Das Leben ging weiter, mit dem einen Unterschied, dass meine Freunde mich nun wie Porzellan behandelten. Sie waren fast übertrieben nett und freundlich zu mir und trauten sich kaum, das Thema Mingo auch nur im Entferntesten anzuschneiden. Es war nett gemeint, nützte mir aber nicht viel. In mir sah es aus wie eine abgegraste Einöde. Von Domenico hörte ich nichts Neues, außer dass er sich immer noch hinter den verriegelten Türen der psychiatrischen Klinik befand.
Doch es half alles nichts, ich musste wieder zur Schule. Aber eigentlich war ich auch froh, dass mit der Schule wieder etwas Normalität in meinen Alltag einzog, die mich zwang, mich auf andere Dinge zu konzentrieren.
Die etwas übertriebene Behutsamkeit meiner Freunde hatte wenigstens den Vorteil, dass sie mich vor den neugierigen Fragen der Außenstehenden schützte. Einzig André trampelte mitten ins Fettnäpfchen.
«Sagt mal, ich blick immer noch nicht durch. Wer bitte ist nun gestorben? War das jetzt dieser Mafia-Typ, der bei uns in der Klasse war?»
«Sein Zwillingsbruder, du bescheuerte Nuss!», keifte Delia ihn an. «Das haben wir dir doch gestern schon erklärt!»
«Oh, sorry, hey, sorry, beruhig dich, Mann …»
«Mann! Mann!», äffte Delia ihn nach. «Frau, bitte!»
Das klang wirklich ganz nach Schulalltag.
Doch dazu gehörte leider auch Isabelle. Ihre kalten Augen und ihr stolz emporgerecktes Kinn begegneten mir überall, im Klassenzimmer, im Pausenhof, auf der Toilette. Überall lauerte sie mir auf, nur um mir böse Blicke zuwerfen zu können.
Am Ende des Vormittags rief mich Frau Galiani zu sich ins Lehrerzimmer.
«Schön, dich wieder an unserer Schule zu sehen!», begrüßte sie mich. «Etwas Abwechslung tut gut, nicht wahr?»
«Ja», sagte ich. Ich war eine Woche lang krankgeschrieben gewesen. Paps hatte erwähnt, dass so was nur bei Frau Galiani möglich war. Eine andere Lehrerin hätte vermutlich nicht so viel Verständnis gezeigt. Schließlich war Mingo ja nicht mit mir verwandt gewesen.
«Setz dich doch kurz hin, ich habe leider nicht viel Zeit.»
Ich nahm auf dem kleinen Sofa Platz, auf dem ich schon oft gesessen hatte, wenn wir über Domenico gesprochen hatten.
«Ich dachte, du willst bestimmt wissen, wie es Domenico geht, stimmt's?»
Sie besänftigte mein heftiges Nicken mit einer beschwichtigenden Handbewegung. «Ich weiß, ich war bei der Beerdigung etwas schroff. Wir haben ja lange überlegt, ob wir ihn wirklich mitbringen sollen, aber ich denke, es war wichtig für ihn. Es war wichtig, dass er sich von seinem Bruder verabschieden konnte. Wir wissen nicht, was er innerlich durchmacht. Er spricht kaum mit jemandem. Anscheinend schläft er ziemlich viel und bekommt auch starke Beruhigungsmittel. Die Ärzte in der Klinik meinen aber, dass es ganz gut wäre, wenn er etwas Besuch empfangen würde.»
«Dann darf ich ihn besuchen?»
«Ja, ich denke, du solltest sogar. Außer dir und deinen Eltern hat er ja niemanden mehr.»
«Weiß man eigentlich etwas wegen Bianca?»
«Man hat sie noch nicht gefunden. Es gibt ein paar Spuren, Hinweise. Domenico hatte ja eine Menge Kontakte in der Szene, es kann schon sein, dass sie bei irgendeinem seiner Kumpel untergetaucht ist. Ziemlich wahrscheinlich sogar. Wo soll sie sonst auch hingehen? Allerdings darfst du kein Wort davon zu Domenico sagen. Er darf nicht wissen, dass seine Schwester verschwunden ist, weil er sonst womöglich aus der Klinik ausbricht und sie suchen geht. Er soll vorerst denken, dass sie in einer Pflegestelle ist. Das bleibt also unter uns, klar?»
Als ich später das Schulgebäude verließ, saß Leon einsam wartend im Pausenhof auf seinem Fahrrad. Die neblige Wintersonne tauchte den Hof in ein zartes, pastellfarbenes Licht. Leon klingelte sanft mit der Fahrradglocke und fuhr nah an mich ran. Die Bremsen quietschten vor meinen Füßen. Er beugte sich zu mir runter und drückte mir zwei Küsschen auf die Wangen.
«Hallo Maya. Alles klar? Gibt's was Neues?»
«Ach, nicht viel …» Ich hatte Mühe, mich aus meinen Grübeleien zu reißen. Leon nickte nachdenklich und richtete seinen Blick in den pastellfarbenen Himmel. Seine Finger spielten gedankenverloren mit der Glocke.
«Hmm, hast du vielleicht Lust, mal wieder was Schönes mit mir zu unternehmen?», fragte er leise. «Du kannst nicht die ganze Zeit nur Trübsal blasen!»
«Ja, ich weiß», seufzte ich. Mir wurde erst jetzt wirklich klar, wie geduldig Leon die ganze Zeit mit mir gewesen war. Überhaupt war es ja auch wahnsinnig nett gewesen, dass er mich zur Beerdigung begleitet hatte. Ich hob mein Gesicht zu ihm empor. Er lächelte mich etwas wehmütig an.
«Wie wär's mit heute Nachmittag?»
«Da wollte ich eigentlich Domenico besuchen», gestand ich schweren Herzens. «Er … er braucht … Frau Galiani sagte, ich soll …»
«Verstehe!» Leon presste die Lippen fest zusammen. «Schon gut. Dann eben morgen?»
Ich nickte. Leon sah aus, als wolle er noch etwas sagen, doch dann machte er schweigend eine Kehrtwendung mit dem Fahrrad, winkte mir nochmals zu und fuhr Richtung Schultor. Ich winkte zurück und sah ihm nach, wie er elegant davonradelte, fast so, als würde er auf dem Fahrrad tanzen.
Mit gesenktem Kopf ging ich nach Hause.
Ich wusste nicht, warum mich die Klinik ausgerechnet an die Polizeiwache auf Sizilien erinnerte, wo Domenico und ich damals nach unserem abenteuerlichen Motorradausflug gelandet waren. Vielleicht, weil über unseren Köpfen ein ähnlich doofes abstraktes Bild hing wie dort. Aber während ich mit meinen Eltern im Gemeinschaftsraum auf Domenico wartete, ließ ich die Erinnerungen an diese unvergesslichen Sommerferien auf Sizilien an mir vorbeiziehen. Die Sonne war einfach überall gewesen, das tiefblaue Meer hatte vor unendlicher Freiheit gestrotzt, und Domenico war der Held aller sizilianischen Mädchenträume gewesen. Und nun gab es keine helle Sonne mehr, nur noch nassen, grauen, kalten Winter, und Nickis Lebenslichter waren erloschen.
Beinahe hätte ich ihn nicht mehr erkannt, als ein Pfleger ihn zu uns in den Gemeinschaftsraum brachte. Vielleicht lag es an dem ungewohnten hellen Trainingsanzug, denn sonst trug er außer seinen Jeans ja nur schwarze Klamotten.
«So, da wären wir!», sagte der Pfleger. «Ihr könnt mit ihm auch in die Cafeteria oder in den Park gehen. Aber ihr dürft das Gelände nicht verlassen. In einer Stunde solltet ihr aber wieder hier sein!» Damit ließ er uns mit Domenico allein.
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich wusste überhaupt nicht, wie ich mich verhalten sollte. Was ich durfte, und was ich nicht durfte. Ob es gewagt war, ihn einfach in den Arm zu nehmen. Ich sah ihn erst mal nur an. Sein Gesicht war so schmal und zerbrechlich geworden. Kränklich und blass. Von der sizilianischen Bräune war kaum noch etwas übrig. Seine Augen hatten jeglichen Glanz verloren und schauten starr durch mich hindurch.
«Hi Nicki», hauchte ich leise. Als er nichts erwiderte, nahm ich ihn sanft an der Hand und führte ihn zu meinen Eltern. Ich musste mich jetzt ganz auf meine Instinkte verlassen.
«Hallo Domenico!» Mama reichte ihm die Hand.
Er hob ganz leicht seine Hand, fast, als wolle er Mamas Händedruck erwidern. Doch dann ließ er sie schwach wieder sinken. Da sah ich die dicken, weißen Wundverbände, mit denen seine beiden Handgelenke eingebunden waren. Meine Eltern sahen es auch.
«Komm, Domenico», sagte Mama behutsam und führte ihn zum Sofa. Er setzte sich schweigend. Und auch wir schwiegen. Es war einfach so gut wie unmöglich, angesichts dieser schwierigen Situation Worte zu finden, die nicht wie abgedroschene Phrasen klangen. Ich überlegte, zerkaute und erwog alle Möglichkeiten, die mir einfielen, um irgendwas rauszubringen, was vielleicht annähernd beschrieb, was er fühlen musste. Ich wollte nicht fragen, wie es ihm ging, denn das war ja wohl klar. Ich wollte auch nicht sagen, Kopf hoch, es wird alles wieder gut, noch wollte ich doofe Mitleidsphrasen wie Es tut uns so leid für dich aussprechen. Es gab einfach keine Worte, mit denen ich ausdrücken konnte, was ich ihm mitteilen wollte. Auch meine Eltern sagten nichts. Wir waren uns alle einig, sein Schweigen mit ihm zu teilen. Vielleicht war das ja okay. Vielleicht war es das Beste, darauf zu warten, dass er von selbst wieder zu reden anfing.
Aber das tat er natürlich nicht. Auch dann nicht, als wir mit ihm später in die Cafeteria gingen und ihn fragten, ob er etwas essen oder trinken wollte. Das waren wenigstens harmlose kleine Sachen, die man ohne schlechtes Gewissen fragen konnte.
Aber er redete nicht. Kein einziges Wort.
Und so ging es viele Nachmittage lang. Die Besuche bei ihm waren nicht leicht für mich. Sie waren schwermütig, traurig und schmerzvoll. Jedes Mal nach einem Besuch bei ihm fühlte ich mich müde und ausgelaugt. Manchmal ging ich allein, und manchmal begleiteten mich Mama oder auch Paps, wenn die Praxis ihn mal für zwei Stunden entbehren konnte.
Wenn ich allein ging, saß ich meistens mit Domenico in der Cafeteria und starrte mit ihm zusammen Löcher in die Luft. Manchmal sah er mich an, und dann glaubte ich, dass er etwas sagen wollte, aber immer wenn ich ihm dann erwartungsvoll den Blick zuwendete, senkte er seine Augen wieder und starrte seinen Teller an oder seine Zigarette, die im Aschenbecher qualmte. Manchmal sah ich, wie seine Hände ganz nervös waren und unruhig mit irgendetwas spielten, dem Tischtuch, der Zigarette oder der Serviette, und dann legte ich leicht meine Finger auf seinen Handrücken. Ich wusste nicht, ob es richtig war, jedenfalls zog er die Hand nicht zurück.
Das Schlimmste war, dass ich einfach keine Worte fand. Nichts, womit ich ihn trösten konnte. Manchmal schwatzte ich einfach belangloses Zeugs, damit das Schweigen nicht allzu schwer auf uns lastete, erzählte Domenico ein bisschen von der Schule und wusste nicht mal, ob er mir zuhörte.
Doch ich hatte eine Idee gehabt, und dafür hatte ich meine ganzen Ersparnisse geopfert. Mama hatte mir dabei geholfen. Wir waren in die Stadt gefahren und hatten eine Deluxe-Schachtel mit hundertzwanzig Buntstiften gekauft. Mama hatte schönes Zeichenpapier spendiert. Das brachten wir Domenico in die Klinik. Seine Reaktion war nicht überwältigend. Er sagte weder Danke, noch lächelte er. Es war, als hätte er sich in eine ewige Eisglocke gehüllt. Ich weinte, als wir nach Hause fuhren. Gab es überhaupt eine Hoffnung, ihn aus dieser Eisglocke zu befreien?
Außer den Besuchen bei Domenico ging ich auch einmal pro Woche zu Mingos Grab und brachte ihm frische Blumen. Ich kaufte sie von meinem eigenen Taschengeld, und ich kaufte immer die teuersten und schönsten. Es war mir egal, wenn dabei fast mein ganzes Taschengeld draufging und ich hinterher kaum noch genug für mich selbst hatte. Es war mir vollkommen schnurz, wenn ich dafür auf vieles, was ich mir gerne gekauft hätte, verzichten musste.
Es wäre kein Problem gewesen, meinen Vater angesichts dieser Situation um mehr Taschengeld zu bitten. Er hätte es verstanden. Wir hatten genug Geld. Aber ich wollte es nicht. Ich wollte regelrecht ein bisschen leiden. Für Mingo. Er hatte nie jemanden außer Domenico gehabt, der sich wirklich um ihn gekümmert hatte. Außerdem fühlte ich mich immer noch mitschuldig an dem, was passiert war. Das, was ich tat, gab mir zumindest ein bisschen das Gefühl, ein klein wenig davon wiedergutzumachen. Und außer mir gab es vermutlich niemand, der sein Grab besuchte. Und immer wenn ich dort war, betete ich auch für Nicki. Für ein Wunder. Für Worte, mit denen ich zu ihm durchdringen konnte.
Paps kannte den Chefarzt der Klinik persönlich und bat ihn um ein Gespräch unter Arztkollegen. Ich durfte ihn sogar begleiten. Dr. Carlos Bonaventura hatte nicht viel Zeit, aber auf Paps' Bitte war er bereit, uns ein paar Fakten mitzuteilen.
«Meine Tochter ist die einzige Vertrauensperson von Domenico di Loreno. Er hat ja keine Familie mehr. Es würde ihr sehr helfen, wenn du ihr ein paar vertrauliche Informationen geben könntest», hatte Paps zu ihm gesagt.
Dr. Bonaventura ging in sein Büro und holte ein paar Unterlagen hervor. Ich hatte ein mulmiges Gefühl, als ich ihm gegenübersaß. Er wirkte sehr reserviert und zeigte kaum eine Gefühlsregung. Ich kannte sogar seine Tochter. Sie war mal mit mir auf dieselbe Schule gegangen. Und auch Domenico hatte sie gekannt. Sie war nämlich eine berüchtigte Drogendealerin gewesen. Mehr noch: Domenico hatte sogar behauptet, dass sie es gewesen sei, die Mingo zum Heroin verführt hatte.
Dr. Bonaventura schaute nicht auf, als er sprach.
«Also, ich will ehrlich sein. Der Fall Domenico di Loreno ist uns schon länger bekannt. Wir haben ihn schon mal hier gehabt. Er hatte einen schwerwiegenden Suizidversuch hinter sich. Wir wissen, dass der Junge aus ganz schwierigen Verhältnissen kommt. Auch seine Mutter war schon hier in Behandlung, ebenso sein Bruder, der hier auf Drogenentzug war.»
«Wie schätzt du seine Heilungschancen ein?», fragte Paps.
«Schwer zu sagen. Sein Zwillingsbruder war de facto so ziemlich seine einzige enge Bezugsperson. Der Verlust ist immens. Leider gibt der Patient wenig Auskunft über seinen inneren Zustand. Er nickt nur oder schüttelt den Kopf, wenn man ihm Fragen stellt. Immerhin zeigt das, dass er den Kontakt zur Außenwelt nicht ganz abgebrochen hat. Allerdings lässt er es nicht zu, dass man gesundheitliche Untersuchungen an ihm durchführt. Er scheint Probleme mit seiner Lunge zu haben, unter anderem sicherlich, weil er ein ziemlich starker Raucher ist. Aber wir können nichts unternehmen, wenn er sein Einverständnis zu einer Untersuchung nicht gibt. Meines Erachtens wäre es definitiv sinnvoll, wenn er bald in eine andere Umgebung käme, weil die, sagen wir mal, eher trostlose Umgebung der Klinik nicht gerade optimal zur Bewältigung eines solchen Verlustes ist. Ich denke, dass ein gewisses Maß an gesunder Ablenkung besser für ihn wäre. Allerdings müssen wir sicher sein, dass er wirklich keine Suizidabsichten mehr hegt. Eine Sozialarbeiterin vom Jugendamt besucht ihn regelmäßig und ist auch im Gespräch mit dem Psychiater, weil ja gegen den Patienten eine Anzeige wegen schwerer Körperverletzung vorliegt. Aber mehr Informationen darf ich jetzt leider nicht mehr geben.»
Ich verließ mit Paps Dr. Bonaventuras Sprechzimmer und ließ den Kopf hängen. Es hörte sich alles so mühsam und kompliziert und trostlos an.
Ich stellte ein großes Foto von Leon auf meinen Nachttisch, damit ich immer vor dem Einschlafen in seine offenen blauen Augen blicken konnte. Das sollte mich davor bewahren, dass die trostlosen Bilder von Nicki und Mingo in meinen Träumen aufstiegen. Es funktionierte zwar nicht recht, aber irgendwie musste ich ja zusehen, dass ich nicht selber erfror. Und Mama rang auf ihre eigene Art mit der Situation, indem sie häufiger denn je im Klavierzimmer verschwand und leise Töne spielte.
Draußen herrschte diese ständige, trübe Dunkelheit, und es war, als würde der Winter niemals aufhören. Ich lernte viel und war oft bei Leon zuhause. Seine Mutter und seine zwölfjährige Schwester Frauke freuten sich immer riesig über meine Besuche. Ich gehörte dort schon fast zur Familie. Leons Vater war meistens am Arbeiten, und ich sah ihn selten.
Wir bastelten an den Weihnachtsgeschenken für unsere Eltern. Leon und ich hatten uns etwas Besonderes einfallen lassen: Wir fertigten einen Kalender mit witzigen, nicht ganz ernst gemeinten medizinischen Ratschlägen an, die Leon im Internet gefunden hatte. Als zukünftige Ärzte mussten wir ja um das Wohl unserer Eltern besorgt sein. Wenn wir in Leons Zimmer am Boden oder auf seinem Bett lagen, malten wir uns in allen Farben unsere gemeinsame Zukunft auf der Uni aus, obwohl das noch in weiter Ferne lag. Aber ich brauchte diese Träume. Sie lenkten mich von der Finsternis ab. Wir sahen uns schon als große Ärzte: ich mit meiner Praxis für drogenkranke Kids, und Leon neben mir als Facharzt. Wir würden ein leitendes Ärzte-Ehepaar werden, Kongresse führen, die Welt verbessern, und nebenbei würde ich natürlich meine Bücher schreiben.
Wir schmückten zusammen mit Frauke das Haus mit Kugeln und Tannenzweigen. Frauke wollte gar nicht mehr damit aufhören. Als uns die Kugeln ausgingen, fuhren wir zu dritt in die Stadt und besorgten Nachschub. Wir backten auch Plätzchen. Eine Unmenge Plätzchen. Ich brachte sogar Nicki welche mit. Er aß sie nicht.
Weihnachten kam und ging, und ein neues Jahr begann. Domenico war nun schon über sechs Wochen in der Klinik. Und dann, kurz nach Neujahr, an einem Nachmittag, als ich allein bei ihm war, fand ich endlich die Worte, nach denen ich so lange gesucht hatte.
Ich wusste nicht, wie ich darauf kam. Wir saßen in der Cafeteria, und Domenico paffte schweigend eine Zigarette und starrte gedankenverloren an mir vorbei in die Ferne. Er trug nun schwarze Pulswärmer an seinen Handgelenken.
Ich wusste nicht, was mich darauf brachte. Vermutlich dachte ich gerade an Frauke und wie nett es doch wäre, eine Schwester wie sie zu haben. Und wie schade es war, dass mein eigener Bruder als Baby gestorben war …
Bruder …
Es war eine schlichte Erkenntnis, die mich traf.
Es war beinahe still in der Cafeteria.
Mein Bruder und Nickis Bruder. Michael. Michele.
«Nicki, weißt du was?», sagte ich in die Stille hinein. Seine Augen kehrten aus der Ferne zurück und richteten sich auf mich.
«Weißt du, was mir gerade auffällt? Wir haben was gemeinsam. Ich hab meinen Bruder auch verloren.»
Der Blick, mit dem er mich daraufhin ansah, war unbeschreiblich. Zum ersten Mal nach vielen Wochen hatte ich das Gefühl, dass er mich wirklich ansah. Und zum ersten Mal nach langer Zeit verloren seine Augen den trüben Schleier, hinter dem sie gefangen gewesen waren.
Unsere Blicke verbanden sich, und für einen kurzen Augenblick war es, als würden wir gemeinsam aus dem Grund eines tiefen Meeres auftauchen.