5. Frag nicht!

Zuhause verfrachteten wir Domenico sofort in die Arztpraxis. Paps ließ sogleich alles stehen und liegen und machte bei ihm eine Röntgenaufnahme mit dem kleinen mobilen Gerät, das er sich für Notfälle angeschafft hatte. Mama bereitete inzwischen die Untersuchungsliege vor.

Etwas später kam Paps mit Domenico und einem erleichterten Gesicht zurück.

«Das war mal wieder mehr Glück als Verstand. Wahrscheinlich ist es nur ein Bluterguss. Trotzdem möchte ich mir das noch etwas genauer ansehen. Leg dich mal auf die Liege.»

Domenico gehorchte wortlos und verschränkte lässig die Arme hinter dem Kopf. Mein Vater streifte sich Gummihandschuhe über und begann, mit seinen behutsamen, geübten Fingern Domenicos Wangenknochen abzutasten. Ich betrachtete Domenicos Gesicht genauer: Die linke Seite neben seiner Nase hatte sich grün und lila und blau verfärbt. Ein ziemlich heftiger Bluterguss …

«Tut das weh?» Paps drückte ein wenig fester auf den Knochen.

«Geht so!» Domenico verzog keine Miene.

«Atme mal durch die Nase ein, wie fühlt sich das an?»

Domenico zog gehorsam die Luft ein und stieß sie wieder aus. «Okay!», sagte er. Er wollte sich wieder aufrichten, doch Paps hob die Hand. «Einen Moment, bitte. Bleib liegen!»

Er knipste die große Halogenlampe über dem Kopf der Liege an, und für einen Augenblick war Domenicos Gesicht in gleißend weißes Licht getaucht. Er lag mit geschlossenen Augen da. Und ich konnte alles sehen. All die Dinge, die man normalerweise nicht sah, wenn man ihm nicht nahe genug war.

Die kleine rote Narbe unter seinem Auge. Die Unebenheit, die längs zwischen seinem Kinn und dem rechten Wangenknochen verlief. Auch die zarten, vereinzelten Sommersprossen auf seiner Nase hatte ich noch nie zuvor gesehen. Vielleicht waren sie ein Überbleibsel aus Sizilien, vielleicht hatte er sie schon immer gehabt. Ich wusste es nicht. Ich hätte ihn so gern noch länger angeschaut, aber da fiel Paps Schatten wieder auf sein Gesicht. Ich schloss die Augen und notierte mir alles im Gedächtnis. Wer wusste, wann ich je wieder Gelegenheit haben würde, ihn so genau zu betrachten …

«Also, junger Mann, ich denke mal, dass nichts gebrochen ist», sagte Paps, nachdem er seine gründliche Untersuchung beendet hatte. «Ich schmiere dir jetzt ein bisschen Wundgel auf die Nase und binde sie neu ein.»

Mama brachte Wundgel und Verbandszeug, und Paps versah Domenicos linke Gesichtshälfte mit einem dicken Pflaster. Kaum war Paps fertig, richtete sich Domenico auf und kniff die Augen zusammen. Er war offenbar froh, der hellen Lampe zu entkommen.

«So, wenn du nun schon mal hier bist, kann ich ja auch gleich mal deine Lunge etwas genauer untersuchen.» Paps sah Domenico nachdenklich an. «Ich nehme ja nicht an, dass du inzwischen mal beim Arzt warst, oder?»

«Mit meiner Lunge ist alles in Ordnung!», sagte Domenico barsch. «Ich bin nur erkältet.»

«Das scheint aber eine ziemlich chronische Erkältung zu sein», sagte Paps grimmig.

«Martin hat Recht, Domenico», warf Mama ein. «Das müssen wir unbedingt mal ansehen.»

«Es dauert nicht lange», versicherte Paps. «Mach dich mal oben frei.»

Es war, als ob Schüsse geknallt hätten. Domenico sprang von der Liege und starrte Paps so vernichtend an, dass ich mich fühlte, als würde sich ein eisiger Würgegriff um meine Kehle legen.

«Nein!», sagte er schroff.

«Meine Güte, warum denn nicht?» Paps verstand die Welt nicht mehr. «Ich meine, wie soll ich dich denn sonst untersuchen?»

Domenicos Augen wurden zu mörderischen Schusswaffen. Er sah aus, als wolle er gleich irgendwo dreinschlagen. Wir standen alle reglos um ihn herum. Meine Eltern waren sichtlich schockiert. Mein Herz klopfte beinahe zum Zerspringen. Ich war nämlich die Einzige, die Bescheid wusste! Er würde sich niemals oben freimachen. Nicht mal zum Schwimmen. Ich kannte sein trauriges Geheimnis. Aber ich hatte es meinen Eltern nie erzählt. Ich war keine, die Geheimnisse anderer Leute weitererzählte.

«Nicki …», flüsterte ich und hoffte, dass er sich wieder beruhigen würde. Doch seine eisgrauen Augen wurden immer kälter, bis sie unter dem Gefrierpunkt waren.

«Ich zieh mich nicht aus! Lasst mich einfach in Ruhe!», grollte er und stampfte zur Tür.

«Also, was fällt dir eigentlich ein, du ungezogener Bengel!», schnaubte Paps wütend. «Langsam hab ich echt die Nase voll!» Er nahm sein Stethoskop vom Hals und warf es resigniert auf die Liege. «Na schön. Aber mach mir dann später keine Vorwürfe, wenn du eines Tages mit Lungenkrebs ins Krankenhaus eingeliefert wirst!»

Domenico schwieg und ließ den Kopf hängen. Seine Hand umklammerte den Türgriff. Es war, als wolle er etwas sagen. Doch er schaffte es offenbar nicht. Er lehnte sich gegen die Tür und drückte die Klinke runter. Meine Eltern tauschten einen Blick und sahen dann mich an. Die Ratlosigkeit stand ihnen ins Gesicht geschrieben. Ich fühlte mich total daneben. Wir hatten mal wieder mitten in eine Wunde gefasst.

«Es tut mir leid, Nicki», sagte ich, als wir später auf dem Weg ins Haus waren, um nach Bianca zu sehen. «Mein Vater weiß das doch nicht mit deinen Narben!»

«Schon okay», sagte er dunkel. «Es tut mir auch leid. Aber du weißt, dass ich dieses Thema hasse.»

Ich schloss die Tür auf und machte das Flurlicht an. Ich erinnerte mich an den Tag, als Paps Domenico zum ersten Mal gesehen hatte. Er war ganz schön schockiert gewesen.

Bianca lag wie eine zarte Porzellanpuppe im Bett und hatte die Augen geschlossen, als wir leise zu ihr ins Zimmer traten. Es roch nach Essig, Kamillentee und Fieber. Ich wollte Licht anmachen, doch Domenico zog behutsam meinen Arm vom Lichtschalter weg.

«Mach es nicht an», bat er leise. Es klang, als ob seine Stimmbänder schmerzen würden.

«Warum nicht?»

«Lass es einfach!»

Ich schüttelte resigniert den Kopf. Das war wieder eine Antwort! Dabei war es so düster in dem kleinen Zimmer.

«Hey Piuma!» Domenico kniete sich vorsichtig zu seiner blassen Schwester auf den Boden neben das Klappbett. Ich sah ihm zu, wie er sein Gesicht über sie neigte und sie sanft mit seinen Lippen berührte. Diese Lippen, die mich so oft im Traum küssten … Und die sich jetzt zu einem hübschen Lächeln verzogen, so dass die Grübchen auf seinen Wangen erschienen, als Bianca die Augen öffnete.

Ich fühlte einen merkwürdig bohrenden Schmerz in mir. Wenn er doch nur nicht all diese Probleme hätte! Ich beobachtete ihn weiter, wie er seiner Schwester liebevoll über die Wange streichelte, betrachtete sein linkes Handgelenk, das mindestens sieben, acht Zentimeter breit von braunen Lederbändchen umwickelt war. Diese Bändchen versteckten dieselbe Geschichte unter sich, von der auch die Narben an seinem Oberkörper stammten, die er niemandem zeigen wollte.

«Hat sie die ganze Zeit geschlafen?», fragte Domenico.

«Ja, ich glaub schon. Paps meinte, wenn das Fieber bis morgen nicht besser sei, würde er sie ins Krankenhaus bringen.»

Domenico sah mich schweigend an und richtete den Blick dann wieder auf seine Schwester.

«Sag mal, was habt ihr denn jetzt wirklich vor?», wagte ich die schüchterne Frage, die er bis jetzt immer noch nicht konkret beantwortet hatte.

«Was wir vorhaben?» Er lehnte sich cool mit dem Rücken an das Klappbett und verschränkte seine Arme hinter dem Kopf, mit der starrköpfigen und unerschütterlichen Miene eines Tigers, die kompromisslos verkündete, dass er sich seine Freiheit durch nichts und niemanden rauben lassen würde.

«Ich meine, wollt ihr wirklich nur den Winter über bleiben?» Meine Stimme schrumpfte zum sanften Schnurren eines Kätzchens zusammen.

Er hob trotzig sein Kinn. «Interessiert dich das?»

«Klar, warum nicht?», sagte ich beinahe beleidigt.

Seine Antwort verblüffte mich. «Du hast einen Freund!», stellte er leise fest. Ich starrte ihn überrumpelt an.

«Wie … wie kommst du jetzt auf einmal darauf?»

«Nur so.» Seine Stimmbänder klangen ganz zerquetscht. «Ich hab das gleich gesehen. Du siehst anders aus.»

«Wie anders?» Mein Herz flatterte ganz unruhig.

«Nicht wie du selbst.»

«Was?» Ich starrte ihn erschlagen an.

«Vergiss es!» Er wandte seine Augen von mir ab. Fast schien mir, als würde ein Schatten über sein Gesicht huschen, doch ich war mir nicht sicher. Auf alle Fälle hatte sich irgendwas verändert.

«Ich verstehe dich nicht, Nicki, echt nicht», seufzte ich.

Er legte schweigend seinen Kopf auf die Bettdecke und blinzelte mich an. Die Konturen seines Gesichts wurden immer verschwommener in dem Dämmerlicht, das im Raum herrschte.

«Bitte frag einfach nicht weiter, Maya, okay?», bat er mit leiser, niedergeschlagener Stimme.

«Okay.» Ich musste mich wieder einmal mehr damit zufriedengeben, vor ein Rätsel gestellt zu werden. Also beschloss ich, mich dem anderen großen Problem meines Lebens zuzuwenden: Mingo. Ich hatte mich noch nicht erholt von dem, was vorher passiert war.

«Aber wegen Mingo darf ich dich was fragen, oder?»

Er nickte etwas zögernd und richtete sich wieder auf.

«Hat er jetzt aufgehört zu spritzen oder nicht?»

Er lachte bitter auf. «Wie kommst du denn darauf? Hat er behauptet, er hätte aufgehört?»

«Na ja, er hat irgendwas in dieser Richtung gesagt.»

«So ein Quatsch. Das glaubt er ja wohl selber nicht!»

«Aber warum erzählt er mir dann, er habe aufgehört?» Ich versuchte es wieder einmal mehr vergeblich mit Logik.

«Ach, Maya, der weiß manchmal gar nicht mehr, was er labert. Er checkt doch nicht mehr, was wahr ist und was nur in seinem Kopf abgeht. Er brabbelt ständig davon, dass er von den Drogen wegkommen will und dass ich ihm das Heroin wegnehmen soll, und eine Stunde später kommt er und bedroht mich mit dem Messer oder so, wenn ich mich weigere, das Zeug wieder rauszurücken.»

Bevor ich was sagen konnte, streifte er den Ärmel seiner Jacke weit zurück und zeigte auf eine Stelle an seinem Oberarm, dort, wo er auch seine Tätowierung hatte. Ich beugte mich näher an ihn heran, damit ich es sehen konnte. Es war ein kleiner, schlecht verheilter Messerschnitt.

«Da! Und das hier hab ich auch von ihm.» Er zeigte auf seine rechte Kinnseite. «Da hat er mir schon mal die Faust ins Gesicht gedonnert. Ist aber schon etwas länger her …»

Ich schüttelte fassungslos den Kopf. «Das ist unglaublich …»

«Ach, easy, Maya. Damit leb ich schon seit Jahren. Diese Narben sind kein Thema für mich, wenn du verstehst, was ich meine», sagte er cool. Aber ich merkte, dass diese coole Gelassenheit mal wieder nur gespielt war.

«Aber du … bitte denk trotzdem nicht allzu schlecht von Mingo. Er ist doch immer noch mein Zwillingsbruder!» Jetzt sah er mich flehend an. «Er … er kann einfach nicht anders. Er hat's so schwer gehabt. Im Grunde ist er wahnsinnig lieb. Er beschützt mich ja auch immer, wenn ich in Gefahr bin oder bedroht werde. Er hängt total an mir, das weiß ich. Er hat auch dich extrem gern. Das spürst du doch, oder?»

«Ich mag ihn ja auch gern, Nicki. Wirklich. Trotz allem.»

«Ja, ich weiß … das find ich ja so cool an dir. Es kommt mir so vor, als hätte Mingo bei dir was gefunden, wonach er immer gesucht hat. Du bist so was wie 'ne Schwester für ihn. Er hat sich noch nie jemandem so geöffnet. Aber du musst mega behutsam mit ihm umgehen. Er ist extrem verletzlich. Und dann kann er ausrasten. Und gefährlich werden. Er weiß dann nicht mehr, was er tut. Sei also vorsichtig, okay?»

«Mach ich … Aber du, Nicki … ich find, manchmal bist du auch ganz schön hart zu ihm.»

Er seufzte müde. «Ja, ich weiß. Das ist manchmal echt schwierig. Ist halt 'n Unterschied, wenn du mit 'nem Drogensüchtigen zusammenlebst und ihn den ganzen Tag um dich herum hast. Ich bin manchmal echt fertig …» Ein wehmütiger Glanz leuchtete kurz in seinen Augen auf. «Du hättest uns mal in Taormina erleben sollen. Wir hatten 'ne krass schöne Zeit zusammen. Ich hab genug Geld als Straßenmaler verdient, und Mingo hatte immer genug Stoff, so dass er weniger spritzen musste und wir dem Zeug nicht ständig hinterherrennen mussten. Aber als der Sommer vorbei war und die Touristen gingen, fing der Stress wieder an. Wenn Drogen im Spiel sind, holt dich diese Kacke einfach irgendwann wieder ein.»

«Und was ist denn jetzt mit einer Therapie?»

Er zuckte die Schultern. «Ach, das ist auch so 'ne Sache. Mal labert er, dass er will, und dann wieder nicht. Im Grunde hat er Panik vor den Leuten dort. Vor den Ärzten. Vor den Psychiatern. Der würde eh wieder abhauen!»

«Und eine Zwangseinweisung? Dann könnte er nicht abhauen.»

«Meinst du, ich sperre meinen Bruder ein?», fuhr er mich aufgebracht an. «Das würde ich niemals fertigbringen. Dann sterbe ich lieber mit ihm!»

«Hast du denn nie Angst, dass er eines Tages an einer Überdosis stirbt?»

«Maya, es gibt nix, wovor ich mehr Angst hab! Glaub mir. Ich dreh fast durch vor Panik, wenn er bewusstlos rumliegt», sagte er mit gebrochener Stimme. «Die einzige Hoffnung, die ich sehe, ist, dass er Methadon kriegen kann. Ich weiß, dass er nie mehr gesund werden wird. Ich mein, er braucht ja sonst nix zu machen. Er kann für immer bei mir bleiben. Sein Leben lang. Ich werde für ihn sorgen! Und für die Kleine auch!»

Er nahm Biancas fiebrigheiße Hand in seine. Das Mädchen hatte die Augen wieder geschlossen und stöhnte.

«Hey Piuma!», murmelte er leise und hauchte ihr ein paar sanfte italienische Worte ins Ohr.

«Warum nennst du sie eigentlich Piuma?», fragte ich.

«Weil sie so leicht ist. Das heißt Feder!» Er hatte etwas Mühe, so schnell von Italienisch auf Deutsch zu wechseln, und betonte das letzte Wort nicht ganz korrekt.

«Paps meinte, sie sei unterernährt …», sagte ich.

«Ja, ich weiß. Sie hat kaum Appetit», sagte er traurig. «Ich muss sie und Mingo fast immer zum Essen zwingen. Das haben wir alles ihrem bescheuerten Alten zu verdanken! Und ich werde nicht zulassen, dass man sie wieder dahin zurückbringt!»

Das wilde Funkeln in seinen Augen ließ mich keinen Moment daran zweifeln, wozu er im Ernstfall in der Lage sein würde. Er seufzte tief und strich Bianca das verklebte Haar aus der Stirn.

«Mist, ey, hoffentlich ist das nix Schlimmes!», sagte er besorgt. «So krasses Fieber hat die noch nie gehabt. Hey, wenn das echt bis morgen nicht besser wird, dann … also, dann kann dein Vater sie ruhig ins Krankenhaus bringen, wenn er möchte. Sagst du ihm das?»

«Klar, werde ich ihm ausrichten.»

«Danke. Du, wie spät ist es eigentlich? Ich muss dringend los. Mingo braucht mich bestimmt.»

«Halb vier», sagte ich nach einem Blick auf meine Armbanduhr.

Mama hantierte in der Küche, als wir etwas später wieder in den Flur hinausgingen, wo Domenico seine Tasche deponiert hatte. Als Mama uns hörte, steckte sie sofort den Kopf zur Tür raus.

«Da seid ihr ja! Möchtest du noch was essen, Domenico?»

Sie ließ sich netterweise nichts anmerken wegen der Szene, die Domenico vorhin in der Praxis geboten hatte.

«Nee, ich muss los. Ich will Mingo nicht zu lange allein lassen.» Er war sichtlich verlegen.

Apropos Mingo … Da fiel mir noch etwas ein: «Warte! Der CD-Player! Mingo hat mir doch versprochen, ihn zu reparieren. Ich hole ihn rasch, ja?»

«Okay, mach das. Aber ich kann dir nicht versprechen, dass du ihn wiederkriegst. Kann sein, dass er ihn verschlampt oder verscherbelt.»

«Das wäre auch nicht so schlimm. Das Gerät ist ja eh kaputt.»

Ich düste nach oben in mein Zimmer, kramte das funktionsuntüchtige Gerät aus meiner Schublade und raste in Windeseile wieder runter.

«Haben denn die Nikotinkaugummis nicht geholfen, die Martin dir letztes Mal gegeben hat?», fragte Mama Domenico gerade.

Domenico wollte etwas erwidern, als ich ihn beinahe über den Haufen rannte. Offenbar froh, nicht antworten zu müssen, nickte er Mama hastig zu und nahm seine Tasche hoch.

Wir traten ins Freie. Das dichte Gewölk von heute Mittag hatte sich wie von Zauberhand verzogen. Die sich senkende Sonne leuchtete wie befreit hinter ein paar Wolkenfetzen hervor.

Vor dem Gartentor griff ich Mamas Frage wieder auf.

«Ja, sag mal, was ist eigentlich mit diesen Kaugummis? Hast du das mal probiert?»

«Ach, vergiss das. Der Schrott taugt doch eh nix!» Seine Stimme klang auf einmal wieder ganz finster und gereizt.

«Also, mein Vater dreht dir sicher keinen Schrott an», entgegnete ich spitz.

«Was weiß dein Vater schon!» Er drehte sich abrupt von mir weg. Was war denn jetzt schon wieder in ihn gefahren? Er wechselte seine Launen wie andere Leute ihre Klamotten.

«Wie kannst du es wagen!», fuhr ich ihn verletzt an. «Mein Vater hat sehr wohl eine Ahnung!»

«Ja, aber nicht davon!» Fast demonstrativ klaubte er eine Zigarette aus seiner Jackentasche und steckte sie zwischen die Lippen. Ich schüttelte nur fassungslos und enttäuscht den Kopf und fühlte mich, als hätte mir jemand in den Magen geboxt.

«Sorry, ich brauch das halt einfach.» Er zündete sich die Zigarette an und musterte mich mit kalten Augen.

«Wenn du meinst …» Ich zuckte mit den Schultern. Was regte ich mich auf: Es war ja seine Sache!

«Du musst mir und Mingo nicht helfen, Maya», sagte er. «Lass es lieber. Du verbrennst dir nur die Finger.»

«Warum hast du uns dann überhaupt um Hilfe gebeten?» Jetzt waren es meine Stimmbänder, die versagten. Ich wusste langsam nicht mehr, was ich denken sollte. Aus diesem Jungen würde ich sowieso niemals schlau werden.

«Es war ein Fehler.» Er schulterte die Tasche, steckte die Kippe zwischen die Lippen und öffnete das Gartentor.

«Ein Fehler!», wiederholte ich bitter. Das hatte ich schon mal gehört. Na gut. Ich holte tief Luft.

«Okay. Wie du willst.» Ich drehte mich um und schlurfte mit hängenden Schultern Richtung Haus zurück.

«Maya …», rief er heiser. «Warte …»

Ich blieb stehen. Ich hörte, wie er zornig die Tasche gegen den Zaun schmiss und zu mir zurückkam. Ich drehte mich nicht um. Ich spürte, wie seine Arme mich von hinten griffen und fest umschlangen, wie er mich fest an seine Brust drückte und wie er seine Wange an meine Wange legte. Ich hörte seinen schweren Atem. Der Qualm seiner Zigarette drang mir in die Nase. Ich hustete. Er zog noch einmal daran und schnippte sie weg. Ich rührte mich nicht.

«Süße …» Seine Stimme klang leise und traurig.

Ich schloss die Augen. Eine Weile hielt er mich einfach fest. Ich versuchte, ruhig zu atmen. Die Muskeln seiner Arme fühlten sich hart und stark an. Dann berührte mich etwas Weiches auf meiner Wange. Samtig und kühl. Wie in meinem Traum. Mein Blut floss wie irr durch meine Adern.

Als ich mich wieder umdrehte, war er bereits durch das Gartentor gegangen.

Ich war nur noch ein verglühter Kohlehaufen, als ich zurück ins Haus ging. Meine Beine trugen mich kaum noch. Sein Kuss brannte wie Feuer auf meiner Wange.