden, ob sie mich verstehen würden oder nicht, ob sie glauben würden oder nicht, ich glaubte es, und ich glaube es noch heute. Ich glaube, dass es einen Gott gibt. Und ich glaube, dass man mit ihm reden kann und dass er einem zuhört. Das haben wir beide schließlich erlebt, Domenico und ich.

Domenico folgte meinem Blick zu den Sternen und lächelte.

«Schön, was? Wenn ich in Sizilien nachts mit dem Motorrad ans Meer fuhr und dort saß, habe ich manchmal versucht, die Sterne zu zählen. Aber ich schaffte es nie. Und dann hab ich immer dein Gesicht vor mir gesehen. Und ich hab mir immer vorgestellt, wo du jetzt bist und ob du noch an mich denkst und ob du jetzt den gleichen Sternenhimmel anguckst wie ich …»

«Und ich dachte, du hättest mich vergessen …»

«Wie hätte ich dich jemals vergessen können? Aber wir waren ja meilenweit voneinander weg …»

Ja, meilenweit, räumlich gesehen … und jetzt waren wir uns so nah.

Doch da fiel mir noch etwas anderes ein.

«Du, Nicki, sag mal … also, etwas kapiere ich immer noch nicht ganz. Was war denn jetzt der wahre Grund, warum ihr wieder nach Deutschland gekommen seid? Du hattest in deinem Brief geschrieben, dass ihr in Sizilien Ärger hattet …»

«Ärger? …», murmelte er fast lautlos. «Na ja. Ich erzähl dir das ein anderes Mal, okay? Ich mag jetzt nicht …»

«Okay», willigte ich ein. Ich wollte nicht bohren. Ich würde viel Geduld haben müssen, das war mir schon klar. Doch insgeheim dachte ich auch an das, was Mingo mir an seinem letzten Abend noch über Nicki gesagt hatte; diese Vermutung, die ich nie anzurühren gewagt hatte.

Aber eine andere Frage war nun viel brennender. Ich warf ihm einen besorgten Blick zu.

«Aber jetzt gehst du nicht mehr weg, oder?»

«Nee, Quatsch. Ich bleib hier bei dir.»

«Für immer?»

«Klar, wenn du das möchtest. Außerdem …» Seine Augen versanken in einem trüben Schatten. Ich merkte es sofort.

«Was denn?»

«Mingo. Ich hab 'ne große Aufgabe hier. Sein Kind wird mich brauchen. Kannst du dir vorstellen, wie … Mann! Ich fass das einfach immer noch nicht!»

Er schniefte und wischte sich über die Augen. Ja, es würde noch viel Zeit brauchen, bis er Mingos Namen in den Mund würde nehmen können, ohne mit den Tränen kämpfen zu müssen. Erneut legte ich den Arm um ihn.

«Ich will versuchen, wie ein Vater für dieses Kind zu sein, Maya. Ich will alles tun, dass es nicht in diesem Mist aufwachsen muss wie wir. Ich hoffe, dass Carrie wirklich keine Dummheiten macht!»

«Ich werde dir natürlich helfen!», versprach ich. «Und meine Eltern ganz bestimmt auch, davon bin ich fest überzeugt. Und vielleicht klappt es sogar mit Bianca.»

«Mhmm. Das wäre so schön. Arme Kleine. Bis dahin muss sie wohl noch im Heim bleiben. Ich hoffe, dass ich bald 'ne eigene Wohnung haben kann. Dann werde ich 'n ganz cooles Zimmer für Bianca einrichten, damit sie es richtig schön hat, wenn sie später mal die Ferien oder ein Wochenende bei mir verbringen darf.»

Ja, da lag die Zukunft vor uns, mit ihren Klippen und Steilhängen, und wir allein würden bestimmen, was wir daraus machten, Domenico mit seinen Herausforderungen, und ich mit meinen.

Er sah mich wieder an. «Und wenn du mal 'ne Ärztin wirst und drogenabhängigen Kids helfen wirst, dann sollst du wissen, dass du immer auf meine Hilfe zählen kannst. Ganz egal, was aus uns wird. Ich werde immer dein Freund bleiben. Und das Versprechen, das ich dir hier gemacht hab, gilt für ewig. Ich werde dich immer beschützen!»

«Und ich werde immer zu dir halten! Auch wenn es mich vielleicht mal Nerven kosten wird.»

Er lächelte. Eine Weile noch standen wir schweigend da und zählten die Sterne, doch dann gaben wir es auf. Ich schaute auf meine Uhr.

«Du meine Güte, weißt du, wie spät es ist?»

«Zu spät!», seufzte er. «Jetzt hat Ronny bestimmt den ganzen Kuchen gemampft …»

Und so verließen wir unseren geheimen Platz bei der Laterne und gingen den Steg hinunter. Die tellerförmigen Lampen leuchteten aus den Büschen hervor. Dann, als wir den dunklen Botanischen Garten durchquerten, nahm Domenico mich fest in den Arm, weil ich mich ja bekanntlich im Dunkeln fürchtete. Ich schnupperte und atmete die glasklare Luft ein. Nein, ich irrte mich nicht. Es roch tatsächlich nach Frühling.

Erst vor unserem Gartentor ließ Domenico mich schließlich wieder los.

«Ich komme nicht mehr mit rein», sagte er leise.

«Nicht?», fragte ich enttäuscht.

«Nee, ich muss einfach ein bisschen allein sein. Ich ertrag die vielen Leute im Moment nicht. Bist du mir böse?»

Ich schüttelte stumm den Kopf.

«Ich komm morgen wieder zu dir, okay?»

«Versprochen?»

«Klar. Versprochen!»

Bevor er ging, zog ich das Foto von Mingo aus meiner Tasche und steckte es wortlos in seine Jackentasche. Er fuhr mit den Fingerspitzen zum Abschied über meine Wange. Und seufzend wie der Frühling, wenn er die dunklen Winterreste wegfegt, schlang ich ein letztes Mal meine Arme um seinen Hals und machte mich dann endgültig von ihm los. Dann verschwand er in der Dunkelheit, und ich schaute ihm lange nach.