7. Teeparty mit Mingo

Es war der Montagabend, der Nickis Lebenslichter für viele Wochen verlöschen ließ. Jener Abend, der so harmlos begann, dass ich nicht die geringste Ahnung hatte, dass er unsere beiden Leben auf dramatische Weise verändern und für lange Zeit vieles in Trümmer legen würde.

Ich hatte seit Ewigkeiten mal wieder eine sturmfreie Bude. Meine Eltern waren bei Freunden zum Dinner eingeladen. So hatte ich diese Gelegenheit gleich beim Schopf gepackt, um eine Teeparty mit meinen besten Freunden zu veranstalten. Weil mir das erst kurzfristig eingefallen war, waren wir nur zu viert. Bei Delia war dauernd besetzt gewesen, und Leon hatte am nächsten Tag eine wichtige Mathearbeit und fiel daher auch weg. Also blieben nur Patrik, Jenny, Manuela und ich.

Ich machte es uns richtig gemütlich. Zuerst verwandelte ich das ganze Zimmer in ein einziges Lichterfest mit Vanillekerzen, Lichterketten und Duftlämpchen. Dann holte ich mein Lieblings-Teeservice aus Mamas Schrank, kochte Zimt-, Orangenblüten- und Früchtetee und füllte ihn in Thermoskannen ab. Natürlich durften auch Chips, Erdnüsse und etwas Süßes nicht fehlen.

Kaum war ich fertig, klingelte es schon an der Tür. Es war natürlich Jenny, die wie immer viel zu früh war und eine ganze Tüte voll Kartenspiele anschleppte. Gleich als Erstes entledigte sie sich ihrer Schuhe (sie hasste alles, was ihre zappligen Füße einschränkte!) und tanzte mit wehendem Rock die Treppen in mein Zimmer hoch. Selbst jetzt im Winter trug sie bunte, flatternde Röcke, die ihr bis auf den Boden reichten.

Ach ja, die gute Jenny! Sie war ein Souvenir aus Sizilien. Eigentlich war sie in Berlin aufgewachsen, aber ihre Mutter hatte sie nach Sizilien zu ihrer bärbeißigen Großmutter verbannt. Doch die kleine, quirlige Jenny hatte es dort nicht lange ausgehalten und war eines Tages auf und davon. Domenico hatte sie in Catania auf der Straße aufgelesen und mit in seine WG genommen, die er mit seinen Geschwistern und ein paar anderen Kumpels in einem Abbruchhaus geteilt hatte.

Jenny hatte mir immer wieder die Abenteuerstorys aus ihrer Zeit dort unten vor Augen gemalt, hatte mir in allen Facetten beschrieben, wie sehr Domenico den sizilianischen Mädchen den Kopf verdreht hatte. Und wie cool es gewesen war, hinten auf seinem Motorrad mitzufahren, das Mingo aus Schrottteilen zusammengebastelt hatte und das erstaunlich schnell gewesen war. Jenny hatte diese rauschenden Fahrten ans Meer immer geliebt. Sie hatte dabei ihre kleinen Füße immer ganz fest um Domenicos Beine geschlungen, weil ihre eigenen Beine zu kurz gewesen waren, um die Fußrasten zu berühren. Jenny war nämlich nur einen Meter zweiundfünfzig groß oder – besser gesagt – klein.

Aber auch die ganzen Schauergeschichten von Mingos unverbesserlichen Drogenproblemen hatte sie immer wieder erzählt und wie sehr sie sich vor ihm gefürchtet hatte, wenn er in seinem Wahn mit dem Messer auf sie losgegangen war. Das war wirklich schlimm gewesen. Und obwohl ich Mingo von seiner zerbrechlichen und sanften Seite kennen gelernt hatte, konnte ich Jenny da voll verstehen. Doch die quietschlebendige Jenny war nicht immer von der feinfühligsten Sorte. So hatte sie auch oft Domenicos Zorn auf sich gezogen, wenn sie es gewagt hatte, mit ihrer neugierigen Nase zu tief in dem Revier der Zwillinge rumzuschnüffeln.

Dann, als Domenico, Mingo und Bianca sang- und klanglos nach Taormina abgehauen waren, hatten Paps und ich die verzweifelte Jenny schließlich nach Deutschland mitgenommen. Jetzt lebte sie zusammen mit zwei anderen Mädchen, die ihre besten Freundinnen geworden waren, in einer betreuten Wohngemeinschaft und schien dort ganz glücklich zu sein. Aber Jenny brauchte nicht viel, um glücklich zu sein. Nur ein paar Freunde, mit denen sie pausenlos quatschen konnte. Und die Schule. Jenny war wahrscheinlich das einzige Wesen im ganzen Universum, das gern zur Schule ging. Und obwohl sie durch einen Geburtsfehler nur eine Hand hatte, war sie meistens guter Dinge.

Doch an diesem Abend, als ich Jenny, Manuela und Patrik ausführlich von Domenicos und Mingos Rückkehr erzählte, fand Jenny keine Worte. Sie hockte wie erstarrt auf meinem Bett, total fassungslos, und ich wusste nicht, wie ich ihre Miene deuten musste. War es Freude, Staunen oder Angst? Sie pulte nachdenklich an ihren Zehen rum, deren Nägel sie giftgrün lackiert hatte. Ihr tomatenrot gefärbtes Haar loderte wie ein Feuerball um ihr kleines, spitzes Gesicht.

Erst als wir etwas später «UNO» spielten, war sie wieder ganz die Alte.

«Bin am Jewinnen, seht ihr det?», grinste sie und schob mit dem Daumen die zweitletzte Karte aus ihrem Stapel. «Auf Sizilien hamm wa so oft UNO jespielt. Nico war ooch janz jut drin! Mit dem Totenschädel konnte man ja nie wat anfangen. Der musste ja imma seenem ollen Stoff hinterherrennen.»

«Jenny», knurrte ich, «nenn Mingo nicht Totenschädel!»

«Sorry, verjess ick imma!» Jenny wurde knallrot.

«Das muss echt hart sein», sagte Manuela leise. «Wenn ich mir vorstelle, dass Frederik drogenabhängig wäre … und trotzdem. Mingo tut mir irgendwie leid.»

«Er ist eigentlich unheimlich lieb», sagte ich.

«Ja, wenn er nich grad mit dem Messer auf dich losjeht», winkte Jenny ironisch ab.

«Ich g-glaub, ich hätte z-ziemlich Angst vor ihm!», gestand Patrik leise, der bis jetzt noch nicht viel gesagt hatte. «Er muss ja zum F-fürchten aussehen, mit diesen g-ganzen Nieten und T-totenköpfen und dem Messer und so.»

«Der Typ is irre! Plemplem!» Jenny tippte sich an die Stirn.

Die Kerze auf dem Nachtschränkchen ging aus. Ich nahm das Feuerzeug und zündete sie neu an. Ein Lichtstrahl drang vom Nachbarshaus durch mein Fenster und zeichnete die Schatten des Apfelbaumes an die Wand. Es sah cool aus, fast so, als hätte jemand den Baum an die Wand gemalt. Ich überlegte, ob ich eines Tages die Schatten mit grüner Farbe nachpinseln sollte. Das hätte bestimmt ein hübsches Gemälde abgegeben. Doch den Gedanken verwarf ich sofort wieder. Das würde Paps eh nie erlauben.

Ich legte das Feuerzeug beiseite und richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf das Spiel. Und in der nächsten Sekunde schnellte mein Blick zurück auf das Schattenbild. Ich wusste nicht, wer von uns zuerst kreischte: Jenny, Manuela oder ich.

«Maya!», schrie Manuela hysterisch. «Da ist jemand! Guck nur! Jemand sitzt auf dem Baum und glotzt zu uns rein!»

Wie der Blitz war ich auf meine Füße gesprungen. Vor das Schattenbild des Baumes hatte sich eine dunkle Gestalt geschoben. Rätselhaft und schwarz.

«Pass uff! Vielleicht isset en Janove!», bibberte Jenny und kauerte sich zu einem Päckchen zusammen.

Seltsamerweise war ich eher wütend als ängstlich. Wer oder was immer da auf meinem Baum hockte – es hatte da oben nichts zu suchen! Ehe sich die Angst bei mir zu Wort melden konnte, stand ich schon am Fenster und riss es auf.

«Verschwinde von meinem Apfelb…» Die Worte blieben mir im Hals stecken. Ein verschrecktes, gepierctes Jungengesicht und glänzende Metallkrallen zeichneten eine vertraute Person.

«Mingo?», fragte ich vorsichtig.

Er hob schützend den Arm vor sein Gesicht. «Ja … sorry … geh ja gleich wieder …»

«Was machst du denn hier auf meinem Baum?»

«Nix …» Er blinzelte hinter der vorgehaltenen Hand hervor. «Wollt dir nur deinen CD-Player bringen.»

«Nimm deinen Arm weg, Mingo», sagte ich. Er gehorchte, und ich blickte in zwei ziemlich verstörte Augen.

«Was ist los mit dir?»

«Nix …» Er klammerte sich wieder am Ast fest.

«Wo ist Nicki?»

«Weiß nich …» Er robbte mühsam vorwärts und suchte Halt für seine Füße. Seine Lippen bibberten vor Kälte. Kein Wunder bei dieser dünnen Jacke!

«Vorsicht, fall nicht runter! Der Baum ist rutschig. Komm doch erst mal rein!» Ich lehnte mich ein bisschen aus dem Fenster und streckte ihm meine Hand entgegen. Mingo umklammerte meine Finger. Mit meiner Hilfe schaffte er es, auf die Fensterbank zu krabbeln und sich ächzend durch das Fenster zu schieben. Ich stützte ihn, so gut ich konnte.

«Alles klar mit dir?»

«Mir is kalt …» Völlig entkräftet schlang er seine Arme um seinen schlotternden Körper. Seine Beine klappten fast weg wie zwei dünne Streichhölzer. Aber es war nicht nur die Kälte, die ihn zum Zittern brachte. Ich sah es an seinen nervös flackernden Augen. Es war der Cold Turkey!

«Mingo, was …»

«Ey, sag mal, Maya, kannste mir nich 'ne Pumpe aus eurer Praxis besorgen?» Er bückte sich und massierte sich mit knirschenden Zähnen seine schmerzenden Oberschenkel.

«Eine was?»

«Na, 'ne Spritze, mein ich. Ich krieg meine nich mehr rein.» Er trat fieberhaft von einem Bein aufs andere und sah mich mit verdrehten Augen an. «Is kaputt, weißt du. Stumpf. Is … äh … zu, alles. Kaputt!»

«Ich weiß nicht …», sagte ich zweifelnd und versuchte, aus seinem Gestammel schlau zu werden. «Ich weiß nicht, ob ich das darf. Ich hab ja nicht mal einen Schlüssel zur Praxis. Außerdem kann ich's nicht verantworten, dir dabei zu helfen, deine Drogen zu spritzen!»

«Bitte, Maya, ich krepier sonst!»

«Ich kann nicht, Mingo!»

«Ey, was soll ich sonst tun?» Er heulte fast und hielt seine Beine fest.

«Kannst du es nicht rauchen?»

«Nee … reicht nich, hab zu wenig … bitte! Bitte, hilf mir!»

«Hör zu, Mingo, ich muss erst meinen Vater fragen. Aber der ist jetzt nicht da. Und wie gesagt, die Praxis ist abgeschlossen. Ich komme da nicht rein.» Ich suchte in seinen wirren Augen ängstlich nach einem Funken von aufkommender Aggression, doch er sah mich nur mit einer quälenden Unruhe an.

«Vielleicht kann ich sonst etwas für dich tun?», fragte ich zaghaft. «Möchtest du etwas essen? Oder …» Meine Augen glitten an ihm herab. Er war so mager, dass seine Jeans nur noch durch den Nietengürtel festgehalten wurden.

«Nee, lass mal … vielleicht … höchstens, wenn ich bei dir pennen kann heute Nacht? Weiß echt nich, wo ich sonst hin soll … Kann auch auf'm Boden pennen. Is mir egal. Einfach irgendwo. Bitte …»

«Du brauchst nicht auf dem Boden zu schlafen, wir haben ein Gästezimmer. Hör mal, Mingo, ich muss einfach erst meine Eltern fragen, ja? Sie kommen jetzt bald nach Hause. Aber sag mal, wo ist denn Nicki?»

«Weiß ich doch nich!» Er wandte sich mit einem betrübten Gesichtausdruck von mir ab und zog schniefend die Nase hoch.

«Aber du musst doch wissen, wo dein Zwillingsbruder ist?»

«Nee … wir hatten Stress. Der hat mich angebrüllt. Hat gesagt, dass ich 'n mieser Junkie sei und abhauen soll …»

Er sah mich nicht an und versuchte vergeblich, wieder auf das Fensterbrett zu klettern, doch sein geschwächter Fuß rutschte immer wieder ab. Schließlich gab er auf und ging vor meinem Fenster in die Hocke. Ich schaute zögernd auf seine zusammengekauerte, schwarze Gestalt. Das feuchte kupferfarbene Haar klebte an seiner Stirn und auf seiner Nase.

Ich warf meinen Freunden, die das Szenario mit angespannten Mienen verfolgten, einen hilfesuchenden Blick zu, doch ich fand nichts in ihren verängstigten Augen, das mir weiterhelfen konnte. Das hier war mal wieder ganz allein mein Ding! Doch ich hatte keine Ahnung, wie man mit einem Drogensüchtigen umgehen musste, der auf Turkey war.

Ich seufzte, schloss die Augen, öffnete sie wieder und versuchte mich zu erinnern, wie ich es damals auf Sizilien gemacht hatte. Schließlich ließ ich mich vorsichtig neben Mingo nieder und berührte mit meinen Fingern den weichen Stoff seiner Jacke, während ich zu erfassen versuchte, was er vorhin gestammelt hatte. Hatte Nicki Mingo wirklich einen miesen Junkie genannt? Das wollte ich echt nicht glauben …

Mingo spürte, dass ich ihn berührte, und hob seinen Kopf. Wir sahen uns in die Augen, ich in seine blaugrauen, die verschwommen im matten Kerzenlicht glänzten und immer wieder unkontrolliert wegzuckten, er in meine braunen, die sich glänzend feucht anfühlten. Ich wusste nicht, dass ich seine Augen an diesem Abend zum letzten Mal sehen würde.

«Komm, Mingo», sagte ich leise, stand auf und fasste ihn behutsam am Ärmel. «Möchtest du dich zu uns setzen? Mit uns eine Tasse Tee trinken? Ich kann dir auch eine Wolldecke bringen. Vielleicht hilft dir das ein bisschen, bis meine Eltern kommen.»

Er versuchte seine zuckenden Augen zur Ruhe zu bringen, indem er sie fest auf den Boden richtete, und ich schaffte es, ihn am Arm zu packen und auf die Beine zu ziehen. Vermutlich hatte er seine letzten Kräfte aufgebracht, um auf meinen Apfelbaum zu klettern.

Ich konnte jetzt nicht mehr auf Ängstlichkeiten Rücksicht nehmen, als ich Mingo langsam am Arm zum Bett führte, wo meine Freunde auf dem Boden kauerten. Sie rutschten furchtsam zur Seite, als er sich mit seinen schwarzen Punkklamotten zwischen ihnen niederließ. Sein verqualmter Geruch vertrieb den süßen Vanilleduft meiner Kerzen.

Ich nahm meine leere Tasse, füllte sie mit Zimttee und drückte sie ihm vorsichtig in seine verkrampften Hände.

«Hier. Trink das.»

Er schaute die Tasse mit bebenden Lippen an, als wüsste er nicht recht, was er damit anfangen sollte. Ich half ihm, sie an seine Lippen zu setzen, weil er sonst vermutlich alles verschüttet hätte. Schließlich kostete er einen kleinen Schluck von dem Tee. Und dann noch einen. Langsam trank er die Tasse Schluck für Schluck leer.

Ich beobachtete ihn aufmerksam und sah, wie sich das Flackern in seinen Augen ein wenig beruhigte. Dann stand ich nochmals auf und ging zu meiner Truhe, um eine Wolldecke zu holen. Als ich zurückkam, war Manuela vorsichtig etwas näher an Mingo herangerutscht. Die gute Manu! Sie ließ sich nicht so schnell einschüchtern. Jenny hingegen bibberte wie eine verängstigte Katze und hatte in Patriks Nähe Schutz gesucht.

Ich brachte Mingo die Wolldecke, und er schlang sie sich fest um seine Beine und legte seinen Kopf auf die Knie. Manuela füllte seine Tasse erneut mit Tee und hielt sie ihm entgegen.

«Da. Möchtest du noch Tee?»

Mingo schüttelte matt den Kopf.

«Hey Mingo, das ist übrigens Manuela, eines der Mädchen, die dir den Brief geschrieben haben», sagte ich, als ich mich wieder zu ihm setzte. «Kannst du dich erinnern?»

Mingo schaute auf und musterte sie mit einer gewissen Neugier, trotz seiner Krämpfe. Manuela schenkte ihm ein kleines Lächeln. Er zog sich frierend zusammen.

«Ist dir denn so kalt?», fragte sie erstaunt.

«Es ist nicht nur die Kälte, Manuela», erklärte ich leise.

«Verstehe», murmelte sie. «Das muss schlimm sein!»

«Is voll Kacke!», stöhnte Mingo und legte den Kopf wieder auf seine Knie. Die Kerzen flackerten still vor sich hin und warfen tanzende Schatten auf ihn. Ich suchte mit meinen Augen sein Gesicht nach denselben winzigen Sommersprossen ab, wie Domenico sie hatte, aber ich konnte keine erkennen.

Ich war froh, als Manuela das Gespräch übernahm, weil mir das Ganze viel zu nah ging, um etwas Vernünftiges über die Lippen zu bringen. Sie beugte sich ein wenig über Mingo.

«Ähm … sag mal, stört es dich, wenn ich dich was frage?»

«Nee …» Er hob seinen Kopf wieder und rutschte unruhig herum. «Was willste denn wissen? Wie beknackt es is, auf Drogen zu sein?»

«Wieso du das machst. Wieso du dich so vergiftest. Du hättest es doch echt nicht nötig. Du siehst so gut aus!» Ihre Wangen überzogen sich mit einem leicht rosa Hauch.

«Ey komm!» Er ließ den Kopf wieder auf seine Knie fallen und zitterte weiter. «Fasel doch keinen Stuss zusammen. Bin 'ne Leiche. Sieht man doch, oder? Nic hat wegen mir in Italien 'ne Tankstelle überfallen. Weil ich das Zeug halt dringend brauchte. Er besorgt mir meistens die Kohle. Damit ich nich anschaffen geh. Das will er nich, hat er gesagt. Dass ich anschaffen geh. Nee, nur das nich!»

«Kannst du denn nicht einfach mit den Drogen aufhören? Eine Therapie machen?» Manuela sah ihn aufmerksam an. Ach, sie hatte ja keine Ahnung!

«Mach ich ja. Drum wollte Nic ja zurückkommen. Hat 'n Auto geknackt. Aber in Rom hat die Kohle nich mehr fürs Benzin gereicht. War so bescheuert, alles. War voll auf Turkey. Entzug, verstehst du? Weil wir keine Kohle mehr hatten. Ist der absolute Schrott, auf Turkey zu sein. Bin fast kaputtgegangen.»

«Krank!», flüsterte Jenny zu Patrik und tippte sich an die Stirn. «Die zwee sind echt voll krank!»

Mingo hatte sich wieder aufgerichtet. Er rieb sich den schmerzenden Rücken und verzog sein Gesicht.

«Mist, Maya, haste nich 'n Schmerzmittel oder so?»

«Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was ich dir da geben müsste, Mingo. Mama weiß es besser!»

«Ist doch krass egal. Einfach irgendwas. Ich krepier sonst! Bitte, ey!»

«Maya, jib ihm besser nix», wisperte Jenny eindringlich. «Der dröhnt sich sonst voll zu mit dem Zeug!»

«Außerdem komm ich da auch nicht ran», fiel mir gerade ein. «Der Schrank ist abgeschlossen. Meine Eltern schließen immer alle Medikamente ein.»

Doch da warf Mingo einfach die Decke weg und sprang abrupt auf die Füße. «Ey, ich kann das öffnen!», sagte er hektisch. «Ich kann alles öffnen! Wo isses? Zeigst du es mir?»

«Nein!» Ich stand ebenfalls auf und stellte mich ihm in den Weg. «Ich krieg sonst Ärger!»

«Maya, pass oof!», warnte Jenny.

Mingo stieß mich einfach zur Seite und hastete zur Tür. Dann drehte er sich wieder um und sah mich an. Ließ seine Schultern hängen und kam zu mir zurückgeschlurft.

«Ey, ich halt's nich mehr aus!», heulte er. «Kannst du mir wirklich nich 'ne Pumpe geben?»

«Meine Eltern kommen ja bald, Mingo», sagte ich und versuchte, ruhig zu bleiben. Hoffentlich stimmte das, was ich sagte. Mama hatte mir jedenfalls versprochen, dass sie um zehn Uhr dort losfahren würden. Und es war kurz nach zehn.

Mingo schluchzte auf und wischte sich über die Nase. Dann kam er einfach zu mir und legte seinen Kopf auf meine Schulter. Etwas zaghaft versuchte ich ihn zu halten, doch seine geschwächten Beine sackten einfach zusammen, und er riss uns beide zu Boden.

«Mist!», brüllte er und vergrub sein Gesicht in meinem Hals. «Ich krepiere, ey! Ich krepier voll!»

«Nein. Du krepierst nicht.»

Ich richtete ihn vorsichtig wieder auf und sah ihm in die Augen. Seine Augen starrten durch mich hindurch wie zwei tote, schwarze Murmeln. Es war richtig unheimlich. Der winzige Totenkopf, der an seinem untersten Ohrring baumelte, grinste mich fies an. Wieso packte mich auf einmal diese nackte, kalte Furcht?

«Mingo, halt durch!», flehte ich. «Meine Eltern kommen bald.» Ich graste fieberhaft meine Gedanken nach einer guten Idee ab, nach etwas, womit ich ihn ablenken konnte.

«Soll ich dir was aus der Bibel vorlesen?», fragte ich schließlich, weil es das Erstbeste war, das mir einfiel. «Das magst du doch, oder? Nicki hat dir doch auch immer vorgelesen!»

Irgendwie schaffte ich es, Mingo wieder auf die Beine und zum Bett zurück zu ziehen. Hoffentlich kamen meine Eltern pünktlich! Allzu lange konnte ich ihn nicht mehr hinhalten, das wusste ich. Ich öffnete mein Nachtschränkchen und holte die Bibel heraus. Manuela, Jenny und Patrik beobachteten mich stumm. Ich öffnete das Buch und blätterte ein wenig darin herum. Mingo drückte sich dicht an mich. Ich spürte, wie hart und angespannt seine Muskeln waren. Wie sie zitterten und sich verkrampften. Schließlich hatte ich die Psalmen gefunden.

«Magst du die Psalmen?», fragte ich.

«Weiß ich doch nich. Kann eh nich lesen …»

«Ich meine, hat Nicki sie dir nie vorgelesen?»

«Keine Ahnung. Lies einfach!» Er knirschte gequält mit den Zähnen.

Ich griff auf mein Nachtschränkchen und rückte die Kerze etwas zurecht, damit ich besser sehen konnte. Mingos Augen glänzten fiebrig im gelben Licht. Ich konnte seinen warmen Atem auf meiner Wange fühlen.

Und ich begann zu lesen: «Denn du hast meine Nieren bereitet und hast mich gebildet im Mutterleibe. Ich danke dir dafür, dass ich wunderbar gemacht bin; wunderbar sind deine Werke; das erkennt meine Seele …»

Ich stockte, als ich fühlte, wie Mingo sich ein wenig zur Seite rollte und seinen Kopf einfach auf meinen Halsausschnitt sinken ließ. Ich strich ihm das verklebte Haar aus dem Gesicht, das sich von der Feuchtigkeit ein wenig ringelte, um zu sehen, was in seinen Augen abging. Seine Lider zuckten unruhig. Dann nahm ich das Buch und las weiter:

«Deine Augen sahen mich, als ich noch nicht bereitet war, und alle Tage waren in dein Buch geschrieben, die noch werden sollten und von denen keiner da war …»

Ich fühlte, wie kalter Schweiß von seiner Stirn tropfte und in meinen Halsausschnitt fiel. Ich kramte in meiner offenen Schublade nach einem Taschentuch, doch ich fand keins. Manuela sah es und reichte mir eins von ihren. Ich nahm es und tupfte Mingo vorsichtig die Stirn trocken. Aber dann sah ich, dass nicht nur seine Stirn feucht war. Auch seine Augen und Wangen waren feucht. Etwas Glänzendes hing in seinen Wimpern. Und dann kapierte ich, dass es nicht nur Schweißtropfen waren.

«Mingo, weinst du?»

«Quatsch …» Er biss fest auf die Zähne.

«Doch!» Ich wischte ihm behutsam über die Wimpern und hielt ihm meinen Finger vor die Augen. «Sieh mal. Eine Träne.»

Mingo versuchte, seine Augen auf meinen Finger zu richten, doch er schaffte es nicht. Seine Pupillen kreuzten sich irgendwie. Schließlich schnellte er mit einem Ruck hoch und hielt seinen Kopf fest, als müsste er sich wieder zur Besinnung bringen. Und in der nächsten Sekunde war er schon wieder auf seinen unruhigen Beinen und hinkte zur Tür.

«Mist, ey! Ich kann echt nich mehr. Ich knall mir das Ding jetzt in den Hals! Is mir krass egal! Aber ich krepier sonst!»

«Nein!» Ich rannte ihm hinterher und zog ihn am Arm.

«Lass mich!», brüllte er und packte die Türklinke.

«Warte!»

«Lass ihn lieba, Maya!» Jenny war aufgesprungen und zerrte mich an der Hand ein Stück von Mingo weg. «Der rastet sonst noch total aus. Der demoliert dir det Zimmer. Gloob mir. Ick hab jenug jesehen!»

«Aber er kann sich doch die Spritze nicht mit einer stumpfen Nadel in den Hals setzen! Das ist doch total gefährlich!»

«Meinste, der macht det zum ersten Mal?»

Mein Blick raste zwischen Jenny und Mingo hin und her. Es war klar, Jenny wusste, wovon sie sprach. Mingo lehnte sich zusammengekrümmt an die Tür. Er konnte wirklich kaum noch stehen. Ich hatte wohl keine andere Wahl mehr.

Ich schaute auf die Uhr. Ich überlegte, meine Eltern doch anzurufen, doch ich wusste, dass es keinen Zweck hatte. Sie konnten schließlich nicht schneller fahren, als erlaubt war. Außerdem hatte Paps alle Schlüssel zur Praxis bei sich. Ich hätte also nicht mal dann eine Chance, dort hineinzugelangen, wenn Paps es mir erlauben würde. Und Mingo war nahe daran, durchzudrehen. Er würde bald alles kurz und klein hauen hier.

«Also komm!» Ich schob ihn kurzerhand zur Tür raus und zeigte ihm das Klo. «Aber bitte mach mir nichts kaputt, okay? Und schließ die Tür von innen nicht ab!»

Mingo verschwand in der Toilette. Erschöpft lehnte ich mich an die Wand und merkte, wie auch mir der Schweiß von der Stirn tropfte. Kein Wunder, dass Domenico manchmal so fertig war! Manuela, Jenny und Patrik gesellten sich schweigend zu mir. Patrik sah ganz bedrückt aus.

«K-kann man dem überhaupt noch helfen?», fragte Patrik schließlich, nachdem wir eine ganze Weile gewartet hatten.

«Vergiss et! Bei dem seenem kaputtjedröhnten Hirn is doch eh Hopfen und Malz verloren», winkte Jenny ab.

Ich legte mein Ohr an die Tür. Es war ganz still. Ich hatte wahnsinnig Panik.

«Mingo? Bist du bald fertig?»

Ich hörte nur ein leises Stöhnen und zwischendurch italienisches Gemurmel.

«Maya, lass ihn!», zischte Jenny. «Den kriste eh nich raus, bevor er sich den Schuss nich rinjedrückt hat!»

«Wenn er bloß nicht zusammenbricht!», jammerte ich und lauschte noch angestrengter. «Mingo? Ist alles klar?»

«Gleich …», hörte ich sein schwaches Murmeln. Ich schaute auf die Uhr. Er war schon fast seit zehn Minuten da drin. Und meine Eltern waren immer noch nicht da. Langsam schnürte die Panik mir regelrecht die Kehle zu.

Als Mingo rauskam, torkelte er mit schweren Augenlidern und hängenden Armen an uns vorbei ins Zimmer. Dort ließ er sich vor meinem Bett wieder auf den Boden fallen, nicht ohne die volle Teetasse umzuschmeißen. Er merkte es nicht mal.

«Mingo!»

«Was?» Er blickte träge zu mir hoch. Seine Pupillen hatten sich zu winzigen Stecknadeln zusammengezogen. Sie sahen irre aus. Voll weggetreten. «Mann, war das 'n Flash … ey Mist … muss los … muss noch was erledigen …»

«Aber du wolltest doch hier übernachten?» Mit Entsetzen fiel mein Blick auf die dünne Blutspur an seinem Hals.

«Nee, lass mal …» Sein Kopf kippte schwer nach vorne, doch nur für einen Moment, dann rappelte er sich mühsam auf und wandte sich mit schlaftrunkenem Blick Richtung Fenster.

«Aber du bist doch voll zu! Du kannst doch so nicht gehen!»

«Ach, Maya, lass ihn», sagte Jenny hinter mir. «Der wird schon wieder. Stolpert doch imma zujeknallt durch die Jejend. Lass ihn lieba jehn!»

Ich schaute Jenny unsicher an. Dann rannte ich Mingo hinterher, der versuchte, auf den Fenstersims zu klettern.

«Nicht da raus, Mingo, ich bring dich besser zur Tür. Okay? Außerdem ist der Baum rutschig.»

Er ließ sich widerstandslos von mir ziehen. Seine Augenlider fielen einfach zu. Mir war überhaupt nicht wohl bei dem Gedanken, ihn einfach so gehen zu lassen.

«He, schlaf nicht ein!» Ich schüttelte ihn. Manuela wartete an der Tür auf uns. Sie trat zur Seite, um uns durchzulassen.

«Ciao, Mingo», sagte sie bebend. «Pass auf dich auf!»

Mingo hob träge seinen Kopf. «Du auch … äh …»

«Manuela!», half sie.

«Du auch, Manu…» Er versuchte sie anzusehen, doch seine Augen kippten zur Seite. «Ey, und nimm nie Drogen. Is voll Kacke. Die machen dich übelst fertig! Siehst du ja.»

Schweigend zog ich Mingo mit mir die Treppe runter. Auf der untersten Stufe ließ ich seine Hand los.

«Setz dich hierhin, ich hol schnell was.»

Er gehorchte widerstandslos und dämmerte weiter vor sich hin, während ich ins Schlafzimmer meiner Eltern raste und einen alten dunkelgrünen Wollpullover von Paps aus dem Schrank zerrte, von dem ich wusste, dass er ihn selten trug.

«Hier!», sagte ich zu Mingo, als ich wieder bei ihm war. «Zieh das an. Nicht, dass du noch erfrierst draußen!»

Er hob seinen Kopf und öffnete die Augen wieder. Ich musste ihm bei dem ganzen Prozedere helfen, den Pullover unter seine Jacke anzuziehen.

«Danke», murmelte Mingo matt und ließ den Kopf wieder zur Seite hängen. Dann schob er schwerfällig seine Hand in seine Jackentasche und zog meinen CD-Player heraus.

«Bevor ich's vergesse … dein CD-Player. Hab ihn für dich repariert! Läuft jetzt wieder.»

«Ehrlich?» Ich ließ mich neben Mingo auf der Treppenstufe nieder. «Wie hast du das gemacht?»

Er brauchte eine Weile, bis er es schaffte zu antworten.

«Nich so schwierig. Hat bloß 'n Teil gefehlt …» Seine Augen fielen erneut zu.

Ungläubig drückte ich die Play-Taste und ließ das Gerät vor Überraschung und Schreck beinahe fallen, als kreischende Heavy-Metal-Beats durch den Kopfhörer dröhnten. Der krasse Sound weckte Mingo wieder aus dem Dämmerzustand.

«Voll psychomäßig, was?», grinste er träge. «Haut dir fast das Hirn aus'm Schädel, wenn du auf Drogen bist.»

«Aber das ist doch voll krank!»

«Isses auch. Aber da is das schöne Lied drauf. Wollte ich dir schenken. Damit du 'n Andenken an mich hast.»

«Andenken?»

Mingo sah schon wieder aus, als sei er eingeschlafen.

«Hey!» Ich stupste ihn sanft an. «Warum Andenken?»

«Nur so … Wenn wir wieder in Sizilien sind.»

Ich schwieg. Ich wusste nicht, warum ich auf einmal so traurig war. Als würde eine eiskalte Hand nach meinem Herzen greifen. Schließlich riss Mingo sich zusammen und zog sich am Treppengeländer auf die Beine. Er schwankte ein bisschen. Ich stand ebenfalls auf und begleitete ihn den letzten Weg bis zur Haustür.

«Ach ja, muss dir noch was sagen …»

«Ja?» Ich schaute ihn gespannt an. Seine Pupillen tauchten schon wieder weg.

«Mein Bruder is voll krank in dich verknallt!»

Diese Worte ließen mich fast gegen die Wand prallen. Mein Herz raste mit einer unwahrscheinlichen Geschwindigkeit.

«Ist das wirklich wahr, Mingo?»

«Mhmm. Träumt jede Nacht von dir.» Er schob sich gedankenverloren eine Zigarette in den Mundwinkel, die er jedoch nicht anzündete. «Hör ihn immer rumfaseln. Seit du von Sizilien weggegangen bist, hat er total rumgesponnen. Is echt beknackt manchmal, der Typ. Wollte wegen dir zurück, glaub ich. Geht ihm voll mies, weißt du. Hat doch diese Schmerzen in der Lunge. Gibt er ja nich zu. Sag ihm ja dauernd, er soll mal zum Arzt gehen! Hat das alles nich verdient. Er is so krass in Ordnung. Ich würd jeden abstechen, der ihm wehtut, das schwör ich dir. Jeden!»

Das war eine lange Rede gewesen für jemanden, der so zugedröhnt war wie Mingo. Meine Hand wollte mir kaum gehorchen, als ich die Haustür öffnete. Mingo schien schon wieder einen Aussetzer zu haben. Ich schüttelte ihn sanft, um ihn wieder aus seiner Trance zu wecken.

«Du, Maya … hab übrigens jetzt 'ne Freundin …», murmelte er wie aus heiterem Himmel.

«Du hast was?» Ich kam nicht ganz mit. Mingo eine Freundin? Fantasierte er jetzt da irgendwas zusammen?

«Hab mit ihr geschlafen. Hab's Nic nich erzählt. Weil ich weiß, dass es beknackt war! Voll daneben.»

Die Zigarette fiel von seinen Lippen. Er merkte es nicht. Ich versuchte ihm in die Augen zu schauen, aber sein Blick war so verschleiert, dass ich es kaum schaffte. Sein Kopf kippte wieder nach unten, und er legte seine Stirn schließlich einfach auf meine Schulter.

«Geht's?» Ich versuchte, ihn zu stützen.

«Mhmm. Sag mal, Maya, kannst du nich für mich beten, dass dieser Jesus macht, dass ich in den Himmel komm, wenn ich sterbe?», murmelte er in meine Schulter.

«Du bist doch immer in meinen Gedanken», sagte ich, erstaunt über diese plötzliche Frage. «Ich bete ja schon lange für dich. Aber weißt du, du kannst auch selber beten. Genau so, wie du mit mir auch redest. Gott hört dir auch zu!»

«Mir? Echt?»

«Klar. Aber du darfst nicht sterben, Mingo, hörst du?»

«Weiß nich. Will ja nich sterben. Glaub aber schon, dass ich bald abtrete … komm eh nich mehr weg. Der Arzt hat ja gesagt, dass ich keine achtzehn werde. Das Zeug bringt mich um …»

Ich hörte auf zu fragen, warum er denn damit nicht einfach Schluss machte. Mir war klar, dass hier jeglicher Menschenverstand und jegliche Logik versagten. Süchtig zu sein war etwas, was man weder mit Verstand noch mit Logik nachvollziehen konnte.

«Ach, Mingo …», seufzte ich nur. Ich hatte auf einmal das ganz seltsame Bedürfnis, ihn fest in den Arm zu nehmen. Ihn an mich zu drücken und ihm auch ein bisschen übers Haar zu streicheln. Mingo vergrub den Kopf noch mehr in meiner Schulter und umklammerte mich mit seinen genieteten Handgelenken. Ich konnte spüren, wie sein Herz klopfte.

«Weißt du, Maya, ich hätt gern so 'ne Schwester wie dich …», schniefte er. «Du bist immer voll lieb zu mir!»

«Mach ich doch gern!» Mehr konnte ich ja eh nicht tun.

«Weißt du, ich glaub schon, dass es so was gibt, was wir nich sehen … so 'nen Gott oder so. Hab auf meinen Drogentrips manchmal so krasse Sachen erlebt. Hab komische Dinge gesehen, die man sonst nich sieht. Aber es war nie gut … aber ich glaub, Gott würde sich doch gut anfühlen, oder?»

«Ja, bestimmt!» Eine Weile standen wir einfach da und hielten uns fest, und ich versuchte, in meinem Kopf ein leises Gebet für ihn zu sprechen.

«Du Mingo, möchtest du nicht doch dableiben? Du kannst ja echt kaum noch gerade stehen», fragte ich schließlich besorgt.

«Nee, geht schon. Krieg ich schon hin.» Er löste sich von mir und wankte die Außentreppe runter.

«Aber was ist, wenn du unterwegs zusammenklappst?»

«Mach ich schon nich», beruhigte er mich. «Muss jetzt echt dringend los. Muss Nic finden.»

Ich schaute ihn seufzend an. Ich hatte absolut kein gutes Gefühl dabei. Aber ich konnte nichts machen, wenn er keine Hilfe annehmen wollte.

«Pass bitte einfach auf dich auf, Mingo.»

«Du auch … Hab dich voll lieb, Maya!»

«Ich hab dich auch echt lieb», sagte ich, und das meinte ich auch so. «Und Nicki hat dich auch lieb! Ach ja, und … Gott auch, übrigens!»

Da glitt ein kleines Lächeln über sein Gesicht. Die Grübchen erschienen auf seinen Wangen. Zum letzten Mal. Aber das wusste ich nicht.

Schweren Herzens schaute ich ihm nach, wie er mit schlurfenden Schritten den dunklen Garten durchquerte. Ein leichter Wind wehte mir ums Haar. Ich wollte weinen und schreien und ihm hinterherrennen, doch ich war wie gelähmt.

Ich stand immer noch an der Haustür, als das Auto meiner Eltern mit knirschenden Reifen um die Ecke gebogen kam. Ich rührte mich auch nicht von der Stelle, als meine Eltern ausstiegen und mich mit fragenden Gesichtern anblickten.

«Maya, was machst du hier draußen?», fragte Mama besorgt.

«Mingo hat sich auf meiner Toilette einen Schuss gesetzt», kam es tonlos aus mir heraus.

«Warum hast du uns denn nicht angerufen?», fragte Paps entsetzt.

«Ich … ich dachte, ihr seid eh längst auf dem Heimweg! Und ich konnte ihn nicht mehr hindern … er war so fertig.»

«Ja, es tut uns leid, es ist ein wenig später geworden. Ist Mingo denn noch da?», wollte Mama wissen.

«Nein, er ist vorhin gegangen.»

Wir gingen ins Haus, und ich stürmte so schnell ich konnte die Treppe wieder hoch. Oben wurde ich von meinen aufgewühlten Freunden in Empfang genommen. Jenny zerrte mich aufgeregt am Arm in die Toilette.

«Maya! Kiek ma, wat der jemacht hat!»

Mich traf fast der Schlag. Das Waschbecken war voller Blutgerinnsel. Und nicht nur das Waschbecken, auch am Boden und auf dem Teppich waren Blutspritzer.

«Der Typ hat doch überhaupt keene Peilung mehr!», schimpfte Jenny. «Der is sowat von irre im Schädel!»

«Mir tut er leid», murmelte Manuela, die sich zu uns gesellt hatte, mit hochrotem Kopf.

«Leid?» Jenny sah Manuela an, als hätte sie nicht mehr alle Tassen im Schrank. «Der is doch selba schuld! Der is sowat von eklig! Haste dem seine Zähne jesehen? Die sind janz schwarz! Der putzt sie ja ooch nie!»

Patrik war der Einzige, der dazu schwieg. Seufzend riss ich eine Menge Klopapier von der Rolle und fing an, das eingetrocknete Blut aufzuwischen.

Etwas später, nachdem meine Freunde nach Hause gegangen waren, saß ich unten bei meinen Eltern in der Küche und berichtete ihnen, was passiert war. Und auch von meiner großen Sorge, dass Mingo unterwegs zusammenklappen würde.

«Nun, dann gehen wir ihn eben suchen!», entschied Paps schließlich, als es auf einmal an der Haustür Sturm klingelte.

«Wer ist denn das jetzt noch?», fragte Mama und spähte aus dem Küchenfenster. «Moment mal, ist das nicht Mingo?»

Ich raste sofort zur Haustür und riss sie auf. Eine dunkle, halb erfrorene Gestalt mit hochgezogener Kapuze und zerfetzten Jeans stand draußen.

«Mingo?»

Er zog die Kapuze runter und spießte mich mit angsterfüllten Augen auf. Seine Lippen waren ganz blau vor Kälte. Da erst sah ich seine geschwollene linke Gesichtshälfte. Das war ja gar nicht Mingo!

«Nicki?»

«Maya, ist Mingo bei dir?» Seine Stimme bebte.

«Er war da, ja. Er ist vorhin gegangen.»

«Wo ist er hin? Ich muss ihn finden! Sofort! Ey, ich such ihn seit fast zwei Stunden!» Pure Panik schwang in seiner Stimme.

«Was ist passiert?»

«Er ist abgehauen. Hat mir Geld geklaut und ist einfach abgehauen! Und ich …» Er lehnte sich keuchend gegen die Hausmauer. Seine Lunge schien kurz vor dem Zerbersten zu sein. Ich hatte ihn noch nie so keuchen gehört. Es war, als wäre er meilenweit gerannt.

«Mingo hat mir gesagt, ihr hättet Streit gehabt. Und dass du ihn weggeschickt und einen miesen Junkie genannt hättest. Ist das wahr, Nicki?», fragte ich mit leichtem Vorwurf.

Er schloss erschöpft die Augen und presste die Hand auf die Brust. Als er die Augen ein paar Sekunden später wieder öffnete, war sein Blick ganz schwarz.

«Ja, wir hatten Stress. Es stimmt, ich hab zu ihm Dinge gesagt, die mir mega leidtun.» Seine Stimme versagte, und er brach in heftige Schluchzer aus. Total entkräftet ließ er sich an der Hausmauer entlang zu Boden sinken.

«Aber warum sagst du ihm denn so was? Du weißt doch, dass ihm das wehtut», rief ich heftig.

«Klar weiß ich das!» Verzweifelte Tränen schossen in seine Augen. «Ich wollte das ja auch nicht. Ich würd ihm doch niemals wehtun wollen! Aber ich war selber so fertig.»

Jetzt heulte er richtig los. Meine Eltern waren hinter mir an die Türschwelle getreten.

«Was ist denn los, Domenico?», wollte Paps wissen.

«Alles. Bin einfach am Ende», weinte Domenico und ließ seinen Kopf hängen. Und dann fing er endlich an, sein Herz auszuschütten.

«Hab keine Kraft mehr. Ihr könnt euch das nicht vorstellen! Ey, ständig muss ich seinen Mist ausbaden. Dabei geb ich ihm doch alles, was ich hab. Sogar mein letztes Hemd, wenn's sein muss. Ich hungere manchmal tagelang, damit ich ihm das Geld für Drogen geben kann. Oder ich zerreiß meine Klamotten, damit sie wenigstens 'n bisschen cool aussehen, weil ich mir nie was Richtiges leisten kann. Ich geb ihm wirklich alles! Und er? Was macht er? Klaut mir die ganze Kohle, die ich mühsam für die Notschlafstelle zusammengeschnorrt hab, und haut einfach ab damit. So was tut echt weh! Es tut weh, wenn dein eigener Bruder dich beklaut und dann auch noch anlügt.»

Er schöpfte kurz Atem. Mir war ganz schwindlig. Wenn Nicki uns so sein Herz ausschüttete, dann bedeutete das, dass er wirklich am Ende sein musste.

«Mike hat uns auch rausgeschmissen», fuhr er nicht weniger verzweifelt fort. «Mingo hat dem seine Stereoanlage komplett auseinandergenommen. Weiß echt nicht, was das sollte. Mike ist ausgerastet. Der hat rumgetobt und uns was weiß ich alles angedroht. Aber das ist ja jetzt egal. Ich muss Mingo finden. Unbedingt! Hab voll Panik, dass er sich von diesem Stoff gekauft hat, der da seit kurzem in der Szene rumgeistert!»

«Was denn für Stoff?», fragte ich atemlos.

«Stoff aus Afghanistan. Ey, diesen Kanaken hat's doch echt ins Hirn geschrotet. Ich hab die fertiggemacht, als ich das gehört hab. Ich hab denen eine geballert, das könnt ihr mir glauben! Oh Mann … Mingo … er ist in Gefahr! Ich spür das!»

«Was ist mit dem Stoff nicht in Ordnung?», fragte Paps.

«Zu reines Heroin. Die müssen vergessen haben, es zu strecken. Oder sie haben's mit Absicht getan. Ey, Mingo hat doch keinen Peil davon. Wenn er sich das in die Venen jagt … Mann, ich muss ihn finden, bevor er sich den Schuss reinknallt!»

Gedanken jagten wie irre Blitze durch meinen Verstand. Mingo finden, bevor er sich den Schuss reinknallt … aber er hatte sich den Schuss ja bereits reingeknallt! Entsetzt und kreidebleich tauschte ich einen Blick mit meinen Eltern.

Sie wussten Bescheid. Mingo war in Gefahr. Wir mussten ihn finden. Und zwar so schnell wie möglich!

Fünf Minuten später saßen Domenico und ich mit Paps im Auto, und dann ging die Suche los.

Wir suchten. Fuhren wie irre umher. Durch unheimliche, dunkle, einsame Straßen. Stundenlang. Fragten Leute, ob sie einen Jungen mit schwarzen Punkklamotten gesehen hätten. Fragten am Bahnhof. Am Parkeingang. Klingelten an Haustüren. Bei Bekannten von Domenico. Bekamen Hinweise. Jemand erzählte was von einer Carrie. Fuhren von neuem los. Redeten kaum ein Wort. Suchten, hofften, schauten, bebten, froren, beteten. Und gaben nicht auf.

Wir fanden Mingo in einer der Sozialwohnungen am hinteren Ende des Parks. Er lag bewusstlos im Wohnzimmer am Boden. Neben ihm kauerte ein in Tränen aufgelöstes Punk-Mädchen mit blauschwarzer Stachelfrisur und schüttelte ihn verzweifelt. Ein anderes Mädchen mit roten Stacheln saß daneben und hielt eine Wodkaflasche im Arm. Eine monotone Stimme schnarrte aus einem Fernseher. Ein winselnder, dreckigweißer Hund jaulte in einer Ecke.

Paps handelte schnell. Hob Mingo auf und trug ihn auf seinen Armen auf das mit weißen Hundehaaren übersäte Sofa. Versuchte ihn zu beatmen. Telefonierte. Beatmete wieder. Schüttelte ihn. Beatmete.

Der üble Geruch nach feuchtem Hundefell und Zigarettenasche nebelte meine Sinne ein. Ich sah alles nur noch wie in einem Film ablaufen. Einem Film, der nicht Wirklichkeit war. Sah Domenico, der zusammengebrochen auf dem Boden kauerte und seine Augen panisch an Paps und Mingo festkrallte. Hörte die hysterischen Schluchzer des Punk-Mädchens. Sah, wie der kleine Hund gestört durch die Wohnung düste. Lauter hektische Bilder, die wie Irrlichter vor meinen Augen tanzten.

Schließlich riss der Film.

Dann ein markerschütternder Schrei, der alles zerriss. Die Luft. Das Zimmer. Den Qualm. Die Kälte. Und mein Herz. Er klingt noch heute in meinen Ohren. Schmerzhafter als jede Wunde. Lauter als ein Donner. Verzweifelter als der tiefste Abgrund.

«Du stirbst nicht, Bruder!», brüllte Domenico und schüttelte Mingo mit aller Kraft, umarmte ihn, drückte ihn fest an seine Brust. Weinte und schrie. «Ich liebe dich doch! Wenn du stirbst, dann werde ich auch sterben!»

Und dann hörte ich Worte. Seltsame Worte, die über Nickis Lippen kamen. Die er stammelnd und weinend aussprach und die klangen, als wären sie seit Ewigkeiten nicht mehr gesprochen worden. Erst viel später erfuhr ich, dass eineiige Zwillinge die Eigenart haben, in früher Kindheit eine eigene Fantasiesprache zu entwickeln. Nicki und Mingo waren eins. Von Geburt an. Jeder ein Teil des anderen. Nur der Tod würde sie entzweien.

Und wieder Filmriss.

Sirenen heulten. Plötzlich waren Polizisten da. Und ein Krankenwagen. Ganz viele Leute waren auf einmal da. Und meine Mutter war auch da. Alle wollten wissen, was passiert war. Wie. Wann. Wo. Was.

Und noch mal Filmriss.

Schreien. Brüllen. Ein Hocker, der mit voller Kraft gegen die Flimmerkiste geschleudert wurde. Funken und Blitze, die das Gerät augenblicklich zur Ruhe brachten. Dann Domenico, der von Polizisten festgehalten und an die Wand gedrückt wurde. Mingo, der auf der Trage lag. Blass und weiß. Zugedeckt wurde. Die Augen geschlossen. Dasselbe Gesicht wie das von Nicki. Dieselben Wangenknochen, dieselben Lippen, dieselben Augen. Und dieselben winzigen, zarten Sommersprossen.

Und dann riss der Film endgültig, und ab hier erinnere ich mich nicht mehr an viel. Ich erinnere mich an den düsteren Warteraum, in dem wir saßen, der nur von spärlichem Licht beleuchtet war. Ich erinnere mich an den hässlichen sterilen Geruch nach Bohnerwachs, der in meine Nase stach und mich zum Niesen brachte, an eine Glühbirne, die mich grausam blendete, und dann, wie ich auf einmal ohnmächtig wurde. Wie ich später auf einem Bett lag und wie mir der Blutdruck gemessen wurde. Und wie Mama bei mir war und meine Hand hielt. Und wie Paps zwischendurch mal hereinkam und mir die zerfetzte Bibel brachte, die er am Boden gefunden hatte, und leise etwas mit Mama flüsterte und mir übers Haar strich und dann wieder ging. Und ich erinnere mich, wie Mingos Name genannt wurde und dass die Zwillinge auf einmal verschwunden waren.