EINLEITUNG

Die Frage stellen

DER LAUF DER GESCHICHTE ist nicht vorhersehbar, er ist so unregelmäßig wie das Wetter, so wechselhaft wie Empfindungen. Nationen erstarken und fallen durch Laune und Zufall, heimgesucht von Gewalt, korrumpiert von Gier, erobert von Tyrannen, überfallen von Schurken, verwirrt von Demagogen. Dies alles traf zu, bis die Leserschaft einer Zeitung namens New-York Packet eines Tages, am Dienstag, dem 30. Oktober 1787, auf der Titelseite des Blattes eine Anzeige für einen Almanach vorfand, der Tabellen mit Angaben zum «Aufgang und Untergang der Sonne», zur «Beurteilung des Wetters», zur «Länge von Tagen und Nächten» und als Zugabe etwas vollkommen Neues enthielt: die Verfassung der Vereinigten Staaten, 4400 Wörter, die das Handeln der verschiedenen Abteilungen des Regierungssystems und die Teilung seiner Gewalten darzustellen versuchten, als ob es sich dabei um Fragen der Physik wie den Durchgang des Mondes vor der Sonne oder den Wechsel der Gezeiten handelte.[1] Dies sollte den Beginn einer neuen Ära anzeigen, in welcher der Lauf der Geschichte vielleicht vorhersagbar gemacht und ein Regierungssystem geschaffen werden könnte, das nicht durch Zufall und Gewalt, sondern durch Vernunft und freie Entscheidung gelenkt werden würde. Die Ursprünge dieses Gedankens und sein Schicksal machen die amerikanische Geschichte aus.

Die Verfassung war mit mühseliger Arbeit und langen Auseinandersetzungen verbunden. Den ganzen Sommer über waren die Delegierten des Verfassungskonvents, in Kniebundhosen und ständig durchgeschwitzt, bei drückender Hitze und größter Geheimhaltung in Philadelphia zusammengekommen, die Fenster ihrer Versammlungshalle hatte man zum Schutz gegen Lauscher zugenagelt. Bis Mitte September hatten sie einen auf vier Seiten Pergament festgehaltenen Entwurf fertiggestellt. Sie gaben diesen Entwurf an Drucker weiter, die den Text seiner hochfliegenden Präambel setzten, beginnend mit einem riesigen W, das so scharf wie eine Vogelkralle daherkam:

Wir, das Volk der Vereinigten Staaten, von der Absicht geleitet, unseren Bund zu vervollkommnen, Gerechtigkeit zu verwirklichen, die Ruhe im Innern zu sichern, für die gemeinsame Verteidigung zu sorgen, das allgemeine Wohl zu fördern und die Segnungen der Freiheit für uns und unsere Nachkommen zu bewahren, setzen diese Verfassung für die Vereinigten Staaten von Amerika in Kraft.

Als der Sommer dem Herbst wich, wurde das freie Volk der Vereinigten Staaten, das die Verfassung als Beilage zu seinen Zeitungen und Almanachen vorfand, um eine Entscheidung gebeten, ob diese ratifiziert werden sollte oder nicht, und das zu einer Jahreszeit, in der die Menschen das Heu bündelten, Getreide mahlten, Leder gerbten, Hymnen sangen und die Nähte der Wintermäntel des letzten Jahres für fülliger gewordene Mütter und Väter erweiterten und die Kleidersäume ausließen für Kinder, die gewachsen waren.

Sie lasen dieses merkwürdige, ausgeklügelte Dokument und diskutierten über seinen Plan. Einige befürchteten, dass das neue System der Bundesregierung zu viel Macht einräume – dem Präsidenten, dem Kongress, dem Supreme Court oder allen dreien. Viele, wie etwa der 61-jährige George Mason aus Virginia, ein Delegierter, der seine Unterschrift verweigert hatte, wollten, dass die Verfassung auch eine Erklärung zu den Grundrechten enthielt, eine Bill of Rights. («Ein Gesetzentwurf könnte innerhalb von ein paar Stunden ausgearbeitet werden», hatte Mason den Konvent gebeten, ohne Erfolg.)[2] Andere beschwerten sich über diese oder jene Klausel, auch vor der Kommasetzung machte die Kritik nicht Halt. Dieses Dokument war keine leichte Lektüre. Einige Delegierte schlugen vor, es vollständig zu verwerfen und ganz von vorne anzufangen. «Kann nicht dieselbe Gewalt, die den letzten Konvent einberief, einen neuen ansetzen?», fragte ein Bürger. «Ist das Volk nicht immer noch sein eigener Herr?»[3]

Vieles von dem, was sie sagten, ist in Dokumenten festgehalten. «Die Anfangszeit der meisten Nationen ist in Schweigen gehüllt oder hinter Legenden verborgen», stellte James Madison einmal fest.[4] Nicht so die Vereinigten Staaten. Ihre Anfangszeit ist – wie die Zähne eines Kleinkindes in einem Einmachglas – in den vier Pergamentblättern der Verfassung aufbewahrt, auf den Seiten von Almanachen, die das Wetter einer längst vergangenen Zeit festhalten, und durch Hunderte von Zeitungen, in denen Aufsätze für und wider die neue politische Ordnung neben den Schiffsmeldungen, Versteigerungshinweisen und Aufforderungen zur Rückerstattung von Menschen erschienen, die niemals ihre eigenen Herren gewesen waren – Frauen und Kinder, Sklaven und Diener – und die in der Hoffnung weggelaufen waren, für sich selbst und ihre Nachkommen die Segnungen der Freiheit zu erlangen.

Die Jahreszeit, in die diese Ratifikation fiel, war ein von der üblichen umtriebigen Geschäftigkeit geprägter Herbst. In der Ausgabe des New-York Packet vom 30. Oktober 1787 gab ein Schulmeister bekannt, dass er Unterricht in «Lesen, Schreiben, Rechnen und Handelsbuchhaltung» in Räumlichkeiten nahe der City Hall erteilte. Die Konkursmasse von Gearey, Champion und Co., in erster Linie «ein großes und allgemeines Sortiment von Drogeriewaren und Medizinen», stand zur Versteigerung an. Mehrmastige Segelschiffe aus London und Liverpool und Schoner aus St. Croix, Baltimore und Norfolk hatten im Hafen Anker geworfen; Schaluppen aus Charleston und Savannah hatten ihre Fangleinen an den Anlegern festgemacht. Ein Schotte lobte für die Rückgabe seiner gestohlenen, 14 Handbreit hohen, kastanienbraunen Stute eine Belohnung aus. Ein Händler mit einem Lagerhaus am Peck Slip wollte die Leserschaft wissen lassen, dass er Stockfisch, eine gewisse Menge an Sirup, gemahlenen Ingwer in Fässern, York-Rum, gepökelten Kabeljau, Schreibpapier und Männerschuhe zu verkaufen hatte. Und der Columbian Almanack war, mit oder ohne Verfassung als Beilage, käuflich zu erwerben bei der Druckerei, bei der sich die New Yorker auch nach einem Preis für diese beiden Menschen erkundigen konnten:

ZU VERKAUFEN. EIN ANSEHNLICHES junges NEGERMÄDCHEN, 20 Jahre alt, sie ist gesund und hatte die Pocken, sie hat ein kleines männliches Kind.

Von der Mutter hieß es, sie sei «bei der Hausarbeit bemerkenswert geschickt»; ihr Baby war «etwa 6 Monate alt» und wurde noch gestillt. Beider Namen wurden nicht genannt.[5] Sie unterstanden nicht ihrer eigenen Vernunft und freien Entscheidung. Sie wurden durch Gewalt und Zwang beherrscht.

Zwischen der alltäglichen Grausamkeit der Sklaverei und den neuesten Nachrichten vom Apotheker erschien auf Seite 2 der Ausgabe des New-York Packet an jenem Tag ein Essay unter der Überschrift «THE FEDERALIST No. 1». Der anonym bleibende Verfasser war ein draufgängerischer 30-jähriger Rechtsanwalt namens Alexander Hamilton. «Sie sind nun dazu aufgerufen, über eine neue Verfassung für die Vereinigten Staaten von Amerika zu beraten», teilte er seiner Leserschaft mit. Aber es stehe noch mehr auf dem Spiel, betonte er. Eine falsche Entscheidung würde «ein Unglück für die gesamte Menschheit» bedeuten. Die Vereinigten Staaten seien ein Experiment in Sachen Politik und stünden für ein neues Zeitalter in der Geschichte der politischen Ordnung:

Es scheint dem Volk dieses Landes vorbehalten zu sein, durch sein Verhalten und sein Vorbild die wichtige Frage zu entscheiden: Sind menschliche Gesellschaften wirklich dazu fähig, eine gute politische Ordnung auf der Grundlage vernünftiger Überlegung und freier Entscheidung einzurichten, oder sind sie für immer dazu verurteilt, bei der Festlegung ihrer politischen Verfassung von Zufall und Gewalt abhängig zu sein?[6]

Das war die Frage jenes Herbstes. Und es ist in gewisser Weise die Frage jeder anderen seitdem vergangenen Jahreszeit gewesen, die Frage jedes Sonnenaufgangs und Sonnenuntergangs, an Regen- und an Schneetagen, an klaren Tagen und an bewölkten Tagen, beim Donnerschlag eines jeden Gewittersturms. Kann eine politische Gesellschaft wirklich durch Überlegung und Wahlen gelenkt werden anstatt durch Zufall und Gewalt, Vorurteile und Täuschung? Gibt es irgendeine Übereinkunft zur politischen Ordnung – irgendeine Verfassung –, durch die es einem Volk ermöglicht wird, sich selbst zu regieren, gerecht und ehrlich und als Gleichberechtigte, durch die Ausübung von Urteilskraft und Fürsorge? Oder sind ihre Anstrengungen, ganz gleich wie die Verfassung aussieht, dazu bestimmt, korrumpiert zu werden, wird ihre Urteilskraft durch Demagogie getrübt, unterliegt ihre Vernunft dem haltlosen Zorn?

Diese Frage ist in allen Wetterlagen die Frage der amerikanischen Geschichte. Sie ist auch die Frage dieses Buches, einer Darstellung der Ursprünge, des Verlaufs und der Konsequenzen des amerikanischen Experiments über einen Zeitraum von mehr als vier Jahrhunderten hinweg. Es ist keine einfache Frage. Mir fiel einmal ein Buch in die Hand, dessen Titel The Constitution Made Easy lautete.[7] Die Verfassung kann indessen nicht vereinfacht dargestellt werden. Sie war niemals dazu bestimmt, einfach zu sein.

DAS AMERIKANISCHE EXPERIMENT beruht auf drei politischen Ideen – «diesen Wahrheiten», wie Thomas Jefferson sie nannte –, auf politischer Gleichheit, naturgegebenen Rechten und der Volkssouveränität. «Wir erachten diese Wahrheiten als heilig & unbestreitbar», schrieb Jefferson 1776 in einem Entwurf der Unabhängigkeitserklärung:

dass alle Menschen gleich & unabhängig geschaffen sind, dass sie, weil sie gleich geschaffen sind, natürliche & unveräußerliche Rechte besitzen, zu denen die Erhaltung des Lebens & Freiheit & das Streben nach Glück gehören; dass zur Sicherung dieser Ziele Regierungen unter den Menschen eingerichtet werden, die ihre rechtmäßige Macht aus der Zustimmung der Regierten herleiten.

Die Wurzeln dieser Ideen sind so altehrwürdig wie Aristoteles und so alt wie die Genesis, und ihre Verästelungen greifen so weit aus wie das Gezweig einer Eiche. Aber sie sind die Grundsätze, auf denen diese Nation errichtet wurde: Durch ihre Erklärung entstand die Nation. In den seitdem vergangenen Jahrhunderten sind diese Grundsätze in Ehren gehalten, herabgesetzt und angefochten worden, sie wurden verteidigt, waren umstritten, wurden bekämpft. Nachdem Benjamin Franklin Jeffersons Entwurf gelesen hatte, griff er zu seiner Schreibfeder, kratzte die Wörter «heilig & unbestreitbar» heraus und schlug vor, dass «diese Wahrheiten» stattdessen «selbstverständlich» seien. Das war mehr als eine bloße Spitzfindigkeit. Wahrheiten, die heilig und unbestreitbar sind, sind gottgegeben und göttlichen Ursprungs, ein Thema für die Religion. Wahrheiten, die selbstverständlich sind, sind Naturgesetze, empirisch beleg- und beobachtbar, ein Thema für die Wissenschaft. Diese Spaltung hat die Republik beinahe zerrissen.

Dennoch wird diese Spaltung fast immer übertrieben dargestellt, und es ist leicht, den Unterschied zwischen Jefferson und Franklin zu übertreiben, der sich in diesen Zeilen auch im Stil niederschlägt: Franklins Bearbeitung ist kraftvoller. Die wahre Kontroverse spielt sich nicht zwischen Jefferson und Franklin ab, die beide jeweils für sich selbst versuchten, Glaube und Vernunft miteinander zu versöhnen, so wie das vor und nach ihnen viele andere Menschen versucht haben. Die wahre Kontroverse besteht zwischen «diesen Wahrheiten» und dem Gang der Ereignisse. Bestätigt die amerikanische Geschichte diese Wahrheiten, oder widerspricht sie ihnen?

Bevor das Experiment begann, unternahmen die Männer, die die Unabhängigkeitserklärung und die Verfassung schrieben, außerordentlich sorgfältige historische Studien. Sie hatten sich ihr Leben lang mit der Geschichte befasst. Benjamin Franklin war 81 Jahre alt, krumm und bucklig, als er mit seiner knotigen, von Altersflecken übersäten Hand 1787 die Verfassung unterschrieb. Als 25-Jähriger hatte er, sich gerade haltend wie ein junger Baum, einen Aufsatz mit dem Titel «Observations on Reading History» verfasst, auf einem «kleinen Stück Papier, das zufällig erhalten ist».[8] Und er las weiterhin historische Literatur, machte sich Notizen und fragte sich Jahr für Jahr: Was lehrt uns die Geschichte?

Die Vereinigten Staaten beruhen auf einem Engagement für die Gleichheit, die in erster Linie eine im Christentum verwurzelte moralische Vorstellung ist, aber sie beruhen auch auf einem Engagement für das Untersuchen und Nachfragen. Ihre Gründerväter stimmten mit dem schottischen Philosophen und Historiker David Hume überein, der 1748 schrieb: «Diese Berichte über Kriege, Intrigen, Klüngel und Revolutionen sind ebensoviel Sammlungen von Erfahrungstatsachen, aus denen der Politiker oder Geisteswissenschaftler die Prinzipien seiner Wissenschaft feststellt.»[9] Sie glaubten, dass die Wahrheit in Vorstellungen zur Moral, aber auch im Studium der Geschichte zu finden ist.

Es ist schon oft gesagt worden, im 21. Jahrhundert wie in früheren Jahrhunderten, dass es den Amerikanern an einer gemeinsamen Vergangenheit mangele und dass die auf einer rissigen Grundlage errichtete Republik auseinanderfalle.[10] Dieses Argument hat zum Teil mit der Welt und Herkunft der Vorfahren zu tun: Die Amerikaner stammen von Eroberern und Eroberten ab, von Menschen, die als Sklaven gehalten wurden, und von Menschen, die Sklaven hielten, von der Union und von der Konföderation, von Protestanten und von Juden, von Muslimen und von Katholiken, von Einwanderern und von Menschen, die dafür gekämpft haben, die Einwanderung zu beenden. In der amerikanischen Geschichte ist manchmal – wie in fast allen Nationalgeschichten – der Schurke des einen der Held des anderen. Aber dieses Argument bezieht sich auch auf Fragen der Ideologie: Die Vereinigten Staaten sind auf der Basis eines Grundbestandes von Ideen und Vorstellungen gegründet worden, aber die Amerikaner sind inzwischen so gespalten, dass sie sich nicht mehr darin einig sind, wenn sie es denn jemals waren, welche Ideen und Vorstellungen das sind oder waren.

Ich habe dieses Buch geschrieben, weil eine Gesamtdarstellung der amerikanischen Geschichte von den Anfängen bis heute und über diese Spaltung hinweg schon seit langem nicht mehr unternommen wurde, weil das wichtig ist und weil es einen Versuch wert zu sein schien. Ein Grund, warum es wichtig ist, besteht darin, dass die Betrachtung der Geschichte als einer Form des Prüfens – nicht als etwas Einfaches oder Bequemes, sondern als etwas Forderndes und Anstrengendes – für die Gründung der Nation von zentraler Bedeutung war. Auch das war neu. Die ältesten Erzählungen der westlichen Kultur, die Ilias und die Odyssee, sind Epen und Geschichten von Kriegen und Königen, von Männern und Göttern, die gesungen oder gesprochen werden. Diese Geschichten waren Denkmäler, und das galt auch für die Geschichtsschreibung der Antike, deren Werke als Monumente gemeint waren. Thukydides schrieb: «Zum dauernden Besitz, nicht als Prunkstück fürs einmalige Hören ist [diese undichterische Darstellung] verfasst.» Herodot war der Ansicht, der Zweck der Geschichtsschreibung bestehe darin, dass «das Andenken an große und wunderbare Taten nicht erlöschen soll». Eine neue Art von Geschichtsschreibung, weniger am Gedenken orientiert und beunruhigender in der Absicht, trat erst im 14. Jahrhundert auf den Plan. Die Geschichtswissenschaft «ist eine Hauptwurzel der Philosophie, würdig und geeignet, zu ihren Wissenszweigen gerechnet zu werden», schrieb der nordafrikanische muslimische Gelehrte Ibn Chaldun 1377 in der Einleitung zu seiner Geschichte der Welt, in der er die Geschichtsschreibung als «genaue Erforschung der Ursachen der geschaffenen Dinge und ihrer Ausgangspunkte» definierte.[11]

Nur sporadisch wurde die Geschichtsschreibung nicht nur zu einer Art des Gedenkens, sondern auch zu einer Art der Untersuchung, über die, wie in der Philosophie, zu streiten war, deren Prämissen infrage gestellt, deren Beweise geprüft, deren Argumenten widersprochen wurde. Sir Walter Raleigh begann im frühen 17. Jahrhundert mit der Niederschrift seiner History of the World als Gefangener im Tower of London, wo man ihm gestattete, eine 500 Bücher umfassende Bibliothek einzurichten und zu nutzen. Die Vergangenheit, führte Raleigh aus, «hat uns mit unseren toten Vorfahren vertraut gemacht», aber sie erhelle auch die Gegenwart «durch den anwendbaren Vergleich des früheren Elends anderer Menschen mit unseren eigenen ähnlichen Irrtümern und Missetaten».[12] Das Studium der Vergangenheit öffnet das Gefängnis der Gegenwart.

Dieses neue Verständnis der Vergangenheit versuchte die Geschichtsschreibung von Glaubensfragen zu trennen. Die Bücher der Weltreligionen – der Tanach (die hebräischen Bibeltexte), das Neue Testament und der Koran – sind reich an Mysterien, Wahrheiten, die nur Gott weiß, Glaubensdingen. In den neuen Geschichtsbüchern zielten die Historiker darauf ab, Mysterien aufzulösen und ihre eigenen Wahrheiten zu entdecken. Der Wechsel von der Verehrung und Ehrfurcht zur Untersuchung und Forschung, vom Mysterium zur Geschichte, war von entscheidender Bedeutung für die Gründung der Vereinigten Staaten. Man musste sich dafür nicht vom Glauben an die Wahrheiten der geoffenbarten Religion lossagen, und niemandem wurde dadurch die Verpflichtung abgenommen, Recht von Unrecht zu unterscheiden. Aber es erforderte, dass der Vergangenheit mit Skepsis begegnet wurde, dass die Anfänge nicht zur Rechtfertigung der Endzwecke betrachtet wurden, sondern um sie zu hinterfragen – mit Beweismaterial.

«Ich trage nichts anderes vor als einfache, klare Argumente und gesunden Menschenverstand», schrieb Thomas Paine, der hitzköpfige Sohn eines englischen Handwerkers, 1776 in seiner Schrift Common Sense. Könige hätten kein Recht zu herrschen, schrieb Paine, denn könnte man die Geschichte der Erbmonarchie bis zu ihren Ursprüngen nachvollziehen – «könnte man das Dunkel der Vergangenheit lichten und die Geschlechter bis zu ihrem Ursprung zurückverfolgen» –, dann käme man zu der Erkenntnis, «dass der erste von ihnen nichts Besseres war als der schlimmste Raufbold irgendeiner unsteten Bande». James Madison erklärte historischen Skeptizismus, diesen tief verwurzelten Empirismus, so: «Macht es nicht die Größe des amerikanischen Volkes aus, dass es, auch wenn es den Vorstellungen früherer Zeiten und anderer Nationen den gebührenden Respekt zollt, dennoch nicht Gefahr läuft, aufgrund einer blinden Verehrung für das Alte, für eingefahrene Gewohnheiten oder für große Namen die Eingebungen seines eigenen gesunden Menschenverstands, die Kenntnis seiner eigenen Lage und die Lektionen seiner eigenen Erfahrung zu verwerfen?»[13] Aus eigener Anschauung gewonnene Beweiskraft war für Madison das Allerwichtigste.

«Die Stunde für eine neue Ära der Politik hat geschlagen», schrieb Paine mit flammender Feder, «eine neue Denkweise ist entstanden.»[14] Die eigene Unabhängigkeit zu erklären war schon für sich genommen ein Argument zur Beziehung zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit, ein Argument, das nach einer Beweiskraft ganz besonderer Art verlangte: nach dem historischen Beweis. Deshalb besteht die Unabhängigkeitserklärung zum größten Teil aus einer Auflistung historischer Fakten. «Zum Beweis hierfür seien der unvoreingenommenen Welt Tatsachen unterbreitet», schrieb Jefferson.

Tatsachen, Wissen, Erfahrung, Beweis. Diese Worte kommen aus dem Rechtswesen. Im Verlauf des 17. Jahrhunderts wanderten sie in das ein, was damals als «Naturgeschichte» bezeichnet wurde: Astronomie, Physik, Chemie, Geologie. Im 18. Jahrhundert fanden sie dann auch in der Geschichtsschreibung und in der Politik Verwendung. Diese Wahrheiten: Das war die Sprache der Vernunft, der Aufklärung, der Forschung und der Geschichtsschreibung. Als Alexander Hamilton dann im Oktober 1787 fragte: «Sind menschliche Gemeinschaften wirklich dazu fähig, eine gute politische Ordnung auf der Grundlage vernünftiger Überlegung und freier Entscheidung einzurichten, oder sind sie für immer dazu verurteilt, bei der Festlegung ihrer politischen Verfassung von Zufall und Gewalt abhängig zu sein?», war das die Art von Frage, die sich ein Wissenschaftler stellt, bevor er mit einem Experiment beginnt. Nur die Zeit konnte das zeigen. Aber inzwischen ist Zeit vergangen. Der Anfang ist zu einem Ende gekommen. Wie lautet nun das Urteil der Geschichte?

Dieses Buch versucht die Frage zu beantworten, indem es die Geschichte Amerikas erzählt, ausgehend vom Jahr 1492, von der Reise des Kolumbus, die Kontinente miteinander verband, und in einer Welt endend, die nicht nur verbunden ist, sondern verwickelt, verknotet und verflochten. Es berichtet über die Besiedlung der amerikanischen Kolonien; über die Gründung der Nation und ihre Expansion durch Migration, Einwanderung, Krieg und Erfindungsgabe; ihren Niedergang, der in den Bürgerkrieg führte; ihren Eintritt in Kriege in Europa; ihren Aufstieg zur Weltmacht und ihre nach dem Zweiten Weltkrieg übernommene Rolle bei der Schaffung der modernen liberalen Weltordnung mit den Merkmalen: Rechtsstaat, individuelle Rechte, demokratische Regierung, offene Grenzen und freier Handel. Es erzählt die Geschichte der Konfrontation der Nation mit dem Kommunismus im Ausland und mit der Diskriminierung im eigenen Land; berichtet von ihren Brüchen und Spaltungen und von den Kriegen, die sie seit 2001 geführt hat, seit dem Jahr, in dem zwei Flugzeuge in die beiden Türme des World Trade Centers krachten, acht Häuserblocks entfernt vom Standort einer längst abgerissenen Druckerei, wo die Drucker des New-York Packet einstmals eine junge Mutter und ihr sechs Monate altes Baby ebenso zum Verkauf angeboten hatten wie den Columbian Almanack, mit oder ohne Verfassung als Beilage.

Mit dieser Geschichte habe ich eine Geschichte erzählt. Ich habe versucht, ehrlich und gerecht zu sein. Ich habe einen Anfang geschrieben und ich habe einen Schluss geschrieben und ich habe versucht, eine Kluft zu überwinden, aber ich habe nicht den Versuch unternommen, die ganze Geschichte zu erzählen. Niemand könnte das. Auf diesen Seiten fehlt vieles. Der Historiker Carl Degler erklärte in den 1950er Jahren die Regel, an die er sich bei der Entscheidung darüber hielt, was er in seine eigene Geschichte der Vereinigten Staaten – ein wunderschönes Buch mit dem Titel Out of Our Past – aufnehmen sollte und was nicht. «Die Leserschaft wird darauf hingewiesen, dass sie hier nichts über die Präsidialregierungen in den Jahren von 1868 bis 1901 finden wird und dass die amerikanischen Indianer und die Siedlungen des 17. Jahrhunderts nicht erwähnt werden», merkte Degler an. «Der Krieg von 1812 wird nur in einer Fußnote gestreift.»[15] Auch ich musste sehr vieles überspringen. Einige sehr wichtige Ereignisse haben es nicht einmal in die Fußnoten geschafft, die ich so kurz gehalten habe wie die Fingernägel eines Babys.

Bei der Entscheidung darüber, was ich aufnehmen und was ich weglassen sollte, habe ich mich auf das beschränkt, was ein Volk, das eine Nation bildet, zu Beginn des 21. Jahrhunderts meiner Ansicht nach über die eigene Vergangenheit wissen muss, und das in erster Linie, weil dieses Buch zugleich auch als altmodisches Gemeinschaftskundebuch gedacht ist, als Erklärung der Ursprünge und Zwecke demokratischer Institutionen, vom Town Meeting bis zum Parteiensystem, vom Nominierungskonvent bis zur geheimen Abstimmung, vom Talkradio bis zu Internetumfragen. Dieses Buch ist in erster Linie eine politische Geschichte. Der Militär- und Diplomatiegeschichte oder der Sozial- und Kulturgeschichte widmet es nur sehr wenig Aufmerksamkeit. Aber es enthält Episoden aus der Geschichte des amerikanischen Rechts, der Religion, des Journalismus und der Technologie, und das in erster Linie, weil dies Bereiche sind, in denen die Frage, was wahr ist und was nicht, manchmal geklärt worden ist.

Neben einer kurzen Geschichte der Vereinigten Staaten und der Einführung in die Gemeinschaftskunde verfolgt dieses Buch noch ein weiteres Ziel: Es ist eine Erklärung des Wesens der Vergangenheit. Geschichte ist nicht nur ein Fachgebiet; sie ist auch eine Methode. Meine Methode ist, allgemein gesagt, die Toten für sich selbst sprechen zu lassen. Ich habe ihre Worte zwischen diese Seiten gepresst, wie Blumen, wenn es wegen ihrer Schönheit geschah, oder wie Insekten, wegen ihrer Scheußlichkeit. Die Arbeit des Historikers ist nicht die Arbeit des Kritikers oder des Moralisten; sie ist die Arbeit des Spürhunds und des Geschichtenerzählers, des Philosophen und des Wissenschaftlers, des Hüters der Überlieferungen, der Wahres erzählt.

Was also nun mit der amerikanischen Vergangenheit? In der amerikanischen Geschichte gibt es natürlich sehr viel Leid und noch mehr Heuchelei. Keine Nation und kein Volk sind davon frei. Aber in der amerikanischen Vergangenheit finden sich auch außergewöhnlich viel Anständigkeit und Hoffnung, Wohlstand und Ehrgeiz und vor allem viel Erfindergeist und Schönheit. Manche amerikanischen Geschichtsbücher versäumen es, die Vereinigten Staaten zu kritisieren, andere tun nichts anderes. Auf dieses Buch trifft keines von beiden zu. Die Wahrheiten, auf die diese Nation gegründet wurde, sind keine Mysterien, keine Glaubensartikel, die niemals infrage zu stellen sind, als wäre die Staatsgründung eine Tat Gottes gewesen, noch sind sie Lügen und alle Tatsachen Fiktionen, als könnte man in einer Welt ohne Wahrheit überhaupt nichts wissen. Zwischen Ehrfurcht und Anbetung auf der einen und Respektlosigkeit und Verachtung auf der anderen Seite liegt ein unbequemer Weg, der sich fernhält von falscher Hochachtung wie auch von kleinlichem Triumphieren über Menschen, die lebten und starben und ihre mutigen Taten wie auch ihre Sünden und Irrtümer lange Zeit, bevor wir es ihnen gleichtun konnten, begingen. «Wir können diesen Boden nicht heiligen», sagte Lincoln in Gettysburg. Wir sind stattdessen gezwungen, auf diesem Boden zu wandeln und uns dabei den Lebenden und den Toten zu widmen.

Noch ein letztes Wort dann über das Erzählen von Geschichten und die Wahrheit. «Ich habe diesen Brief fünfmal angefangen und fünfmal zerrissen», schrieb James Baldwin 1962 in einem Brief an seinen Neffen. «Ständig sehe ich Dein Gesicht vor mir, das auch das Gesicht Deines Vaters ist, meines Bruders.» Sein Bruder war tot; er wollte seinem Neffen davon erzählen, was es bedeutet, ein Schwarzer zu sein, auch vom Kampf um Gleichberechtigung und davon, wie ungeheuer wichtig und wie spannend und dringend es war, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen und über die eigene Herkunft nachzudenken. Er fuhr fort:

Ich kenne Euch beide schon Euer ganzes Leben, ich habe Deinen Daddy auf dem Arm gehabt und auf meinen Schultern getragen, ihn geküsst und versohlt und zugesehen, wie er laufen lernte. Ich weiß nicht, ob Du jemanden schon so lange kennst; wenn Du jemanden so lange schon liebst, erst als Kleinkind, dann als Jungen, dann als Mann, blickst Du ganz anders auf die Zeit, auf menschliche Qual und Mühsal. Andere sehen nicht, was ich sehe, wenn ich Deinem Vater ins Gesicht blicke, denn hinter dem Gesicht Deines Vaters, wie es heute ist, liegen all seine anderen Gesichter.[16]

Niemand kann eine Nation bis in eine so weit zurückreichende Zeit kennen, ab ihrer Geburt, mit oder ohne Milchzähne, die in einem Glas aufbewahrt werden. Aber die Beschäftigung mit der Geschichte ist von dieser Art, man schaut in ein Gesicht und sieht dahinter ein anderes, Gesicht um Gesicht um Gesicht. «Du musst wissen, woher Du kommst», schrieb Baldwin seinem Neffen.[17] Die Vergangenheit ist ein Erbe, ein Geschenk und eine Bürde. Man kann ihr nicht ausweichen. Man nimmt sie überallhin mit. Es gibt keinen anderen Weg, als sie kennenzulernen.