8. Das letzte Lied

Ich hatte einen verschwommenen Traum. In diesem Traum ging ich mit Mingo an der Hand durch eine verschneite Landschaft. Und dann kam uns auf einmal diese weiß gekleidete Frau mit ihren gütigen Augen entgegen, die den Schnee schmelzen ließ, und der Schnee wurde zum Meer, und mitten im Traum erinnerte ich mich, dass ich diesen Traum schon mal geträumt hatte und dass die weiße Frau in meinem ersten Traum ihren zweiten Sohn gesucht hatte. Und ich wollte ihr irgendwie mitteilen, dass ich ihren zweiten Sohn an meiner Hand hielt, doch als ich mich umdrehte, sah ich, dass es Nicki war, und Mingo war verschwunden, ausgelöscht. Und ein heftiger Schmerz bohrte sich durch meine Brust, von dem ich nicht wusste, woher er kam, und die gütigen Augen der weißen Nonne sahen mich an und waren so real wie die Augen meiner Mutter, und ich schrie, weil sie mich so eindringlich ansahen, als wäre ich schuld daran, dass Mingo verschwunden war.

«Maya!»

Ich fuhr zusammen und schreckte hoch. Das Meer war weg, und vertraute Umrisse nahmen Gestalt an, das Bücherregal, der Schreibtisch, der Computer und das Fenster. Und meine Mutter, die sich über mein schweißnasses Gesicht beugte.

«Sie hat jetzt fast neun Stunden geschlafen», sagte sie.

«Das ist schon mal gut», hörte ich die Stimme von Paps.

Paps war da? Meine Eltern, beide in meinem Zimmer? Und ich im Bett? War ich krank? Hatte ich einen Unfall gehabt? Mir tat doch gar nichts weh, außer diesem brennenden Schmerz in meiner Brust.

«Es war nicht deine Schuld, Maya», sagte Mama leise und streichelte meine Hand.

Schuld? Schuld woran? Da war irgendwas … Meine Gedanken waren irgendwie in hunderttausend Fetzen zerrissen worden.

«Du hättest es nicht verhindern können.»

Mama begann, meine Hand zu massieren. Für zwei Sekunden leuchtete etwas in meinem Verstand auf, etwas Schreckliches, Furchtbares … etwas, das zu dem unheimlichen Traum gehört hatte …

Mingos Name … Paps' aufgeregtes Gesicht … Ärzte, die mit ihm sprachen … und Domenico, der eine Wohnung demoliert hatte … aber wo war Domenico jetzt? Und wo war Mingo?

«Mingo …?»

Ein schweres Seufzen hob Mamas Brust.

«Die Ärzte konnten ihm leider nicht mehr helfen.»

Meine Hand sank auf die Bettdecke. Es brauchte ein paar Augenblicke, bis die Botschaft zu meinem Bewusstsein durchgedrungen war. Ich drehte meinen Kopf gegen die Wand. Das Tapetenmuster grinste mich wie ein hässliches Monster an.

«Nein … nein, das ist nicht wahr!»

«Er ist an einem Kreislaufkollaps zusammengebrochen», erklärte Paps mit bewegter Stimme. «Er muss tatsächlich zu reines Heroin erwischt haben. Man ist sich nicht ganz sicher. Die Ermittlungen laufen noch.»

Meine Brust hob und senkte sich voller Schmerz. Ein dicker Kloß würgte meine Kehle. Mama drückte meine Hand, als ich in krampfhafte Schluchzer ausbrach und mich im Bett krümmte.

«Maya …» Paps' große Hand berührte meine Haare.

«Er wollte nicht sterben!», schrie ich voll ohnmächtiger Wut. «Oh Paps … Mama … er wollte doch nicht sterben!»

Mama legte einen kühlen Lappen über meine nasse Stirn, und Paps hielt meine Hand fest. Ich rollte mich wie ein Baby zusammen. Ich fühlte mich so schwach, dass ich zitterte. Mein Bauch tat weh, meine Beine taten weh, alles tat weh.

«Wir wussten, dass es ein Schock für dich sein würde», seufzte Mama leise. Paps nickte bitter.

Ich weiß nicht, wie lange ich dalag und weinte. Ich hörte nicht mehr auf. Der Schmerz brannte wie heißes Feuer, und es gab nichts, das ihn lindern konnte. Nichts. Ich weiß nicht, ob ich eine Stunde lang weinte. Oder zwei Stunden. Oder einen ganzen Tag. Ich weiß nur, dass meine Eltern die ganze Zeit bei mir blieben. Und irgendwann kam der Punkt, an dem ich so leer war vom Weinen, dass ich erschöpft aufgab.

«Schlaf jetzt ein bisschen, Maya», flüsterte Mama.

Stille und Nebel umgaben mich, als meine Eltern das Zimmer verließen. Ich fiel und fiel. Immer tiefer, auf den Grund des Meeres. Wo Nicki und Mingo jetzt waren. Paps gab mir eine Tablette, und dann schlief ich wieder, viele Stunden lang. Ich wollte für immer schlafen. Ich wollte nie mehr in die reale Welt zurückkehren. Ich wollte für immer in dem Nebel bleiben.

Doch der Nebel lichtete sich irgendwann wieder. Ich konnte ihn nicht festhalten. Die Wirklichkeit, vor der ich mich verbergen wollte, stand wieder mit scharfen Konturen vor mir. Ich erwachte und konnte nichts dagegen tun. Mein Verstand war wieder so klar wie Kristall.

Und er kalkulierte erschreckend genau. Er teilte mir mit, dass Mingos Tod nicht der einzige Schmerz war … nein … dass jemand da war, der nun unsägliche Qualen litt.

Nicki …

Wo war Nicki? Wo hatte man ihn hingebracht?

Seine letzten Schreie klangen in meinen Ohren.

Er war durchgedreht. Hatte wohl den Verstand verloren. Er hatte sich auf Mingo geworfen, hatte versucht, ihn aus den Klauen des Todes zu entreißen. All diese Bilder kamen jetzt wieder aus meinem Inneren hoch und standen deutlich und scharf vor meinen Augen. Er hatte gebrüllt und getobt. Er hatte auf die Polizisten eingeschlagen, auf die Sanitäter. Man hatte ihm Handschellen angelegt, ihn weggebracht. Ja. Ich konnte mich erinnern. Und ich krümmte mich wieder vor Schmerz. Nicki … Ich wollte wissen, wo er war. Ich wollte wissen, was man mit ihm gemacht hatte. Wie es ihm ging. Ob er lebte.

Schritte kamen die Treppen herauf. Mama und Frau Galiani betraten mein Zimmer und setzten sich an mein Bett. Stumm blickte ich in die besorgten Gesichter der Erwachsenen.

«Es tut mir leid, dass das passiert ist, Maya», sagte Frau Galiani mit schwerer Stimme. «Ich war auch sehr schockiert, als deine Eltern mir das erzählt haben.»

Ich wischte mir über die Augen, weil ich alles nur noch verschwommen sah.

«Aber es war leider vorhersehbar, dass das eines Tages passieren würde.» Die typische steile Falte hatte sich tief in Frau Galianis Stirn eingegraben. «Ich habe schon lange geahnt, dass man Mingo nicht mehr helfen kann. Es tut mir leid, dass ich das sagen muss, aber es ist so.»

«Er hätte doch nur Methadon kriegen müssen!» Ich erkannte meine Stimme kaum noch. Sie war ganz verzerrt vom vielen Weinen.

Frau Galianis Seufzen kam aus tiefstem Herzen. «Ich weiß nicht, woher er die Illusion hatte, dass Methadon ihn wirklich von den Drogen wegbringen würde. Mingo sollte ja schon mal ins Methadonprogramm aufgenommen werden, aber er ist nie zu den Gesprächsterminen hingegangen.»

Das hatte ich nicht gewusst. Das hatten mir weder Domenico noch Mingo je gesagt. Ich schüttelte fassungslos den Kopf. Würde ich das Leben der Zwillinge jemals zu einem ganzen Bild zusammenkriegen, oder würde es immer nur ein zerrissenes Stückwerk bleiben?

«Das ist nun mal leider die traurige Realität, Maya», sagte Frau Galiani. «Wir können nicht wirklich verstehen, was es heißt, heroinsüchtig zu sein. Manche kommen wieder davon weg. Manche eben nicht. Vielleicht ist es sogar der größere Teil, der es nicht schafft. Es tut mir wahnsinnig leid!»

«Ich hätte ihn nicht gehen lassen dürfen an dem Abend …» Ich brach wieder in verzweifelte Schluchzer aus.

«Du darfst dir keine Vorwürfe machen. Das ist absolut nicht deine Schuld. Das hätte jederzeit passieren können. Wäre es jetzt nicht passiert, dann wahrscheinlich später.»

Doch es war klar, dass es nichts gab, womit sie mich trösten konnte. Mingo war gegangen. Er würde nie mehr wiederkommen. Nie mehr. Ich schniefte und bebte am ganzen Körper.

«Ach, Maya …» Mama drückte meine Hand. «Ich weiß, wie weh es tut. Aber wir können es nicht ändern. Wir müssen unseren Blick jetzt auf das richten, was noch da ist. Wir müssen uns um Domenico kümmern.»

Nicki …

«Wo ist er?», fragte ich leise.

«Er ist in einer psychiatrischen Klinik», sagte Frau Galiani sehr vorsichtig. «Er wusste offenbar nicht mehr, was er tat, als die Ärzte ihm sagten, dass es für seinen Bruder keine Hilfe mehr gibt. Er ist … nun, ich weiß nicht genau, wie sein Zustand jetzt ist. Er ist in der geschlossenen Abteilung. Ich glaube, sie mussten ihn ans Bett binden, damit er sich nichts antut. Die Ärzte wissen nicht, wie er diesen psychischen Schock verkraften wird. Es gibt Menschen, die verlieren nach so einem traumatischen Ereignis den Verstand. Sie waren eineiige Zwillinge. Wir wissen nicht, wie eng so eine Bindung wirklich ist.»

«Wir werden tun, was wir können», versprach mir Mama leise. «Sobald die Ärzte es erlauben, werden wir ihn gleich besuchen.»

«Ich habe jetzt mal mit Frau Schütze vom Jugendamt Kontakt aufgenommen und ihr Domenicos Situation geschildert», fuhr Frau Galiani fort. «Ist jetzt natürlich nicht einfach für ihn. Er hat einen Polizisten verletzt. Der Mann liegt im Krankenhaus. Die Staatsanwaltschaft wird wahrscheinlich Anklage gegen Domenico erheben. Dazu kommen all die anderen Anzeigen, die gegen ihn vorliegen. Ob man dabei auf seine verzweifelte Situation Rücksicht nimmt, weiß ich nicht. Immerhin gibt es einen Lichtblick: Ein Freund von mir leitet eine betreute Wohngemeinschaft für Jugendliche in Domenicos Alter, die nicht mehr zuhause wohnen können. Er wäre bereit, ihn vorübergehend aufzunehmen, wenn er aus der Klinik entlassen wird. Das wäre schon mal ein Anfang. Es ist jetzt wichtig, dass wir ihm beistehen und helfen, wo wir können. Und auch die Sache mit Bianca müssen wir regeln. Ich hoffe, sie wird bald gefunden!»

«Gefunden?» Ich kam nicht mehr mit.

«Ach, das haben wir dir ja noch gar nicht erzählt», seufzte Mama. «Bianca ist aus dem Krankenhaus abgehauen. Wahrscheinlich sucht sie ihre Brüder. Wir haben natürlich sofort eine Vermisstenanzeige aufgegeben. Jetzt können wir nur hoffen und beten!»

Mehr erfuhr ich nicht an diesem Nachmittag, und ich wollte auch nicht mehr erfahren. Das, was ich gehört hatte, war mehr als genug, das ich zu verdauen hatte. Nur eine Sache teilte mir Mama noch mit: «Mingos Beerdigung ist am Freitag. Du musst selbst entscheiden, ob du in der Lage bist, mitzukommen. Paps ist dabei, alles zu organisieren. Ich denke, es ist sehr wichtig. Besonders für Domenico.»

Ich nickte und schloss die Augen.

Es gab nichts zu sagen, nichts zu fragen.

Nur stille Tränen, die aus meinen Augen flossen.

Aber als ich später am Fenster stand und in die Ferne blickte, in die dunkle, klare Nacht, zum Wäldchen und zur Laterne, stieg ein leises Gebet aus meinem Herzen auf.

«Jesus, ich wollte Mingo so gern helfen, aber ich konnte es nicht. Und auch Nicki hat es versucht, mehr als wir alle anderen. Ich weiß im Moment echt nicht, was ich denken soll. Mir drehen sich der Kopf und das Herz wegen all dem, was passiert ist. Ich kann dir nur noch all diese Scherben hinlegen und dich bitten, daraus wieder etwas zusammenzusetzen, wie bei einem Puzzle. Wir können nun Mingo nicht mehr helfen. Er steht jetzt ganz allein vor dir, und ich … ja, ich glaube, dass du gesehen hast, dass sein Herz nach dir gefragt hat. Wir hatten ihn lieb, trotz seines Drogenelends. Und du auch, das weiß ich einfach. Aber da ist nun noch Nicki …»

Ja, was sollte aus Nicki werden? Ich schloss die Augen. Ohne ein Wunder würde er an dieser Verletzung zugrunde gehen, das war mir klar …

Das letzte Mal, dass ich den Friedhof besucht hatte, lag schon einige Jahre zurück. Es war ein Ort, den ich mied, wann immer es ging. Außer meinem Bruder hatte es bisher auch noch keinen Todesfall in meiner Familie gegeben, an den ich mich bewusst erinnern konnte. Es war also meine erste Trauerfeier.

Fest eingewickelt in Schal und Jacke stieg ich hinter meinen Eltern aus dem Auto. Alles hatte eine graue, neblige Farbe an diesem Tag. Wie ein verblasster Schwarzweißfilm. Leon stützte mich. Er hatte darauf bestanden, mich zu begleiten, obwohl er Mingo nicht mal gekannt hatte.

Der Friedhof lag etwas abseits von den Sportanlagen und dem Park auf einem kleinen Hügel. Es war wahnsinnig lieb von meinem Vater, dass er für Mingo eine anständige Beerdigung organisiert hatte. Er sollte nicht bloß ein anonymes Grab bekommen. Und Domenico sollte auch später einen richtigen Grabstein für ihn auswählen dürfen, sobald er dazu bereit sein würde. Das hatten meine Eltern so beschlossen.

Als wir uns der kuppelartigen Kapelle näherten, die mitten auf der Anlage stand, wurden viele weitere schmerzhafte Erinnerungen in mir wach. Die Erinnerung an den Park in Catania … an den Brunnen, wo ich damals Domenicos Kette versenkt hatte, die Kette mit dem roten Herz, die er mir einst geschenkt hatte. Ich war so wütend gewesen, weil er mich mit Angel betrogen hatte. Oder er Angel mit mir …? Ach, egal, die Grenzen waren sowieso schon lange verwischt. Das rote Herz … ob es immer noch auf dem Grund des Brunnens ruhte? Wohl kaum, denn der Brunnen war ja nicht sehr tief gewesen …

Ach, warum dachte ich jetzt an so was!

Jennys tomatenroter Haarschopf flatterte im Wind, als sie herangestürmt kam und mir wortlos um den Hals fiel. Ihre blassblauen Augen sahen aus wie traurige Wassertümpel, als sie zu mir hochblickte. Ich drückte sie fest an mich. Die sonst so quasselige Jenny fand in diesem Moment keine Worte. Sie schniefte und bebte nur in meinen Armen.

«Kommt», sagte Leon leise und führte uns in die Kapelle. Verstohlen schaute ich mich um. Würde Domenico kommen? Würde ich mit ihm sprechen können? Würde ich es ertragen, seinen Schmerz zu sehen? In seine düsteren Augen zu schauen? Ich hatte wahnsinnig Angst davor.

Neben mir gingen Patrik und Manuela. Manu heulte Rotz und Wasser. Irgendwie hatte ich das eigenartige Gefühl, nur Zuschauer dieses Geschehens zu sein. Die Stimmen der Leute klangen, als würden sie durch eine Wasserblase sprechen. In Wirklichkeit war ich irgendwo weit weg, umhüllt von Nebel, wo das letzte Lied in meinem Herzen klang.

Leon brachte mich zu den Bänken, und ich setzte mich, die Augen fest auf den blumengeschmückten Sarg gerichtet, in dem nun Mingo lag. Ich konnte nicht mal mehr weinen. Die Tränen saßen einfach irgendwo fest. Vielleicht hatte ich mich auch leer geweint. Und nicht mal diese Blumen auf dem Sarg hatten eine richtige Farbe. Auch sie wirkten körnig und blass. Oder stimmte etwas mit meinen Augen nicht? Ich legte meinen Kopf auf Leons Schulter und zählte die Gäste, die gekommen waren. Mit mir waren es sieben. Frau Galiani fehlte. Domenico und Bianca fehlten auch. Und kurz tauchte in meinen Gedanken auch die Mutter der Zwillinge auf. Und sonst? Hatte Mingo in der Drogenszene überhaupt Freunde gehabt?

Ein Mann mit einem schwarzen Anzug stand mit gesenktem Haupt an der kleinen Kanzel. Wir kannten ihn persönlich. Es war Pfarrer Siebold aus der kleinen Kirchengemeinde unseres Viertels. Er war ein Freund von Paps und hatte sich auf seine Anfrage freundlicherweise angeboten, die Bestattung abzuhalten.

«Liebe Freunde und Trauergäste», begann er. «Wir sind hier, um dem verstorbenen Michele di Loreno die letzte Ehre zu erweisen, und ganz besonders seinem Bruder Domenico, seinem engsten Freund und Vertrauten, unser innigstes Beileid auszudrücken. Michele, von allen Mingo genannt, wurde zusammen mit seinem Zwillingsbruder Domenico am 14. September 1990 in Palermo auf Sizilien geboren. Zeitlebens waren die beiden Brüder auf der Suche nach einer Familie. Ganz besonders Mingo hat auf dieser Suche viele Wege ausprobiert, ist über manche Grenzen gegangen und dabei in etliche Sackgassen geraten, die schließlich auch zu seinem tragischen Tod geführt haben. Und wir können nur betroffen dastehen und uns fragen, wieso all das passieren konnte.»

Hier legte er eine Pause ein, und ich sah, wie seine Augen mir begegneten. Ich wurde ein wenig rot. Er kannte mich seit meiner Geburt, und ich erinnerte mich, wie er mich damals, als ich ein kleines Mädchen gewesen war, wegen meines Namens immer liebevoll «Maiglöckchen» genannt hatte.

Pfarrer Siebold senkte seinen Blick wieder und fuhr fort: «In der Bibel lesen wir, dass Jesus sich immer gerade den Menschen in besonderer Weise zugeneigt hatte, die von der Gesellschaft ausgestoßen waren. Mingo hat einiges davon erfahren, wie oft wir Menschen auf Äußerlichkeiten sehen. So sagt es auch die Bibel in 1. Samuel 16,7: Der Mensch sieht, was vor Augen ist, aber Gott sieht das Herz an. Ich bin überzeugt, dass wir eines Tages ganz überrascht sein werden, wenn wir vor Gott stehen und erkennen, dass er oft ganz anders geurteilt hat als wir Menschen. Manch einer, der in der Welt als gerecht und heilig erschien, wird vielleicht dort nicht mehr zu finden sein, während manch einer, den man abgeschrieben hatte, mitten auf Gottes Schoß sitzen wird.»

Wieder folgte eine Pause, und erneut traf mich der gütige Blick des Pfarrers. Er war es auch gewesen, der mir vor langer Zeit die kleine Bibel geschenkt hatte, die ich während der ganzen Kindheit mit mir herumgetragen und später Domenico geschenkt hatte. Als ich daran dachte, bekam ich endlich feuchte Augen. Ich verpasste die nächsten Sätze und wurde erst wieder aufmerksam, als ich meinen Namen hörte.

«So durfte ich von Maya Fischer, einer engen Freundin von Mingo, erfahren, dass Mingo gerade in den letzten Stunden seines Lebens mit dieser Frage zu ihr gekommen war, ob es denn auch für ihn trotz seiner Fehler, seiner falschen Entscheidungen und seines Versagens möglich sei, einen Platz im Himmel zu finden. Eine Frage, mit der sich früher oder später jeder Mensch auseinandersetzen wird, wenn es darum geht, was nach dem Tod kommt. Maya hatte Mingo geantwortet, dass er selbst mit Gott reden dürfe, gerade so, wie ihm zumute sei. So möchte auch ich mit folgendem Trost abschließen, den unser Herr Jesus Christus in seinem Wort verheißen hat, nämlich: Wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinausstoßen. Und so glaube ich, dass wir Mingo nun getrost der Liebe und Barmherzigkeit Gottes anbefehlen dürfen. Mingo wird viel Gnade brauchen. Aber ich denke, die brauchen wir alle. Möge sie mit ihm sein.»

Stille senkte sich über uns, während es in den Lautsprechern anfing zu knistern. Ich hatte mir nämlich gewünscht, dass man ganz zum Schluss Mingos Lied abspielte. Das letzte Lied, das Mingo mir geschenkt hatte. Damit ich für immer ein Andenken an ihn haben sollte.

Der Sarg wurde hinausgetragen, während die ersten sanften Gitarrenklänge durch die Lautsprecher rieselten, auch hier draußen, während wir zum offenen Grab gingen. Sie klangen so ganz anders als durch die Kopfhörer. Als würden sie von allen Seiten widerhallen. Schließlich setzte die heisere und doch sanfte Stimme des Sängers ein. Das Schlagzeug und der harte Bass dröhnten in meinen Ohren.

Eisige Kälte empfing uns draußen. Zwei Tauben flatterten um unsere Köpfe und setzten sich auf den schwarzen Sarg. In meinem Herzen stiegen meine eigenen Abschiedsworte für Mingo auf.

Da ist dein Lied, Mingo, hörst du es?

Ich spiele es extra für dich. Weil ich keine Worte finde.

Vielleicht sagen Klänge mehr als Worte.

Siehst du jetzt, dass dein Leben doch etwas wert war?

Und siehst du die Tauben?

Auch sie kommen, um dir Lebewohl zu sagen.

Wir alle sind hier, um dir Lebewohl zu sagen.

Und vielleicht weißt du, was ich dir damit sagen will.

Ich habe versucht, dich so zu sehen, wie du ohne Drogen gewesen wärst. Aber das alles zählt nun nicht mehr.

Du bist gegangen. Doch ich werde dich für immer in meinem Herzen bewahren. Du warst ein guter Freund, trotz allem.

Das ist alles, was jetzt noch zählt.

Dann, als die Klänge der Gitarre rockiger und härter wurden, und die Stimme des Sängers sich die sehnsüchtigen Worte aus dem Leib schrie, rollte ein Auto heran. Mit knirschenden Reifen hielt es ganz in der Nähe der Versammlung an.

Aus der hinteren Tür stieg Frau Galiani. Sie wandte sich um und half jemandem beim Aussteigen. Die Person trug eine schwarze Lederjacke und hatte die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Ich wagte mich nicht zu rühren. Alles um mich herum und alles in mir war still und festgefroren.

Frau Galiani stützte Domenico, während sie ihn zum Sarg seines Zwillingsbruders führte. Zwei weitere Männer stiegen aus dem Auto und folgten ihnen. Ich wusste nicht, wer sie waren, vielleicht Pfleger von der Klinik. Alle traten ehrfürchtig zur Seite, um die kleine Gruppe durchzulassen. Ich umklammerte mit schweißnassen Händen mein Taschentuch und brach in krampfhafte Tränen aus. Leon blieb treu an meiner Seite.

Ein letztes Mal wurden die Klänge der Gitarren wieder sanft und verebbten schließlich ganz. Dann wurde der Sarg an Seilen in die Grube gesenkt. Endgültig und für immer. Der leichte Wind spielte mit Domenicos kupferbraunen Haarsträhnen, die unter der Kapuze heraushingen. Frau Galiani hielt ihn mit beiden Armen fest umschlungen. Die beiden Pfleger hatten sich schützend links und rechts danebengestellt, offensichtlich auf jeden Gefühlssausbruch gefasst. Doch Nicki regte sich nicht.

Es dauerte lange, bis sich wieder jemand zu rühren wagte. Mama kam zu mir und drückte mir rote Rosen in die Hand. Mit zitternden Beinen bewegte ich mich vorwärts und trat ans Grab, um die Blumen hineinzuwerfen. Die beiden Tauben setzten sich auf das Holzkreuz, auf dem Mingos Name stand. Michele Domingo di Loreno. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass er nun für immer da unten liegen sollte. Es war unfassbar.

Ich stand nur wenige Meter von Domenico entfernt. Ich konnte sein Gesicht kaum sehen unter der Kapuze. Er wurde nun von den beiden Pflegern festgehalten. Ehe ich wusste, was ich tat, setzten sich meine Beine in Bewegung.

«Nicki!»

«Maya, bitte geh zurück!», befahl Frau Galiani.

Ich hielt bestürzt inne. Da hob Domenico seinen Kopf und sah mich direkt an. Ich erschrak, als ich sah, wie finster und leblos seine Augen waren. Wie zwei dunkle Höhlen. Sein Gesicht zeigte keine einzige Regung. An seinem Hals baumelte Mingos silberner Totenkopf.

«Lass gut sein, Maya», sagte Frau Galiani eine Nuance sanfter. «Er spricht mit niemandem. Er steht noch immer unter Schock. Geh zu deinen Eltern zurück. Sie warten auf dich.»

Und so musste ich zusehen, wie Frau Galiani und die beiden Pfleger Domenico wieder zum Auto brachten, wie er im Inneren des Wagens verschwand und wie das Auto genauso eilig davonfuhr, wie es gekommen war. Ich starrte ihm nach, bis es meinen Blicken entschwunden war.

Meine Beine hatten sich von Brei zu Blei verwandelt, und es bedurfte Leons Unterstützung, um mich wieder zu den anderen zurückzuführen.

Inzwischen hatten alle ihre Blumen ins Grab geworfen.

«Wer ist denn das?», fragte Paps auf einmal.

Neben der Kapelle kauerte eine einsame schwarze Gestalt mit blauschwarzer Punkfrisur am Boden. Sie hatte ihr Gesicht gesenkt und war in einen langen Mantel gehüllt. Ein hässlicher kleiner Hund saß mit eingekniffenem Schwanz neben ihr.

Paps nahm mich an der Hand. Gemeinsam gingen wir zur Kapelle und blieben vor dem Punk-Mädchen stehen. Es hob seinen Kopf und schaute uns mit blutunterlaufenen Augen an. Ihr Gesicht war blass wie der Mond. Um ihren Hals baumelte eine dicke silberne Totenkopfkette. Und da erkannte ich sie wieder.

«Hallo, heißt du nicht Carrie?», fragte ich.

Sie nickte weinerlich. Ihre Augen schwammen in Tränen. Der kleine schmutzige Hund schmiegte sich winselnd an sie. Sie raffte den Mantel zur Seite und stand langsam auf. Ohne die spitzen Haarstacheln war sie fast einen halben Kopf kleiner als ich.

«Darf ich die reinwerfen?», fragte sie mit brüchiger Stimme und streckte uns einen kümmerlichen Blumenstrauß entgegen.

«Natürlich darfst du das!», sagte Paps und bemühte sich um einen freundlichen Tonfall. Vor nicht allzu langer Zeit wäre es undenkbar gewesen, dass er eine solche Person angesprochen hätte. Und da dämmerte mir etwas.

«Bist du nicht die Freundin von Mingo?», fragte ich.

Carrie sah mich mit trüben Augen an und nickte.

«Kanntest du ihn schon lange?»

«Ja, schon von früher. Hab ihn immer in der Szene getroffen. Er hat mich immer beschützt, wenn ich Ärger mit den Dealern hatte. Mit seinem Messer und so. Gab mir manchmal sogar von seinem Dope ab, wenn ich keins mehr hatte.»

Ach ja, Mingo und seine Großzügigkeit …

Ich seufzte und sah Carrie an. Sie war nicht besonders hübsch. Ich suchte vergeblich, irgendetwas Regelmäßiges in ihrem Gesicht zu finden. Ihre Nase war breit, und ihr Mund war klein und schmal und sah aus, als hätte sie ihn mit rotem Blut beschmiert.

«Dann bist du also auch drogenabhängig?»

«Nich mehr. Hab 'nen Entzug gemacht. Also, jedenfalls nehm ich kein Eitsch mehr. Wollte, dass Mingo auch von dem Zeug runterkommt. Aber der war viel krasser drauf als ich. Dabei wollte ich ihm so gern helfen. Er hat mir versprochen aufzuhören. Aber dann isser in meine Wohnung gekommen und einfach zusammengeklappt …» Sie wurde nun von heftigen Schluchzern geschüttelt. Und ehe ich mich versah, drückte sie ihr weinendes Gesicht an meine Schulter. Mein Schal wurde von ihrem Rotz und ihren Tränen getränkt.

Ich hielt Carrie fest und tauschte einen Blick mit Paps.

Der kleine Hund rieb seinen Kopf an Carries Mantel und gab ein klägliches Winseln von sich.

Die eisige Luft kühlte meine heißen Wangen.

Als wir später aufbrachen, lag das Grab einsam und verlassen da, nur die Tauben waren noch dort. «Wenigstens sie», dachte ich.

Ich hoffte, dass sie für immer bei Mingo bleiben würden.