Es war bereits nach drei Uhr, als wir zuhause ankamen. Das Licht in der Küche war noch an. Mama war tatsächlich wach geblieben. Meine Eltern trugen Bianca als Erstes in die Praxis, wo Paps ihr mitten in der Nacht das Piercing aus der Zunge entfernte und die Wunde säuberte und desinfizierte.
Bianca bekam das alles kaum noch mit. Ihr Gesicht glühte vor Hitze. Meine Eltern brachten das kranke Kind in Mamas Klavierzimmer, das direkt neben dem Schlafzimmer meiner Eltern lag und in dem ein kleines Klappbett stand.
«Sie hat extrem hohes Fieber», sagte Paps. «Wahrscheinlich wäre es vernünftiger gewesen, wir hätten sie ins Krankenhaus gebracht.»
«So ein schönes Kind», sagte Mama leise und berührte die fiebrige Stirn des schlafenden Mädchens. Bianca sah ihren Brüdern extrem ähnlich, obwohl sie einen anderen Vater hatte als Nicki und Mingo. Doch die Ähnlichkeit rührte ganz offensichtlich von der gemeinsamen Mutter her.
«Wenn man nur wüsste, was mit ihr passiert ist!» Mama schob vorsichtig Biancas T-Shirt hoch. An der Seite, dort, wo die Rippen sehr deutlich hervorstachen, war ein Brandmal, eine wulstige, rote Stelle, als wäre die Haut regelrecht geschmolzen.
«Ja, das möchte ich auch gern wissen, was da abging!», wetterte Paps. «Diese Jungs sind echt unverantwortlich. Das Mädchen ist total unterernährt. Und ein Nabelpiercing hat sie auch! In dem Alter! Das ist doch vollkommen verrückt.»
«Gut, dass in ein paar Stunden Frau Galiani kommt», sagte Mama. «Sie kennt sich mit diesen Familienverhältnissen besser aus. Geh jetzt ins Bett, Maya, damit du zeitig wach bist.»
Auf dem Weg in mein Zimmer fiel mein Blick auf Domenicos Lederjacke, die über dem Treppengeländer hing. Der scharfe Tabakgeruch entfachte irgendwie meine Neugier. Was er wohl in seinen Taschen hatte? Ich konnte nicht widerstehen und gab dem Drang nach. Erst griff ich in die rechte Tasche. Feuerzeug, Tabakkrümel und eine vergessene Pille. Ein Stück Alufolie. Dann steckte ich meine Hand in die linke Tasche. Ich fühlte etwas, das mir sehr bekannt vorkam … etwas, das ich aus meiner Kindheit kannte, das mir sehr viel wert gewesen war und das ich ihm einmal geschenkt hatte … Ich holte tief Luft. Was ich da aus seiner Tasche zog, war die kleine Bibel!
Aber wie sie aussah! Sie war damals schon in einem schrecklichen Zustand gewesen, aber jetzt konnte man sie kaum aufschlagen, ohne dass die vergilbten Seiten zerrissen oder lose herausflatterten. Ein Brandfleck, offenbar von einer abgebrannten Kippe, hatte die rechte, obere Ecke fast unleserlich gemacht. Trotzdem. Er hatte sie noch! Ich strich mit der Hand liebevoll über den ledernen Umschlag. Als ich die verblasste Widmung lesen wollte, die ich ihm damals reingeschrieben hatte, flatterte mir noch etwas anderes vor die Füße. Ich hob es auf. Es waren zusammengefaltete Blätter … es waren … Meine Finger fühlten sich ganz taub an. Ich schloss die Augen, weil ich es fast nicht ertrug.
Es waren die Bilder, die er von mir gemalt hatte. Die ich auf Sizilien im Zimmer an seiner Wand gefunden hatte. Und die er – ich holte tief Luft! –, die er nun mit sich herumtrug!
Ich stopfte alles wieder in die Tasche zurück und stürmte mit einem stummen Schrei in mein Zimmer. Mein Herz raste. Ich riss meine Kleider vom Leib, stürzte mich in meinen Schlafanzug und flüchtete in mein Bett. Und da lag ich nun hellwach in der Dunkelheit, und mein Körper war am Glühen.
Es geht nicht, Nicki, es geht nicht …
Bitte versteh doch! Ich kann nicht. Ich verglühe fast. Hilfe. Nicki! Bitte nicht! Du weißt, dass es nicht geht. Wir sind zu weit voneinander entfernt!
Diese Bilder … wie unglaublich sie gezeichnet waren! So schön, dass es wehtat. Aus seinem Gedächtnis. Aus seinem Herzen. Mit diesen feinen, zarten Linien. Ich klammerte mich an mein Kopfkissen und schluchzte auf. Nie hatte Leons Gegenwart ein solches Chaos mit meinen Gefühlen angestellt. Aber das durfte nicht sein! Es war doch längst vorbei! Ich fühlte, wie eine Welle über mir zusammenschlug und mich packte und forttrug, mitten in ein tiefes, schwarzes Meer.
Als ich langsam wieder aus dem dunklen Meer auftauchte, hörte ich bereits laute Stimmen unten im Wohnzimmer. Noch ganz benommen schaute ich auf die Uhr und stellte mit Entsetzen fest, dass es schon halb zehn war. Ich hatte voll verschlafen! Wie peinlich! Schnell schlüpfte ich aus dem Bett und riss das Erstbeste an Klamotten aus dem Schrank raus. Ich ging damit ins Bad, erledigte meine Morgentoilette im Schnelldurchgang und torkelte dann einigermaßen als Mensch verkleidet die Treppe runter. Mein Kopf war immer noch ganz wirr.
Die Diskussion war bereits in vollem Gange. Kaffee und frisch gebackene Hörnchen dufteten verführerisch auf dem Couchtisch. Frau Galiani saß da und nickte mir lächelnd zu.
«Na, ausgeschlafen?», schmunzelte Mama.
«Es tut mir leid», murmelte ich beschämt.
«Kein Problem. Deine Eltern haben mich bereits aufgeklärt. Du hast anscheinend eine sehr aufregende Nacht hinter dir.» Frau Galiani rutschte ein wenig hinüber, damit ich mich auf die Couch setzen konnte. Mama schob mir Kakao und den Korb mit den Hörnchen zu. Ich bediente mich, obwohl mein Magen sich wie nach einem Schleudergang anfühlte. Aber die Hörnchen dufteten zu lecker, um sie einfach stehen zu lassen.
«Ich muss echt gestehen, ich hätte auch nicht damit gerechnet, dass die Jungs so plötzlich wieder auftauchen», sagte Frau Galiani. «Das überrascht mich sehr.»
«Mir kommt es eher ungelegen», brummte Paps. «Jetzt, wo unsere Tochter endlich Boden unter den Füßen hat und eine vernünftige Beziehung zu einem wirklich prächtigen Jungen eingegangen ist, müssen diese beiden Landstreicher wieder alles auf den Kopf stellen!»
«Martin!», warnte Mama.
«Ja, ich denke, die Freundschaft mit Leon ist wirklich das Beste, was ihr passieren konnte», sagte Frau Galiani nachdenklich. «Das hat sehr geholfen.»
Ich knibbelte an meinem Hörnchen herum, während meine Kehle zusammenschrumpfte. Ich hasste es, wenn die Erwachsenen mich auseinandernahmen und meine Seele immer wieder durchleuchteten, als sei ich eine schwerkranke Patientin.
«Also, ich möchte einfach nicht wieder dasselbe Chaos wie letztes Mal erleben», brummte Paps. «Ich möchte, dass diese Jungs und ihre Schwester ein für allemal hinter Schloss und Riegel kommen, sprich: in eine gesunde, geregelte Umgebung, wo man ihnen hilft, ihr Leben auf die Reihe zu kriegen, und wo sie kein Chaos mehr anrichten können, besonders nicht in den Gefühlen meiner Tochter!»
Ich knurrte innerlich. Oberpeinlich. Danke, Paps! Ich war froh, dass Frau Galiani taktvoll das Thema wechselte.
«Was haben die Jungs denn eigentlich im Sinn?»
«Ja, wenn ich das wüsste», knirschte Paps. «Aus Domenico kann ich ja kaum was rauslocken, so verschwiegen, wie er ist. Vermutlich weiß er es selbst nicht.»
«Vermutlich nicht. Wie auch immer. Vielleicht haben sie endlich begriffen, dass sie ihr Leben nicht auf freier Wildbahn führen können. Leicht wird die Sache allerdings nicht für sie werden. Gegen Domenico liegen ja noch immer einige Anzeigen bei der Polizei vor, unter anderem wegen schwerer Körperverletzung wie in Delias Fall und dem Diebstahl bei Herrn Biedermann. Und da Domenico schon vorbestraft ist, wird er wahrscheinlich nicht so einfach davonkommen.»
«Inwiefern ist er denn vorbestraft?», fragte Mama.
«Er war ein paar Wochen lang in der Jugendarrestanstalt, bevor er in unsere Klasse gekommen ist», erklärte die Lehrerin. «JAA nennt sich das. Aber weil er danach wieder straffällig geworden ist, fürchte ich, dass man dieses Mal härter mit ihm verfahren wird.»
«Was?» Die Krümel meines Hörnchens verstreuten sich über Mamas schönen crèmefarbenen Teppich.
«Hat er dir das nie gesagt? Ach nein, natürlich nicht …» Frau Galiani seufzte. «Ich hatte ihm ja damals versprochen, mit niemandem darüber zu reden. Aber mittlerweile solltest du schon Bescheid wissen. Er wurde von seiner Schule verwiesen und kam dann in die Jugendarrestanstalt und nachher zu uns.»
Ich schüttelte ungläubig den Kopf. Direkt von der JAA in unsere Klasse? Und ich hatte keinen blassen Schimmer davon gehabt?
«Er hat mir immer nur erzählt, dass Mingo im Knast gewesen sei. Er hat nie von sich selbst geredet», sagte ich fassungslos.
«Ja, ich kann mir schon vorstellen, dass er manchmal gewisse Tatsachen verdrängt hat, weil er dich nicht zu sehr schockieren wollte», sagte Frau Galiani. «Aber Domenico hat in der Vergangenheit ein paar heftige Delikte begangen, ich vermute vor allem, weil er auch für Mingos Drogenkonsum Geld auftreiben musste.»
Mein Hörnchen schmeckte auf einmal nur noch wie Pappe. Ich kramte sämtliche Bausteine aus meinem Gedächtnis, die ich über die Vergangenheit von Nicki und Mingo hatte. Ich versuchte sie zu einem Bild zusammenzufügen, aber es wollte mir nicht gelingen. Mit einem zermarterten Hirn gab ich auf. Es war einfach unmöglich, an Domenicos Geschichte ranzukommen.
«Um die beiden Jungs hat sich ja kaum jemand gekümmert, nicht wahr?», fragte Mama.
«Nun, natürlich hat man eine Menge unternommen. Das Problem ist halt, dass die Mutter damals auf Sizilien ungewollt durch einen deutschen Touristen schwanger geworden ist und nach der Geburt versucht hat, ihre Kinder mit Gewalt aus der Welt zu schaffen. Das war eine grausige Tat. So was kann man nicht einfach kitten. Die Brüder sind in den ersten sieben Jahren ihres Lebens bei einer Nonne aufgewachsen, zu der sie offenbar eine tiefe Beziehung entwickelt haben. Sie muss ihnen wie eine Mutter gewesen sein. Als die Zwillinge später mit ihrer leiblichen Mutter nach Deutschland kamen, war es nie mehr möglich, das zu heilen, was passiert war, obwohl Maria von schweren Schuldgefühlen geplagt war und versuchte, das Geschehene wiedergutzumachen. Aber sie war total überfordert mit ihren rebellischen Söhnen. Dazu kamen ihre großen Alkoholprobleme. Die Zwillinge sind zwischendurch immer wieder von Fürsorgestellen in Obhut genommen worden und waren auch mal probeweise bei einer Pflegefamilie. Es war eine lange und traurige Odyssee, und es ist niemandem gelungen, an die beiden heranzukommen. Ich denke, das ist auch das Problem, warum die Jungs sich so vehement gegen jegliche Institution sträuben.»
Das war eine lange Rede gewesen. Frau Galiani brauchte erst mal wieder einen Schluck Kaffee.
«Haben sie jetzt überhaupt keinen Kontakt mehr zu ihrer leiblichen Mutter?», fragte Mama nach einer Weile.
«Ich denke nicht. Ich sehe Maria ab und zu. Sie spricht wenig von ihren Söhnen. Sie weiß halt auch, dass sie vieles falsch gemacht hat.»
«Hat sie denn noch das Sorgerecht?», fragte Mama weiter.
«Ja, das liegt noch immer bei ihr. Die Leute, die das zu entscheiden haben, sagten sich eben: ‹Lieber eine überforderte Mutter als gar keine Mutter.› Die Zwillinge haben ja später auch wieder zuhause gewohnt. Mein Mann und ich haben viel Hilfe angeboten, aber wie alle anderen Leute sind auch wir völlig abgeprallt.»
«Und was ist mit dem Vater der beiden? Existiert der überhaupt?» Ich sah, wie Mama sich alle Fakten sorgfältig im Kopf notierte.
«Tja, von dem weiß man so gut wie gar nichts. Maria di Loreno behauptet, dass er ein bekannter Athlet ist. Aber ich bin da etwas vorsichtig. Sie kennt ja nicht mal seinen Namen.»
«Kann man das herausfinden?»
«Vermutlich schon, aber bis jetzt wurde nie etwas unternommen.»
«Und was ist mit dem Mädchen?», fragte Mama. «Es hat nicht den gleichen Vater wie die Zwillinge, nicht wahr?»
«Das ist richtig. Maria war kurz verheiratet in Deutschland. Aus dieser Ehe stammt Bianca. Doch das Sorgerecht wurde nach der Scheidung dem Vater übertragen, weil Maria schwere Alkoholprobleme hatte. So wuchs Bianca bei ihrem Vater auf.»
«Domenico sagte mir, dass Bianca von ihrem Vater misshandelt wurde!», warf ich ein.
«Das kann ich dir nicht so genau sagen, Maya. Ich kenne ja den Mann nicht. Aber es stimmt schon, Maria sagte mir auch, dass sie und die beiden Jungs oft von ihm geschlagen wurden.»
«Kann man das denn nachprüfen?»
«Natürlich. Das wird man bestimmt auch. Bianca muss sicherlich zuerst mal in eine Art Bereitschaftspflegestelle, bevor man entscheidet, ob sie zu ihrem Vater zurückkann. Vor allen Dingen kann das Mädchen nicht halbverwildert bei seinen noch minderjährigen Brüdern aufwachsen.»
«Der Meinung bin ich auch!», schnaubte Paps, der die ganze Zeit geschwiegen hatte.
«Nun, ich kann ja schon verstehen, dass Domenico und Mingo ihre Schwester schützen wollen. Es ist einfach schwierig, ihnen klarzumachen, dass man ihnen nur helfen möchte», sagte Frau Galiani und blickte auf die Uhr. «Es ist schon recht spät. Reden wir noch über Mingo.»
Bei dem Namen «Mingo» verfinsterte sich Paps' Blick.
«Wie geht es ihm? Ich habe ihn lange nicht mehr gesehen!»
«Schlimm!», sagte Paps. «Auch körperlich ziemlich am Ende. Ich vermute mal, er hat Hepatitis.»
«Ja, ich weiß», sagte Frau Galiani traurig. «Mingo ist hochgradig heroinsüchtig. Leider. Seine Mutter hatte mehrmals bei der Drogenberatungsstelle angerufen, um Hilfe für ihren Sohn zu bekommen, vergeblich … Mingo war daraufhin in einer Klinik auf Entzug, hat aber Drogen mit reingeschmuggelt und ist dann wieder abgehauen.»
«Wie konnte es denn so weit kommen?» Mama strich mit gerunzelter Stirn ihre Serviette glatt.
«Mingos Schicksal wurde sicher dadurch erschwert, dass er durch die Umstände bei seiner Geburt eine leichte Behinderung hat, die ihm vieles erschwerte, zum Beispiel Lesen und Schreiben. Dadurch wurde er in der Schule oft gehänselt. Die Grundschule hindurch hat man versucht, ihn mit Domenico in der Klasse zu lassen, um die Zwillinge nicht trennen zu müssen. Als er dann doch in die Sonderschule kam, kam er dort ohne seinen Zwillingsbruder überhaupt nicht klar und fing an zu schwänzen und sich auf der Straße herumzutreiben. Er hing dort besonders in der Punkszene rum. Da war der Weg zu Alkohol und Drogen nicht mehr weit.»
«Dabei ist er so begabt», sagte ich leise. «Er kann Dinge reparieren … er kann Motorräder zusammenbauen, Strom anzapfen …»
«Ja, er ist nicht dumm, ganz und gar nicht. Ich habe ihn das letzte Mal gesehen, kurz bevor Domenico in unsere Klasse gekommen ist, und da ging es ihm schon total schlecht. Ich war ziemlich schockiert, als ich ihn sah.»
«Wie ist das, konsumiert Mingo denn ausschließlich Heroin?», fragte Mama.
«Nun, das weiß ich nicht so genau. Hauptsächlich ja, aber ich denke mir, dass er auch noch andere Sachen nimmt.»
«Aber wie kann man ihm denn helfen?», fragte ich.
Frau Galiani schürzte die Lippen. «Ich fürchte, um das ganz krass zu sagen: Wenn Mingo je festen Boden unter die Füße kriegen soll, müsste man ihn von Domenico trennen. Mingo wird nie lernen, zurechtzukommen, solange Domenico alles für ihn macht. Und zweitens müsste Domenico von dieser Riesenverantwortung befreit werden, für seinen drogenkranken Bruder zu sorgen, sonst geht er selbst unter! Doch trotz aller Sympathie für die beiden Jungs musst du ganz klar auch die andere Seite sehen, Maya: Es ist keiner dazu gezwungen, Drogen zu nehmen, selbst wenn er noch so ein schweres Leben gehabt hat. Domenico und Mingo haben sich auch eine Menge selber verbockt, indem sie jegliche Hilfe ablehnten! Aber gut, hoffen wir, dass es dieses Mal besser klappen wird.»
«Also, ich bin für eine Klinik», sagte Paps entschlossen. «Mingo gehört in psychiatrische Behandlung. In eine geschlossene Anstalt. Auf Entzug. Und wenn nötig, mit Zwangseinweisung!»
Das waren harte Worte. Sie gingen mir durch Mark und Bein. Doch ich musste mir eingestehen, dass Paps Recht hatte.
Frau Galiani warf einen erneuten Blick auf ihre Uhr und sah uns bedauernd an. «Jetzt haben wir überhaupt noch nicht über das Thema gesprochen, weswegen ich eigentlich gekommen bin. Aber leider ist die Zeit schon fortgeschritten …»
«Das können wir doch sicherlich verlegen», meinte Mama freundlich.
Frau Galiani nickte. «Natürlich. Ich rufe Sie wieder an! Ach, übrigens, ich werde mich am Montag mal ganz vorsichtig mit Frau Schütze vom Jugendamt in Verbindung setzen. Sie war damals für die Zwillinge zuständig und kennt die Fakten. Mein Mann und ich haben viele Gespräche mit ihr geführt wegen der Jungs. Vielleicht können Sie versuchen, den beiden diesen Vorschlag nahezubringen! Aber seien Sie behutsam. Die beiden Jungs verhalten sich wie wunde Tiere. Nicht, dass sie uns am Ende wieder weglaufen! Übrigens bin ich Ihnen sehr dankbar, dass Sie sich so um die beiden kümmern.»
«Martin, vielleicht wäre es besser, wenn ich das mache», schlug Mama vor, die wohl wusste, dass Paps' Stärke nicht unbedingt Behutsamkeit war. Paps knallte die Fakten gern kompromisslos auf den Tisch.
Paps hatte nichts dagegen einzuwenden. Und ich erst recht nicht. Mit Mama wurde das Ganze viel entspannter.
Als Frau Galiani gegangen und Paps ins Klavierzimmer verschwunden war, um nach Bianca zu sehen, blieb Mama schweigend bei mir sitzen. Und wenn Mama schwieg, dann befanden sich ihre Gedanken an einem Ort, den sie uns nicht offenbarte. Ihre Augen blickten mich an wie mein eigenes, älteres Spiegelbild.
Es fiel mir nie leicht, mir meine Mutter als junges Mädchen vorzustellen. Ich hatte oft das Gefühl, dass sie schon so weise und erfahren zur Welt gekommen war. Sie wusste immer ganz genau, was zu tun war, fand stets die richtigen Worte und machte meiner Meinung nach nie Fehler. Es hatte eine traurige Zeit in ihrem Leben gegeben, damals, als mein kleiner Bruder gestorben war. Ich hatte nur vage Erinnerungen. Ich war damals erst zwei Jahre alt gewesen. Außerdem wusste ich ein bisschen darüber, dass Mamas Ehe mit Paps nicht immer einfach gewesen war. Aber Mama redete kaum über die Vergangenheit. In dieser Hinsicht war sie fast so verschwiegen wie Domenico. Wenn ich sie danach fragte, meinte sie nur, Vergangenes sei vergangen, und lächelte geheimnisvoll.
Es war fast elf Uhr, als wir endlich losfahren konnten. Ich hatte die ganze Zeit gedrängelt, aber Paps hatte meine Aufregung nicht ganz nachvollziehen können.
«Diese beiden Trödelbrüder kommen ja eh nicht vor Mittag aus den Federn!», hatte er geschnaubt.
Als ich später mit Mama im Auto saß, ahnte ich jedoch nicht, dass schon wieder neuer Ärger bevorstand.