ZEHN

Effizienz und die Massen

Die knapp 50 Hektar große Ford-Fabrik in Highland Park, Michigan, wurde 1910 eröffnet und war die größte Fabrik weltweit.

DER NADELSTREIFENDREITEILER KLEIDETE WALTER LIPPMANN so gut wie einen Tiger das Fell, aber eine Ahnung von seinem Scharfsinn boten seine hochgezogenen Augenbrauen, die an eine Pfeilspitze erinnerten. Der Harvard-Absolvent hatte mit William James und George Santayana studiert und schien für eine zwar herausragende, aber eher unauffällige Laufbahn als Professor der Philosophie oder vielleicht der Geschichte bestimmt zu sein, als er sich stattdessen dafür entschied, Reporter zu werden, die Sorte Mann, die sich einen Schreibstift ins Hutband steckte. Nur zählte er keineswegs zu dieser Art von Reportern: Er erfand einen anderen Typ, den gebildeten politischen Kommentator. «Lippmann zu lesen, wenn auch nicht unbedingt zu verstehen, war mit einem Mal die angesagte Sache», schrieb ein vielfach verletzter Rivale.

1914 war Lippmann 25 Jahre alt, hatte bereits zwei messerscharf argumentierende Bücher über amerikanische Politik geschrieben und bei der Gründung der New Republic mitgewirkt. Er war korpulent und schweigsam; seine Freunde nannten ihn Buddha. Lippmann lebte gemeinsam mit einem Who’s Who anderer junger Liberaler in einem schmalen, dreistöckigen Backsteinhaus in der Nineteenth Street in Washington, das von Besuchern, zu denen auch Herbert Hoover zählte, der dort einmal beim Dinner eine (nicht angezündete) Zigarre verspeiste, das «Haus der Wahrheit» genannt wurde. Theodore Roosevelt bezeichnete Lippmann als den «brillantesten jungen Mann seines Alters in den Vereinigten Staaten». Für ältere Männer, die feststellen mussten, dass Lippmann ihre Gedanken aufdröselte wie ein spielendes Kätzchen eine Garnrolle, war das nur ein schwacher Trost. Wie konnte ein so junger Mann mit solcher Autorität schreiben und dabei so großen Anklang finden? Oliver Wendell Holmes sagte, Lippmanns Texte wirkten wie ein Fliegenfänger: «Wenn ich sie anfasse, klebe ich fest, bis ich fertig bin.»[1]

Das Industriezeitalter brachte in den letzten Jahrzehnten des 19. und in den ersten des 20. Jahrhunderts, in der Zeit, in der Lippmann erwachsen wurde, glanzvollen Reichtum für einige wenige, Wohlstand für die Nation, billigere Waren für die Mittelschicht und Elend und Armut für viele. Jetzt, wo die vielen mehr Köpfe zählten als jemals zuvor, wich das Reden von «dem Volk» mehr und mehr dem Reden von «den Massen», der immer größer werdenden Zahl der Armen, Abgezehrten und Hungrigen. Lippmann begann seine Laufbahn wie viele Amerikaner seiner Generation als Sozialist, in einer Zeit, als die bloße Erwähnung des Begriffs «die Massen» auf Sympathien für den Sozialismus schließen ließ; The Masses hieß auch eine in New York erscheinende sozialistische Monatszeitschrift, und vor allem nach der Oktoberrevolution in Russland 1917, mit der die Bolschewiki an die Macht gelangten (das Russische «bolschinstwo» bedeutet «die Mehrheit»), hatte der Begriff «die Massen» einen entschieden «roten» Beiklang. Aber Lippmann bezeichnete die Massen schon bald als «die verwirrte Herde», die gedankenlos und instinktgeleitet und so gefährlich wie eine unmittelbar bevorstehende Stampede sei. Für Lippmann wie auch für eine ganze Generation von Intellektuellen, Politikern, Journalisten und Bürokraten, die sich selbst als «Progressives» bezeichneten – der Begriff tauchte erstmals 1910 auf –, stellten die Massen eine Gefahr für die amerikanische Demokratie dar. Nach dem Ersten Weltkrieg formulierten die Progressives ihre Ziele neu und nannten sich selbst fortan «Liberale».[2]

Nur jemand, der zunächst einen so großen Glauben mit den Massen verband wie Lippmann, konnte am Ende mit so wenig in der Hand dastehen. Dieser Wandel kam durch die Umwälzungen des Zeitalters zustande. In den Jahren nach der Richtungswahl von 1896 wirkte plötzlich alles größer als zuvor, vollgequetscht und anonymer: lauernd bedrohlich und wimmelnd. Selbst die Gebäude waren größer: große Bürotürme, große Fabriken, große Villen, große Museen. Die Quantifizierung wurde zum einzigen Wertmaßstab: wie groß, wie viel, wie viele. Es gab große Unternehmen: große Banken, große Eisenbahn- und große Ölgesellschaften. U. S. Steel, die erste Aktiengesellschaft, deren Wert eine Milliarde Dollar überstieg, entstand 1901 durch die Verschmelzung von mehr als 200 Unternehmen aus der Eisen- und Stahlbranche. Auch die Bundesregierung wurde größer: um die Monopole zu bekämpfen, die Menschen zu schützen und das Land zu pflegen; in dieser Ära wurden Dutzende neuer Bundesbehörden gegründet, vom National Bureau of Standards (1901) über die Forstverwaltung (Forest Service; 1905), die Küstenwache (Coast Guard; 1915) und das Bureau of Efficiency (1916), wobei die letztgenannte Einrichtung, ein Büro der Büros, die Aufgabe hatte, das Größenproblem durch die Zwillingskünste der Organisation und der Akzeleration in den Griff zu bekommen.

Das Wort «Masse» nahm eine Bedeutung an, die alles einschloss, was in einer riesigen und potenziell furchterregenden Menge oder Zahl, ja in einer so gewaltigen Größenordnung vorlag, dass es bestehende Verhältnisse förmlich überwältigte – einschließlich der Demokratie. Der Begriff «Massenproduktion» wurde in den 1890er Jahren geprägt, als die Fabriken größer wurden und schneller arbeiteten, als die Zahl der Menschen, die in ihnen arbeiteten, rasant zunahm, und als die Menschen, denen sie gehörten, steinreich wurden. Das Wort «Massenmigration» lässt sich auf das Jahr 1901 datieren, als fast eine Million Einwanderer Jahr für Jahr in die Vereinigten Staaten kamen, «Massenkonsum auf das Jahr 1905 und «Massenbewusstsein» auf das Jahr 1912. Die «Massenhysterie» war 1925 definiert worden, die «Massenkommunikation» 1927, als die New York Times das Radio als «ein System der Massenkommunikation mit einem Massenpublikum» beschrieb.[3]

Und die Massen selbst? Sie bildeten ein Massenpublikum für die Massenkommunikation und zeigten, jedenfalls nach Ansicht von Psychologen, eine Tendenz zur Massenhysterie – zur politischen Stampede –, was ein politisches Problem darstellte, das James Madison und Thomas Jefferson, die der Ansicht gewesen waren, dass die schiere Größe des Kontinents und das Wachstum seiner Bevölkerung die Republik stärker und ihre Bürger tugendhafter machen würden, nicht vorhergesehen hatten. Die gewaltige ökonomische Ungleichheit des Gilded Age hätten sie sich gar nicht vorstellen können, ihre Ausmaße und ihre Extravaganz ebenso wenig wie die unerträglichen Agonien und die Herausforderungen, die sich für die politische Ordnung durch Millionen in fürchterlicher Armut lebende Männer, Frauen und Kinder ergaben, deren Ansichten mit den Instrumenten der Massenbeeinflussung leicht zu formen waren.

Aktivisten, Intellektuelle und Politiker warben für weitreichende Reformen, zu denen Gesetzesänderungen auf kommunaler, einzelstaatlicher und nationaler Ebene gehörten, und setzten sie auch durch, um diesen Herausforderungen in einer Zeit zu begegnen, die später als Progressive Era bezeichnet werden sollte. Ihre wirkungsvollste Waffe war die journalistische Enthüllung. Das größte Hindernis auf ihrem Weg waren die Gerichte, denen sie durch Verfassungszusätze beizukommen versuchten. Ergebnisse dieser Kampagnen waren die nationale Einkommensteuer, die Federal Reserve Bank, die Direktwahl von US-Senatoren, offene Vorwahlen (Primaries) zur Bestimmung der Präsidentschaftskandidaten, Gesetze zum Mindestlohn und zur Begrenzung der Arbeitszeit, das Frauenwahlrecht und die Prohibition. Fast alle diese Reformen waren seit langer Zeit befürwortet worden, in vielen Fällen zuerst von William Jennings Bryan. Das größte Versagen der Progressives teilte Bryan ebenso mit ihnen: Ihre Weigerung, gegen die Jim-Crow-Gesetze vorzugehen oder auch nur darüber zu diskutieren. Stattdessen stützten sie dieses System. Und alles, was die Progressives bei der Verwaltung der Massendemokratie erreichten, war anfällig für den Faktor, der dem unerbittlichen Walter Lippmann solche Sorgen bereitete: die Formbarkeit der öffentlichen Meinung bis hin zur Massenmanipulation.

I

DER PROGRESSIVISMUS HATTE WURZELN im Populismus des späten 19. Jahrhunderts; der Progressivismus war die Mittelschichtsvariante: drinnen, ruhig, leidenschaftslos. Die Populisten machten eine Menge Lärm; die Progressives lasen Pamphlete. Die Populisten hatten behauptet, die Bundesregierung habe mit ihrer Komplizenschaft bei der Konsolidierung der Macht in den Händen der Banken, Eisenbahngesellschaften und Konzerne die Grundprinziepen der Nation ebenso verraten wie den Willen des Volkes, und außerdem sei die Regierung von Korruption durchsetzt. «Die People’s Party ist der Protest der Ausgeplünderten gegen die Plünderer – des Opfers gegen die Räuber», sagte einer der Organisatoren bei der Gründung der People’s Party 1892.[4] «Auf zwei Kontinenten wurde eine gewaltige Verschwörung gegen die Menschheit organisiert, und sie nimmt die Welt schnell in Besitz», befand ein anderer Redner.[5] Die Progressives traten für die gleichen Anliegen ein wie die Populisten und schlugen sich auch bei Vorstößen gegen die Großunternehmen auf deren Seite, aber während die Populisten generell weniger Regierung wollten, war es bei den Progressives genau umgekehrt. Sie sahen die Lösung in Reformgesetzen und dem Ausbau von Bürokratien, vor allem von Regierungsbehörden.[6]

Die Populisten glaubten, das System sei kaputt; die Progressives glaubten, die Regierung könne es wieder in Ordnung bringen. Konservative, die im Supreme Court in der Mehrheit waren, glaubten nicht, dass es irgendetwas in Ordnung zu bringen gab, doch wenn dieser Fall eintreten sollte, dann würde es der Markt schon regeln. Der Progressivismus umfasste beide Parteien, dem Einfluss der Konservativen in der Rechtsprechung zum Trotz. Nach 1896, als die Demokratische Partei Bryan davon überzeugte, als Demokrat und nicht als Populist für das Präsidentenamt zu kandidieren, rühmten sich die Demokraten, sie hätten die Populisten erfolgreich in die eigene Partei eingegliedert. Senator Jeff Davis aus Arkansas sagte 1905: «Als wir 1896 den großartigsten und wahrhaftigsten Mann, den die Welt je gesehen hat – William Jennings Bryan – zum Präsidentschaftskandidaten nominierten, stahlen wir den ganzen Hass der Populisten; wir stahlen ihr Wahlprogramm, wir stahlen ihren Kandidaten, wir stahlen alles, was sie hatten.» Aber es gab auch Republikaner, die Progressives waren: «Die Bürger der Vereinigten Staaten müssen die mächtigen kommerziellen Kräfte, die sie selbst ins Leben gerufen haben, wirksam kontrollieren», sagte Theodore Roosevelt. Und Woodrow Wilson räumte selbst ein: «Wenn ich mich hinsetze und meine Ansichten mit denen eines Progressiven Republikaners vergleiche, kann ich keinen Unterschied feststellen.»[7]

Viele entscheidende Aspekte des Progressivismus entstammten dem Protestantismus und hier besonders einer als Social Gospel bekannten Bewegung, die sich nahezu alle liberalen Theologen und auch eine große Zahl der konservativen Theologen zueigen machten. Der Name geht auf das Jahr 1886 zurück, in dem ein kongregationalistischer Geistlicher Henry Georges Buch Progress and Poverty als soziales Evangelium («social gospel») bezeichnete. George hatte einen großen Teil des Buches mit evangelikalem Eifer geschrieben und dabei unter anderem behauptet, nur eine Beseitigung der ökonomischen Ungleichheit könne den «Höhepunkt des Christentums – die Stadt Gottes auf Erden mit ihren Mauern aus Jaspis und ihren Perlentoren!» herbeiführen. (Skeptischere und weniger religiöse Liberale hatten schon seit langem den Glauben an Georges Utopismus verloren. Clarence Darrow beispielsweise merkte scharfsinnig an: «Der Irrtum, auf den ich in der Philosophie von Henry George stieß, war ihre hundertprozentige Selbstgewissheit, ihre Einfalt und die geringe Bedeutung, die sie den eigennützigen Motiven der Menschen beimaß.»)[8]

Die Social-Gospel-Bewegung wurde von Seminarprofessoren angeführt – akademischen Theologen, die die Evolutionstheorie akzeptierten und sie für vollkommen vereinbar mit dem Inhalt der Bibel und der Evidenz eines von Gott gelenkten, sinnhaften Universums hielten; gleichzeitig lehnten sie den Sozialdarwinismus von Autoren wie Herbert Spencer, dem englischen Naturwissenschaftler, der die Formel «survival of the fittest» prägte und die Evolutionstheorie zur Rechtfertigung aller Formen von Zwang, Gewaltanwendung und Unterdrückung heranzog, rigoros ab. Der Kongregationalist Washington Gladden, ein Mann, den man in der Öffentlichkeit niemals ohne seinen knielangen Prinz-Albert-Gehrock zu sehen bekam, erklärte, nachdem er 1882 in Ohio einen Streik von Kohlebergleuten als Augenzeuge miterlebt hatte, dass der Kampf gegen die vom Industrialismus hervorgebrachte Ungleichheit eine Christenpflicht sei: «Wir müssen die Menschen davon überzeugen, dass die Christenheit das Recht hat, über dieses Königreich der Industrie zu herrschen, so wie über alle anderen Königreiche dieser Welt.»[9]

Die Social Gospelers übertrugen den Glaubenseifer des Abolitionismus auf das Problem des Industrialismus. Das Oberlin College veranstaltete 1895 eine Konferenz über die «Ursachen und vorgeschlagenen Abhilfen für die Armut». Der Geistliche Charles Sheldon in Topeka, der seine Gemeinde kennenlernte, indem er unter den ärmsten Gemeindegliedern lebte – er verbrachte drei Wochen in einem schwarzen Ghetto –, verkaufte 1897 Millionen von Exemplaren eines Romans mit dem Titel In His Steps: What Would Jesus do? Er handelt von einem Geistlichen und seiner Kirchengemeinde, die sich die Frage stellen, wie Jesus dem Industrialismus begegnen würde (ihre Antwort lautet: mit progressiven Reformen). Methodisten schrieben 1908 ein Soziales Glaubensbekenntnis (Social Creed) und gelobten darin, der Kinderarbeit ein Ende zu bereiten und sich für einen Lohn einzusetzen, der das Existenzminimum sicherte. Diese Initiative wurde bald darauf vom 33 Mitgliedskirchen zählenden Federal Council of Churches aufgegriffen.[10]

William Jennings Bryan, der Held der Plains, schien in allen Belangen ein Social Gospeler zu sein.[11] Nach der Niederlage bei der Präsidentschaftswahl 1896 warf er allerdings sein Kreuz aus Gold ab und widmete sich einer neuen Aufgabe: dem Protest gegen den amerikanischen Imperialismus. Für Bryan passte der Imperialismus weder zum Christentum noch zur demokratischen Tradition Amerikas. Andere Progressives – allen voran protestantische Missionare – waren nicht dieser Meinung und sahen in imperialen Unternehmungen Gelegenheiten, um neue Konvertiten zu gewinnen. Der amerikanische Imperialismus hatte bereits Hawaii ins Visier genommen, allem Widerspruch der indigenen Hawaiianer zum Trotz, an dem sich auch Königin Lili’uokalani beteiligte, die 1891 «das Recht des hawaiianischen Volkes, seine Regierungsform selbst zu wählen», betonte. Die Vereinigten Staaten sollten Hawaii dennoch 1898 annektieren, als Teil der Ansprüche, die während des Spanisch-Amerikanischen Kriegs erhoben wurden.

Die Kubaner hatten bereits seit 1868 versucht, die spanische Herrschaft abzuschütteln, und die Filipinos hatten es ihnen seit 1896 nachgetan. Die Pressezaren William Randolph Hearst und Joseph Pulitzer schlugen sich auf die Seite der kubanischen Rebellen, und da sie eine glänzende Gelegenheit zur Steigerung ihrer Auflagen erkannten, entsandten sie Reporter und Fotografen, die – zumindest in Hearsts Fall – nicht nur über den Konflikt berichten, sondern ihn anheizen sollten. Einer legendären Anekdote zufolge soll Hearst auf das Telegramm eines seiner Fotografen aus Havanna, ein Krieg sei unwahrscheinlich, geantwortet haben: «Sie liefern die Bilder, und ich liefere den Krieg.» Präsident McKinley schickte zur Warnung ein Kriegsschiff nach Kuba, aber auf diesem Schiff, der USS Maine, kam es im Februar 1898 in Havanna zu einer Explosion, die 250 amerikanische Seeleute das Leben kostete. Die Ursache der Explosion war zunächst unbekannt – und später sollte sich herausstellen, dass es ein Unfall gewesen war –, aber Hearst und Pulitzer veröffentlichten in ihren Blättern ein Telegramm des Kapitäns an den Assistant Secretary of the Navy, Theodore Roosevelt, in dem diesem mitgeteilt wurde, die Katastrophe sei kein Unfall gewesen. (Das Telegramm wurde später als Fälschung enttarnt.) Die Zeitungsauflagen schossen in die Höhe. Als der Kongress dem öffentlichen Druck durch die Kriegserklärung an Spanien nachgab, ließ Hearst Feuerwerksraketen auf dem Dach des Redaktionssitzes des New York Journal abfeuern. Pulitzer sollte später seinen Anteil an der Kriegstreiberei bereuen, aber Hearst nicht. Auf der Titelseite von Hearsts wichtigster Tageszeitung prangte die Schlagzeile HOW DO YOU LIKE THE JOURNAL’S WAR?[12]

Der 39 Jahre alte Theodore Roosevelt, zum Kampfeinsatz entschlossen, trat von seinem Posten als Assistant Secretary of the Navy zurück, stellte das 1. US Freiwilligen-Kavallerieregiment auf, erstürmte den San Juan Hill und kehrte als Held zurück. Sogar Bryan, 38, meldete sich zum Kriegsdienst. Er stellte ein Freiwilligenregiment aus Nebraska zusammen und ging zur Kampfausbildung nach Florida, wurde aber nie ins Gefecht geschickt. McKinley hatte offensichtlich darauf geachtet, dass Bryan, sein Rivale im Kampf um das Präsidentenamt, keine Gelegenheit erhielt, persönlichen Ruhm zu erwerben.

Kuba wurde nach den Bestimmungen des Friedensvertrags unabhängig, aber Spanien trat gegen eine Zahlung von 20 Millionen Dollar Guam, Puerto Rico und die Philippinen an die Vereinigten Staaten ab. Eine Besetzung durch die USA und eine amerikanische Kolonialherrschaft war nicht das, was der Bevölkerung der Philippinen vorschwebte, als sie die Herrschaft Spaniens abschüttelte. Die Philippinen erklärten ihre Unabhängigkeit, und Emilio Aguinaldo, der Führer des Aufstands der Filipinos gegen Spanien, bildete eine provisorische verfassungsmäßige Regierung. McKinley verweigerte ihr die Anerkennung, und 1899 schossen US-Truppen bereits auf Filipino-Nationalisten. «Ich weiß, dass Krieg immer große Verluste mit sich gebracht hat», sagte Aguinaldo in einer Rede an das Volk der Philippinen. «Aber ich weiß auch aus Erfahrung, wie bitter die Sklaverei ist.» Bryan gab aus Protest gegen die Annexion sein Offizierspatent zurück und schloss sich einer rasch gegründeten und schlecht organisierten Anti-Imperialist League an, zu deren Unterstützern unter anderem Jane Addams, Andrew Carnegie, William James und Mark Twain zählten. Bryan, ihr bester Redner, sagte, die Annexion der Philippinen sei ein Verrat am Willen des philippinischen wie auch des amerikanischen Volkes. «Die Menschen haben nicht für den Imperialismus gestimmt», sagte er, «kein nationaler Konvent hat sich für ihn entschieden; kein Kongress hat ein entsprechendes Gesetz verabschiedet.»[13]

Der Philippinisch-Amerikanische Krieg war seit seinem Beginn im Jahr 1899 ein ungewöhnlich brutaler Krieg, in dem beide Seiten Gräueltaten begingen, einschließlich der Ermordung philippinischer Zivilisten. Die US-Streitkräfte unterwarfen gefangene Filipinos einer Foltermethode, die als «Wasserkur» bekannt ist und bei der ein Gefangener gezwungen wird, gewaltige Mengen Wasser zu trinken; die meisten Opfer starben. Unterdessen bekamen es amerikanische Politiker in Washington bei der Debatte um die Annexion der Philippinen abermals mit ungeklärten Fragen zum Thema Expansion zu tun, die die Nation während des Krieges mit Mexiko gespalten und Fragen zum Bürgerrecht aufgeworfen hatten, der immer noch unerledigten Aufgabe der Reconstruction. Die Debatte zeigte auch die Grenzen der progressiven Vision: Beide Seiten bedienten sich in dieser Debatte abwechselnd der Rhetorik der weißen Suprematie. Acht Millionen farbige Menschen im Pazifik und in der Karibik, von den Philippinen bis nach Puerto Rico, waren jetzt ein Teil der Vereinigten Staaten, die bereits, in der Praxis, Millionen von Menschen aus ihrer eigenen Bevölkerung wegen ihrer Hautfarbe das Wahlrecht vorenthalten hatten.

Die Anhänger imperialer Herrschaft über den Inselstaat im Pazifik behaupteten im Senat, die Filipinos seien aufgrund ihrer Rassenzugehörigkeit nicht imstande, sich selbst zu regieren. «Wie könnten sie das auch sein?», fragte Albert J. Beveridge, ein Republikaner aus Indiana. «Sie gehören nicht zu den sich selbst regierenden Rassen. Sie sind Orientalen.» Aber Senatoren, die gegen die Annexion waren, wiesen darauf hin, dass die Union, als die Konföderation genau dieses Argument über die Schwarzen vorbrachte, deshalb einen Krieg führte und anschließend eine Besatzungsherrschaft errichtete. «Sie lassen sich auf eine Annexion ein und nehmen ein Element in dieses Regierungssystem auf, Inseln mit einer Bevölkerung von zehn Millionen Menschen der farbigen Rasse, von denen die Hälfte oder noch mehr Barbaren der untersten Stufe sind», sagte Ben Tillman, ein einäugiger Demokrat aus South Carolina, der damit geprahlt hatte, schwarze Männer getötet zu haben, und seine Unterstützung für Lynchmobs bekundete. «Es ist die Einverleibung dieses verdorbenen Blutes, dieses minderwertigen und unwissenden Volkes in den Staatskörper der Vereinigten Staaten, gegen die wir uns wenden.» Tillman erinnerte die Republikaner daran, dass sie vor nicht allzu langer Zeit Sklaven befreit hätten und dann «den weißen Menschen des Südens mit vorgehaltenem Bajonett die Herrschaft und Vorherrschaft jener ehemaligen Sklaven aufzwangen. Warum das unterschiedliche Verhalten? Warum der Sinneswandel? Geben Sie zu, dass Sie 1868 Unrecht hatten?»[14]

Der Zusammenhang zwischen den Jim-Crow-Gesetzen und dem Krieg auf den Philippinen entging den schwarzen Soldaten nicht, die auf dem pazifischen Kriegsschauplatz dienten. Ein Infanterist aus Wisconsin berichtete, der Krieg hätte vermieden werden können, wenn die weißen amerikanischen Soldaten den Filipinos nicht «die heimische Behandlung für farbige Völker» zugemutet und sie nicht «als verdammte Nigger verflucht» hätten. Rienzi B. Lemus vom 25. Infanterieregiment berichtete über den Gegensatz zwischen dem, was er in amerikanischen Zeitungen las, und dem, was er auf den Philippinen erlebte. «Wir lesen jeden Tag, wenn wir von dort eine Zeitung bekommen, dass irgendein armer Neger wegen einer angeblichen Vergewaltigung gelyncht wird», schrieb er an die Lokalzeitung in seiner Heimatstadt Richmond, Virginia, während auf den Philippinen zwei weiße Soldaten nur deshalb wegen der Vergewaltigung einer Filipino-Frau zum Tod durch Erschießen verurteilt worden seien, weil «kein Neger in der Nähe war, den man wegen dieses Verbrechens anklagen konnte».[15]

Der Krieg, der 1898 in Kuba begann und 1902 auf den Philippinen für beendet erklärt wurde, verschlechterte die Lebensbedingungen für Farbige in den Vereinigten Staaten dramatisch. Sie sahen sich in ihrer eigenen Heimat einer Terrorkampagne ausgesetzt. Die Rhetorik der Kriegsbefürworter, voll von rassistischer Hetze, fachte den Rassenhass in Amerika weiter an. «Wenn es nötig ist, wird jeder Neger im Staat gelyncht werden», tönte der Gouverneur von Mississippi 1903. Mark Twain bezeichnete Lynchmorde als eine «Epidemie des blutigen Irrsinns». Nach einer Schätzung wurde in den Südstaaten an jedem vierten Tag ein Mensch gehängt oder bei lebendigem Leib verbrannt. Die Entscheidung des Supreme Court in der Sache Plessy v. Ferguson bedeutete, dass es keine Rechtsmittel mehr gab im Kampf gegen die Rassentrennung, die mit jedem Jahr, das verging, immer brutalere Formen annahm. Die Diskriminierung beschränkte sich auch keineswegs auf den Süden. Städte und Countys im Norden und Westen verabschiedeten Gesetze zum «racial zoning», mit denen Schwarze aus den Wohngebieten der Mittelschicht ausgeschlossen wurden. In Montana lebten 1890 noch in allen 56 Countys des Staates auch Schwarze; bis zum Jahr 1930 wurde ihr Bewegungsspielraum auf nur noch 11 Countys eingeengt. In Baltimore konnten Schwarze in Straßenblocks, in denen Weiße in der Mehrheit waren, keine Häuser erwerben. Der Oberste Gerichtshof bezog sich 1917 im Verfahren Buchanan v. Warley auf den 14. Zusatzartikel, tat dies aber nicht, um gleichen Schutz nach dem Gesetz auch für Schwarze zu garantieren, vielmehr ging es dem Gericht um eine Garantie für das, was es als «liberty of contract» ansah – die Freiheit von Unternehmen, zu diskriminieren.[16]

W. E. B. Du Bois, Dozent an der Atlanta University, ging im Frühling 1899 zu Fuß von seiner Wohnung auf dem Campus zu einer Zeitungsredaktion in der Stadt, um dort einen zurückhaltend formulierten Beitrag über den Lynchmord an Sam Hose, einem schwarzen Farmer, abzugeben, als er in einem Schaufenster Hoses Fingerknöchel ausgestellt sah. Hoses Leichnam war zerstückelt und gegrillt worden, die Leichenteile wurden als Souvenirs verkauft. Du Bois hatte 1895 an der Harvard Universität in Geschichte promoviert, war zu weiteren Studien nach Europa gegangen und anschließend als Pionier einer neuen sozialwissenschaftlichen Methode hervorgetreten, die zu einem Meilenstein der Reformen in der Progressive Era werden sollte: Social Survey. 1896 war er im 7. Bezirk von Philadelphia von Tür zu Tür gegangen und hatte bei den Recherchen für seine Untersuchung The Philadelphia Negro mehr als 5000 Menschen in Einzelinterviews befragt. 1898 hatte er eine akribisch argumentierende Vorlesung über «The Study of Negro Problems» gehalten, die zwar brillant ausgearbeitet, aber auch mit Phrasen wie «gesellschaftliche Phänomene sind eine äußerst sorgfältige und systematische Untersuchung wert» durchsetzt war. Als er an jenem Frühlingstag das zu sehen bekam, was einst Sam Hoses Hände gewesen waren, machte er kehrt, ging zu seiner Wohnung zurück, warf seinen Zeitungstext weg und beschloss, dass «man kein ruhiger, gelassener und distanzierter Wissenschaftler sein konnte, während Neger gelyncht, ermordet und ausgehungert werden».[17]

Viele andere Menschen beschlossen ebenfalls, dass sie nicht ruhig bleiben konnten – und dass sie, wie Du Bois, nicht länger in Staaten wie Georgia leben konnten. «Wir sind in der Minderheit und unbewaffnet», schrieb Ida B. Wells. Stattdessen packten sie ihre Sachen und zogen weg, es begann eine Entwicklung, die später als Great Migration bezeichnet werden sollte, die Abwanderung von Millionen von Schwarzen aus dem Süden in Richtung Norden und Westen. Vor dem Beginn der Great Migration lebten 90 Prozent der Schwarzen im Süden der Vereinigten Staaten. In den Jahren von 1915 bis 1918 zog es 500.000 Afroamerikaner in Städte wie Milwaukee und Cleveland, Chicago und Los Angeles, Philadelphia und Detroit. Weitere 1,3 Millionen verließen den Süden in der Zeit von 1920 bis 1930. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs lebten 47 Prozent der Schwarzen in den Vereinigten Staaten nicht mehr im Süden. In den Städten bildeten sie neue Gemeinschaften und neue gemeinschaftliche Organisationen. Du Bois wirkte 1909 bei der Gründung der National Association for the Advancement of Colored People (NAACP) mit, begann im darauffolgenden Jahr mit der Herausgabe von The Crisis, der Monatszeitschrift der Organisation, und erklärte, deren Titel entspringe der Überzeugung, dass «dies eine entscheidende Zeit in der Geschichte des Vorankommens («advancement») der Menschen ist» – eine Krise für die Menschheit.[18]

Weiße Progressive, die Du Bois’ sozialwissenschaftliche Methoden aufgriffen, schenkten den Jim-Crow-Gesetzen ebensowenig Beachtung wie dem Schicksal der indigenen Nationen. Wenn die Progressives von Ungleichheit sprachen, meinten sie damit, wie schon die Populisten vor ihnen, die Lebens- und Arbeitsbedingungen von weißen Farmern und weißen Lohnarbeitern im Verhältnis zu denen weißer Unternehmer. Doch die Progressives wurden vom Kampf gegen die Rassendiskriminierung beeinflusst, nicht zuletzt durch die von Wells angewandten Methoden des investigativen Journalismus, nicht zuletzt durch ihre Aufdeckung der Lynchmorde: Die Aufdeckung wurde zur schärfsten Waffe der Progressives. Nachdem Theodore Roosevelt bei einer Rede in Anspielung auf John Bunyans Pilgrim’s Progress den «Man with the Muck-Rake» («Mann mit der Mistgabel») verdammte, der «sich hartnäckig weigert, all das zu sehen, was erhaben ist, und seine Augen mit ernster Absicht nur auf das richtet, was schändlich und entwürdigend ist», nannte man den investigativen Journalismus «Muckraking».[19] Zu einem national bedeutsamen Phänomen wurde er bei McClure’s, einer Monatszeitschrift, als 1902 deren Verleger, ein irischer Einwanderer namens Samuel Sidney McClure, jeden seiner drei besten Autoren mit einer Recherche beauftragte, die der Enthüllung von Korruption und Gesetzlosigkeit galt: Ray Stannard Baker sollte über die Gewerkschaften schreiben, Ida Tarbell über Standard Oil und Lincoln Steffens über die Kommunalpolitik in den großen Städten. (Steffens engagierte später dann Walter Lippmann als seinen Assistenten.) Keiner von ihnen mochte es, als Autor bezeichnet zu werden, der überall nur Unrat wittert. Tarbell, die bereits eine Napoleon- und eine Lincoln-Biografie geschrieben hatte, sah sich selbst nicht als Muckrakerin, sondern als Historikerin. Und Baker betonte später: «Wir waren keine Muckraker, weil wir unsere Welt hassten, sondern weil wir sie liebten.»[20]

Tarbells Anklageschrift gegen Standard Oil, ein Katalog von geheimen Absprachen und Korruption, Nötigung, Einschüchterung und unverhüllter Brutalität, erschien zunächst als neunzehnteilige Serie in McClure’s. Standard Oil sei der erste Trust gewesen, schrieb Tarbell, das Vorbild für alle, die noch folgen sollten, und «der am vollkommensten entwickelte existierende Trust». Tarbell, die in unmittelbarer Nachbarschaft eines Ölfeldes aufgewachsen war – neben «großen Ölförderanlagen, die in die Erde eingesunken waren» –, hatte beobachtet, wie Standard Oil seine Konkurrenten vernichtet hatte. Das Unternehmen, gegen das der Staat wie auch lokale Verwaltungen häufig ermittelten, hatte eine Dokumentenspur hinterlassen, der Tarbell mit Hilfe von Archiven hartnäckig nachgegangen war. Aber es waren ihre Texte, die deutlich machten, worum es ihr ging. «Es gab nichts, was zu gut für sie war, nichts, was sie nicht erhofften oder wagten», schrieb sie über eine Gruppe junger Männer, die aus eigener Initiative, aber ohne Kenntnis der Methoden von Standard Oil in diesen Industriezweig einstiegen. «Als diese Zuversicht auf ihrem Höhepunkt war, kam eine große Hand aus dem Nirgendwo, stahl all ihre Errungenschaften und erstickte ihre Zukunft.»[21]

Nach der Veröffentlichung von Tarbells Anklage wurde Rockefeller, der Standard Oil 1870 gegründet hatte, zum meistgehassten Mann Amerikas und Symbolgestalt für alles, was sich im Industriezeitalter in die falsche Richtung entwickelt hatte. Dass Rockefeller Baptist und außerdem ein wohltätiger Stifter war, hielt William Jennings Bryan nicht von der Forderung ab, keine Institution sollte auch nur einen Penny von ihm annehmen. (Bryan weigerte sich, in den Verwaltungsrat des Illinois College, Rockefellers Alma Mater, einzutreten, solange die Verbindungen zu Rockefeller nicht abgebrochen waren.) «Es ist nicht notwendig», so Bryan, «dass alle christlichen Menschen die Rockefeller-Methode des Geldverdienens gutheißen, bloß weil Rockefeller betet.»[22]

Das Muckraking versorgte den Motor des Progressivismus mit Treibstoff. Aber das Automobil wurde von zwei amerikanischen Präsidenten gefahren, Woodrow Wilson und Theodore Roosevelt, Männern, die kaum unterschiedlicher hätten sein können, aber beide zusammen die Macht des Präsidenten enorm erweiterten, während sie Kapitalverflechtungen bekämpften, die Unternehmen zu Monopolen ausbauten.

ALS WOODROW WILSON im Knabenalter Walter Scott las, bastelte er eine Papiermarine, ernannte sich selbst zum Admiral und schrieb für seine Flotte eine Verfassung. Seine Kommilitonen im Abschlussjahr in Princeton nannten ihn den «Musterstaatsmann» des Jahrgangs. An der University of Virginia studierte er Rechtswissenschaft und trat der Debating Society bei. Eine Generation zuvor wäre er wohl Prediger geworden wie sein Vater, doch stattdessen wurde er Professor für Politikwissenschaft.[23] Als Hochschullehrer und später dann im Weißen Haus widmete er sich dem Problem, wie eine im Zeitalter der Entkernungsmaschine entstandene Verfassung dem Zeitalter des Automobils anzupassen war.

Wilson, ein Modernist, der ungeduldig mit seinen Vorfahren umging, war der Meinung, dass die Gewaltenteilung aus dem Gleichgewicht geraten war. In seinem Buch Congressional Government vertrat er die Ansicht, dass der Kongress zu viel Macht habe und von dieser auch noch auf eine unkluge Art Gebrauch mache, indem er Gesetze überstürzt verabschiede und nur selten eines davon wieder außer Kraft setze. Er wandte die Evolutionstheorie auf die Verfassung an, die, so Wilson, «keine Maschine, sondern ein lebendes Wesen ist» und «nicht unter die Theorie des Universums, sondern unter die Theorie organischen Lebens fällt». Er kam zu der Überzeugung, dass sich auch das Amt des Präsidenten entwickelt habe: «Von einer Generation zur nächsten neigten wir immer stärker dazu, den Präsidenten als die einigende Kraft in unserem komplexen System zu sehen, als den Anführer seiner Partei und der ganzen Nation. Es widerspricht nicht den Bestimmungen unserer Verfassung, die Dinge so zu sehen; es widerspricht nur einer sehr mechanischen Theorie ihrer Bedeutung und Absicht.» Die Macht eines Präsidenten ist praktisch unbegrenzt, lautete Wilsons Schlussfolgerung: «Sein Amt enthält all das, was ihn seine Klugheit und seine Kraft verwirklichen lassen.»[24]

Menschen mit schriftstellerischer Begabung, die das Wesen der amerikanischen Demokratie verstehen wollten, neigten in jenen Tagen zu schwungvollen und ausgedehnten Darstellungen des Ursprungs und Aufstiegs der Nation. In den Jahren, in denen Frederick Douglass und Frederick Jackson Turner mit der Geschichte Amerikas rangen, verfasste Wilson eine fünfbändige History of the American People, und der junge Theodore Roosevelt brachte in rascher Folge ein vierteiliges Werk mit dem Titel The Winning of the West heraus. Wilson interessierte sich mehr für die Ideengeschichte, Roosevelt eher für Schlachten.

Roosevelt, der wie ein Bär aussah und wie ein Löwe brüllte, hatte ein Jurastudium an der Columbia Universität absolviert und zugleich ein Abgeordnetenmandat in der New York State Assembly wahrgenommen. Einen großen Teil seiner Zeit verbrachte er auf seiner Ranch im Westen Dakotas. Aber es war der Kampfeinsatz im Spanisch-Amerikanischen Krieg, der Roosevelt landesweiten Ruhm einbrachte. Bei seiner Rückkehr aus Kuba wurde der Republikaner Roosevelt zum Gouverneur von New York gewählt. Als es McKinley zwei Jahre später mit dem demokratischen Kandidaten William Jennings Bryan zu tun bekam, machte er Roosevelt zu seinem Mann für das Vizepräsidentenamt.

«Es war ein Fehler, diesen wilden Mann zu nominieren», sagte McKinleys Berater Mark Hanna immer wieder. Aber dieser wilde Mann erwies sich als ein unermüdlicher Wahlkämpfer. «Er läuft nicht, er galoppiert», sagte man über ihn. In Roosevelt fand Bryan einen Gegner, der ihm gewachsen war. Bryan brachte es bei seinen Wahlkampfreisen auf gut 16.000 Meilen, also legte Roosevelt mehr als 21.000 zurück. Bryan hielt 600 Wahlkampfreden, Roosevelt 673. In der Öffentlichkeit stellte Roosevelt Bryan als Spinner hin, der «kommunistische und sozialistische Doktrinen» im Kopf habe; in privaten Gesprächen bemerkte er, Bryan werde unterstützt von «all den Wahnsinnigen, all den Idioten, all den Schurken, all den Feiglingen und all den ehrlichen Leuten, die schwer von Begriff sind».[25] Für Roosevelt war Bryan der Kandidat der Schwachen im Geiste.

Als McKinley gewann, gaben die Demokraten Bryan die Schuld, der sich zwar die Stimmenmehrheit in den ländlichen Gebieten sicherte, aber in keiner einzigen Großstadt gewonnen hatte, mit Ausnahme von Denver, der Stadt des Silberbergbaus. Die Demokratie schien zum Verhängnis der Demokratischen Partei zu werden. Noch im Jahr 1880 arbeitete die Hälfte der erwerbstätigen Bevölkerung Amerikas auf Farmen; 1920 war dieser Anteil auf ein Viertel gesunken. Ein großer Teil der Erwerbstätigen arbeitete in Fabriken, und eine größer werdende Zahl unter ihnen, vor allem Frauen, arbeitete in Büros. Die Büroangestellten machten 1880 weniger als fünf Prozent der Erwerbstätigen aus, und fast alle Personen in dieser Gruppe waren Männer; 1910 übten mehr als vier Millionen Erwerbstätige eine Bürotätigkeit aus, und die Hälfte von ihnen waren Frauen. 1920 lebte und arbeitete die Mehrheit der Amerikaner in Städten. Bryans Anhänger waren Farmer, und so lange er die Demokraten anführte, war es kaum vorstellbar, dass ein Kandidat dieser Partei ins Weiße Haus einziehen könnte. «I wondhur … if us dimmy-crats will iver ilict a prisidint again» («Ich frag mir, … ob wir Dimmi-kraten jäh wider ein’ Prisidintn wehln wern»), wurde einer Figur in einer Satirekolumne in den Mund gelegt.[26]

Als McKinley 1901 in Buffalo von einem Anarchisten erschossen wurde, stieg der erst 42 Jahre alte Roosevelt zum jüngsten Präsidenten der Nation auf. Der große Bewunderer Lincolns trug an seiner Hand einen Ring mit einer kleinen Haarsträhne, die man dem toten Präsidenten abgeschnitten hatte. Er eilte ständig von einem Raum zum anderen und klopfte Senatoren auf den Rücken, aber er las auch in großen Mengen und gründlich, und obwohl ihn Pulitzers New York World als «das seltsamste Geschöpf, das jemals im Weißen Haus wohnte», bezeichnete, wusste er, wie man mit der Presse umgehen musste. Er überließ den Reportern dauerhaft einen festen Raum im Weißen Haus und kam zu dem Schluss, der Sonntag sei der beste Tag, um ihnen Storys anzubieten, damit ihre Artikel am Wochenanfang erschienen. Roosevelt behauptete gerne, dass er «den Montag entdeckte». Sein dauerhaftes Vermächtnis war der regulierende Staat, die Schaffung eines professionell arbeitenden Verwaltungsapparats der Bundesregierung sowie von wissenschaftlichen Behörden, zu denen der Forest Service und der Reclamation Service gehörten. Kaum weniger bedeutsam war die Reihe von Naturschutzgebieten und Nationalparks, die er einrichtete. Ein großer Teil seiner restlichen Tätigkeit bestand aus Prahlereien. «Ich befürworte nichts Revolutionäres», sagte Roosevelt selbst. «Ich befürworte ein Handeln, das alles Revolutionäre verhindert.»[27]

Im Weißen Haus betrieb Roosevelt Reformen, die von Populisten schon seit langem verlangt worden waren. Mit der Feststellung, dass «Trusts Geschöpfe des Staates sind», machte er sich daran, den ausgeprägten Widerwillen gegen Trusts in regulierende Maßnahmen umzumünzen, die vor allem von der Antitrust-Abteilung des Justizministeriums ausgehen sollten.[28] Nach seiner Wiederwahl im Jahr 1904, einem mühelosen Sieg über Alton B. Parker, einen Konservativen, den die Demokraten aus Verärgerung über Bryan zu ihrem Kandidaten gemacht hatten, rückte Roosevelt weiter nach links und verfolgte – nicht immer mit Erfolg – eine Politik, zu der die Regulierung von Eisenbahngesellschaften, Gesetze zur Reinhaltung von Lebens- und Arzneimitteln und die Beendigung der Kinderarbeit gehörten.

Roosevelt befürwortete auch die Einkommensteuer, die mittlerweile nahezu überall in Europa erhoben wurde. Befürworter der Steuer hatten in den Jahren von 1897 bis 1906 im Kongress 27 Gesetzesvorlagen eingebracht, mit denen sie durch einen Zusatzartikel zur Verfassung das Urteil des Supreme Court in Sachen Pollock, mit dem das Einkommensteuergesetz der Bundesregierung von 1894 aufgehoben worden war, zu Fall bringen wollten. «Ich bin mir sicher, dass das Volk früher oder später einen Verfassungszusatz verlangen wird, mit dem die Erhebung einer Einkommensteuer ausdrücklich genehmigt wird», sagte Bryan bei einer Kundgebung im Madison Square Garden vor einem Publikum von 10.000 Anhängern bei seiner Rückkehr von einer einjährigen Weltreise.[29]

Die Gelegenheit für den Wandel kam in Form eines Erdbebens, das San Francisco 1906 erschütterte, Feuer in der ganzen Stadt verursachte und eine landesweite Panik auf dem Finanzmarkt auslöste, weil die Versicherungsgesellschaften nicht dazu in der Lage waren, die durch das Erdbeben entstandenen Schadensersatzansprüche in Höhe von Hunderten von Millionen Dollar zu bedienen, und zusammenbrachen. Nachdem Roosevelt versprochen hatte, nicht für eine dritte Amtszeit zu kandidieren (ein Versprechen, das er heftig bereute), nominierten die Republikaner für die Präsidentschaftswahl von 1908 William Howard Taft, Roosevelts Kriegsminister. Die Demokraten setzten ein weiteres Mal auf Bryan, der noch einmal, ein drittes und letztes Mal, unter Beweis stellte, dass er zwar eine Zuschauermenge elektrisieren und zum Weinen bringen, aber seiner Partei nicht den Einzug ins Weiße Haus bescheren konnte.

Präsident Taft, ein ehemaliger Bundesrichter, der später auch noch als Chief Justice der Vereinigten Staaten amtierte, war nur zu bereit, eine von der Bundesregierung erhobene Einkommensteuer zu unterstützen, wollte sich aber die eigene Unterschrift unter einem Gesetz ersparen, über das letztlich wieder vor dem Supreme Court verhandelt wurde: «Nichts hat dem Ansehen des Obersten Gerichtshofs mehr geschadet als jenes letzte Urteil», sagte er unter Anspielung auf die Entscheidung des Gerichts im Pollock-Verfahren.[30] Taft entschied sich dafür, einen Verfassungszusatz zu unterstützen, der den Einzelstaaten 1909 zur Ratifizierung zugeleitet wurde.

Verfassungszusätze sind notorisch schwer durch den Kongress zu bringen. Für den 16. Zusatzartikel galt das nicht, und sein Erfolg ist ein Gradmesser für die Reichweite und die Intensität des Progressive Movement. Der Artikel wurde in 42 von 48 Staaten (das waren sechs mehr als erforderlich) mühelos und zügig ratifiziert, wobei die Verabschiedung im Senat der Einzelstaaten mit durchschnittlich 89 Prozent, im Repräsentantenhaus mit 95 Prozent Ja-Stimmen erfolgte. In 19 Abgeordnetenhäusern fiel das Votum sogar einstimmig aus. Der 16. Zusatzartikel wurde im Februar 1913 rechtskräftig. Das Repräsentantenhaus stimmte im Mai über ein Einkommensteuergesetz ab. Das erste gedruckte 1040er-Formular des Bureau of Internal Revenue Service umfasste nur drei Seiten, die Erläuterungen und Hinweise dazu nur eine.[31] Die Amerikaner sollten zu einem späteren Zeitpunkt heftiger über die Einkommensteuer streiten als über fast alles andere, über das sie bis dahin jemals gestritten hatten, aber als sie eingeführt wurde, wollten sie dieses Gesetz unbedingt und dringend haben.

DER INDUSTRIALISMUS HATTE HIMMELHOHE TÜRME errichtet und die Ladenregale mit Billigwaren gefüllt, aber den Arbeitern nur sehr wenig wirtschaftliche Sicherheit gebracht. Die Länder, in denen sich die Industrialisierung vollzog, waren diesem Problem ab den 1880er Jahren durch die Einrichtung von «Arbeiterversicherungen» begegnet – Kranken-, Unfall- und Rentenversicherungen für Lohnarbeiter –, die durch verschiedene Arten von Hilfeleistungen für Familien ergänzt wurden, in erster Linie für arme Mütter oder Witwen mit minderjährigen Kindern. Diese Maßnahmen schufen das, was man später als modernen Wohlfahrtsstaat bezeichnen sollte. In den Vereinigten Staaten waren die frühesten Formen solcher Hilfeleistungen mit dem Militärdienst verbunden. Im Zeitraum von 1880 bis 1910 wurde nach den Bestimmungen für Beihilfeleistungen, die an Veteranen des Bürgerkriegs und ihre Witwen und Nachkommen gezahlt wurden, mehr als ein Viertel des Haushalts der Bundesregierung für Wohlfahrtszwecke aufgewendet. Als der Kongressabgeordnete William B. Wilson aus Pennsylvania einen Rentenplan für alle über 65 Jahre alten Bürgerinnen und Bürger des Landes vorlegte, spielte er bereits im Titel seiner Vorlage auf diese Tradition an, indem er sie mit «Old-age Home Guard of the United States Army» überschrieb. Reformerinnen wie Jane Addams und Florence Kelley in Chicago hatten ab den 1880er Jahren für Arbeitsrechtsreformen zugunsten von Frauen gekämpft, unter anderem für Mindestlöhne, Begrenzungen der Arbeitszeit und die Abschaffung von Kinderarbeit. Ihren ersten Erfolg erzielten sie 1883, als der Staat Illinois ein Gesetz zum Achtstundentag für Frauen verabschiedete. Und dennoch bekam es jede dieser progressiven Reformen, von der Sozialversicherung bis zu den Schutzgesetzen für Lohnarbeiter, mit einem juristischen Hindernis zu tun: Ihre Gegner bezeichneten sie als verfassungswidrig.[32]

Der Oberste Gerichtshof von Illinois verwarf das Gesetz zum Achtstundentag, und der Supreme Court in Washington hob mit einer äußerst bemerkenswerten Serie von Urteilen – die in einer Zeit ergingen, in der die Gerichte nicht nur Interventionen von Regierungsseite unterstützten, sondern auch als Instrumente der Reform auftraten – einen großen Teil der von Progressives erwirkten Arbeitsgesetze wieder auf. Die wichtigste dieser Entscheidungen fiel 1905. Mit einer 5:4-Entscheidung im Fall Lochner v. New York verwarf der Supreme Court ein Gesetz des Staates New York, nach dem Bäcker nicht länger als zehn Stunden pro Tag und sechs Tage in der Woche arbeiten durften, und begründete dies mit einem Verstoß gegen die unternehmerische Freiheit beim Abschluss von Arbeitsverträgen, die Freiheit, Vereinbarungen mit seinen Arbeitern zu treffen, die nach Auffassung der Mehrheit des Gerichts durch den 14. Zusatzartikel geschützt sei. Das konservative Laissez-faire des Gerichts enthielt einen kräftigen Schuss Sozialdarwinismus, wonach an einem Konflikt beteiligte Parteien ihre Meinungsverschiedenheiten eigenständig regeln sollten – und wenn eine Seite dabei im Vorteil war, selbst wenn dieser Vorteil so groß war wie derjenige von Unternehmern gegenüber ihren Beschäftigten, dann sollte diese Seite eben gewinnen. Oliver Wendell Holmes erklärte in einem Minderheitsvotum zum Lochner-Urteil, das Gericht verstoße damit gegen den Willen des Volkes. «Dieser Fall wird auf der Grundlage einer Wirtschaftstheorie entschieden, die ein großer Teil des Landes nicht gutheißt», begann er. Das Gericht, stellte er dann fest, habe außerdem seine Befugnisse weit überschritten und den Sozialdarwinismus in die Verfassung hineingetragen. «Eine Verfassung ist nicht dazu da, eine bestimmte Wirtschaftstheorie zu verkörpern», schrieb Holmes. «Der 14. Zusatzartikel erhebt nicht Mr. Herbert Spencers Social Statics in den Rang eines Gesetzes.»[33]

Das Lochner-Urteil sorgte für eine Intensivierung der Debatte über die Rolle gerichtlicher Revisionsverfahren, die 1803 mit Marbury v. Madison begonnen hatte. Kritiker warfen den Konservativen vor, sie würden «Gerichte in die Politik hineinziehen und die Richter dazu nötigen, Politiker zu werden». Die Progressives stellten sich unterdessen als Advokaten des Volkes dar und betonten, eine lange Tradition der amerikanischen Politik fortsetzend, dass ihre politische Position die Sicht des Volkes auf die Verfassung repräsentiere – im Gegensatz zu einer korrumpierten Rechtsprechung. Roosevelt sollte schließlich zusagen, einen gerichtlichen Widerruf einzuführen – was in letzter Konsequenz die Absetzung von Richtern ermöglichte. «Das Volk selbst», so Roosevelt, müsse «der höchste Urheber seiner eigenen Verfassung sein».[34]

Aus dem einen wie dem anderen politischen Blickwinkel ging es im Kern um die Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Bestimmungen eines Wohlfahrtsstaats. Großbritannien, das über keine geschriebene Verfassung verfügt, legte die Grundlagen dessen, was sich zu einem umfassenden Wohlfahrtsstaat entwickeln sollte – einschließlich Krankenversicherung und Rentensystem –, genau in dem Zeitraum, in dem die Vereinigten Staaten dies versäumten. Wilson wies darauf hin, dass die Verfassung, die noch vor dem Zeitalter der Industrialisierung entworfen worden war, dieses weder vorhersehen noch die von der Industrialisierung geschaffenen Probleme lösen konnte, wenn sie nicht wie ein lebendes Wesen behandelt wurde, das sich, wie ein Organismus, weiterentwickelte. Weiter auf der Linken angesiedelte Kritiker behaupteten, die Gerichte seien zu einem Werkzeug von Unternehmerinteressen geworden. Die Gewerkschaften versäumten es oft, Reformen der Arbeitsgesetzgebung zu unterstützen, weil sie damit rechneten, dass die Gerichte diese Gesetze als verfassungswidrig kassieren würden, und es auch lieber sahen, wenn die Gewerkschaften selbst Vergünstigungen für ihre Mitglieder erreichten, was für den Eintritt in ihre Organisation sprach. (Wenn die Regierung diese sozialen Vergünstigungen herbeiführte, würden die Arbeiter gar keine Gewerkschaften mehr brauchen, befürchteten zumindest einige Gewerkschaftsführer.)[35] Die Konservativen beharrten einstweilen darauf, dass die Gerichte gut daran taten, Unternehmerinteressen zu schützen. Entweder werde der Markt eine Lösung finden, wie den kranken, verletzten und alten Arbeitern zu helfen war – oder die (für Sozialdarwinisten) Schwächsten, denen kein Lebenserfolg bestimmt war, würden eben verkümmern und sterben.

Die amerikanischen Progressives, die sich für eine allgemeine Krankenversicherung einsetzen, hatten aus all diesen Gründen sehr viel weniger Erfolg als ihre Pendants in Großbritannien. 1912, ein Jahr nach der Verabschiedung des National Insurance Act durch das britische Parlament, bildete die American Association for Labor Legislation ein Sozialversicherungskomitee. Die Idee stammte von Isaac M. Rubinow, einem in Russland geborenen Arzt, der sich zum politischen Aktivisten entwickelt hatte und 1913 die bahnbrechende Studie Social Insurance veröffentlichen sollte. Rubinow hatte gehofft, dass eine «Versicherung im Krankheitsfall» die Armut beseitigen würde. Sein Komitee erarbeitete bis 1915 einen Gesetzentwurf, der eine allgemeine medizinische Versorgung vorsah. «Keine andere soziale Bewegung im Rahmen der modernen wirtschaftlichen Entwicklung birgt so viel Nutzen für die Allgemeinheit in sich», schrieb der Herausgeber des Journal of the American Medical Association. «Die Vereinigten Staaten weisen gegenwärtig als einzige große Industrienation ohne gesetzliche Krankenversicherungspflicht ein besonderes Merkmal auf, um das sie kaum zu beneiden sind», schrieb 1916 der Yale-Ökonom Irving Fisher.[36] Das Land sollte dieses besondere Merkmal, um das es so wenig zu beneiden war, noch ein weiteres Jahrhundert lang beibehalten.

Der Kongress debattierte über Rubinows Gesetzesvorlage, die auch den Parlamenten von 16 Einzelstaaten zur Entscheidung zugeleitet wurde. «Deutschland wies 1883 den Weg», sagte Fisher gerne über das Ursprungsland dieser Politik. «Der wunderbare industrielle Fortschritt des Landes seit jener Zeit, die vergleichsweise geringe Armut … und die gute körperliche Verfassung seines Militärs sind vermutlich in erheblichem Ausmaß auf die Krankenversicherung zurückzuführen.» Aber nachdem die Vereinigten Staaten Deutschland 1917 den Krieg erklärt hatten, denunzierten die Kritiker eine nationale Krankenversicherung als «Made in Germany» und als eine Maßnahme, die wohl zur «Verpreußung Amerikas» führen würde. Das Parlament von Kalifornien verabschiedete einen Verfassungszusatz zur Einführung einer allgemeinen Krankenversicherung. Aber als die Abstimmung zur Ratifizierung anstand, inserierte ein Bündnis von Versicherungsunternehmen im San Francisco Chronicle mit der Warnung, das Gesetz «würde in den Vereinigten Staaten den sozialen Ruin heraufbeschwören». Jeder Wahlberechtigte im Staat erhielt mit der Post ein Pamphlet zugestellt, das neben einem Bild des Kaisers noch die Worte «In Deutschland geboren. Wollen Sie das in Kalifornien?» zierten. Das Gesetz wurde abgelehnt. Die Gegner bezeichneten die allgemeine Krankenversicherung als «Unamerikanisch, Unsicher, Unwirtschaftlich, Unwissenschaftlich, Ungerecht und Skrupellos».[37]

Es stellte sich heraus, dass der schnellste Weg durch das Dickicht der Verfassung nicht die Wohlfahrt für Männer, sondern für Frauen und Kinder war. Fast jeder fünfte Arbeitsplatz in den Fabriken der Vereinigten Staaten war 1900 mit einer Frau besetzt.[38] Frauen und Kinder waren nicht wahlberechtigt; mit ihren Forderungen nach Reformen der Arbeitsgesetze und einer Sozialversicherung verlangten sie vom Staat zunächst keine Rechte, sondern Schutz. Mütter stellten ihre Ansprüche an den Staat auf dieselbe Art, wie das Kriegsveteranen taten: Es war ein Anspruch, der auf einem geleisteten Dienst beruhte. Und selbst Frauen, die bisher noch keine Kinder zur Welt gebracht hatten, konnten unter diesem Aspekt als künftige Mütter betrachtet werden. Aus diesem Grund wurde ein großer Teil der frühen Lobbyarbeit für Schutzgesetze zugunsten von Frauen und Kindern vom National Congress of Mothers geleistet, der späteren Parent Teacher Association (PTA). Der National Congress of Mothers, gegründet 1897 von Phoebe Apperson Hearst, der Mutter des Zeitungstycoons, und von Alice McLellan Birney, der Ehefrau eines Rechtsanwalts in Washington, DC, hatte sich zum Ziel gesetzt, als weibliche Hilfstruppe auf die nationale Legislative einzuwirken. «Diese Organisation ist für mich sogar noch bedeutender als die Bürgerkriegsveteranen», erklärte Theodore Roosevelt 1908, «letzten Endes ist die Mutter – und nur die Mutter – sogar ein noch besserer Staatsbürger als der Soldat, der für sein Land kämpft.»[39]

Frauen waren auch Verbraucherinnen. 1899 wurde Florence Kelley, die Tochter eines Abolitionisten, der einst die Republikanische Partei mitgegründet hatte, die erste Generalsekretärin der National Consumers League. Ihr Motto: «Investigate, record, agitate» («Untersuchen, aufschreiben, an die Öffentlichkeit bringen»). 1856 in Philadelphia geboren, hatte Kelley hatte an der Cornell Universität und in Zürich studiert, wo sie zur Sozialistin wurde; 1885 übersetzte sie Texte von Friedrich Engels. In den 1890er Jahren arbeitete sie in Jane Addams’ Hull House in Chicago und schloss ein Jurastudium an der Northwestern University ab. Kelley schloss aus der Lektüre des Urteils im Lochner-Verfahren, dass die Gerichte Frauen anders behandelten als Männer, und fragte sich, ob ein Gesetz zur Begrenzung der Arbeitszeit einer gerichtlichen Überprüfung wohl eher standhalten würde, wenn der Testfall ein Gesetz wäre, das speziell auf die Lage der Arbeiterinnen zugeschnitten worden war. Gerichte in den Einzelstaaten hatten bereits Urteile gefällt, die in diese Richtung wiesen. Der Oberste Gerichtshof von Nebraska verfügte 1902, dass «dem Staat das Recht eingeräumt werden muss, Frauen in ihrer Gesamtheit vor einer solchen Lage zu bewahren und sie zu beschützen; und das besagte Gesetz bewahrt in diesem Ausmaß die Gesundheit und das Wohlergehen der Allgemeinheit.»[40]

Für Frauen, die in der Verfassung gar nicht vorkamen, war der Rückgriff auf konstitutionelle Argumente immer mit Flickwerk verbunden: Sie mussten ausschneiden und an geeigneter Stelle einfügen, brauchten Schere und Klebstoff. In einer Ära, in der der Supreme Court umstandslos Argumenten den Vorzug gab, die den Gleichheitsgrundsatz nicht erfüllten – das Urteil zu Plessy v. Ferguson hatte schließlich die Doktrin des «getrennt, aber gleich» eingeführt, anstatt den Afroamerikanern gleichen Schutz durch das Gesetz zu gewähren –, versuchte es Kelley mit dem Argument, dass Frauen, weil sie körperlich schwächer sind als Männer, eines besonderen Schutzes bedurften.[41]

Der Oberste Gerichtshof von Oregon bestätigte eine tägliche Höchstarbeitszeit von zehn Stunden für Frauen, gegen die ein Wäschereibesitzer namens Curt Muller geklagt hatte. Dagegen legte Muller Berufung beim Supreme Court in Washington ein. Kelley verpflichtete einen Anwalt namens Louis Brandeis, der die Sache Oregons vertreten sollte. Brandeis, der sich einen Namen als «Anwalt des Volkes» gemacht hatte, war 1856 in Kentucky geboren worden, hatte 1876 sein Jurastudium in Harvard abgeschlossen und 1891 Alice Goldmark geheiratet. Ein großer Teil seiner juristischen Kleinarbeit im Fall Muller wurde von der unermüdlichen Reformerin Josephine Goldmark erledigt, die für Kelley arbeitete und außerdem Brandeis’ Schwägerin war.[42] Goldmark wertete Hunderten von Berichten und Studien aus, die von Ärzten, kommunalen Gesundheitsämtern, staatlichen Gesundheitsbehörden, Fabrikinspektoren und den Bureaus of Labor des Innenministeriums stammten und die Schäden belegten, die Frauen durch überlange Arbeitszeiten erlitten. Sie übergab Brandeis einen 113-seitigen gutachterlichen Bericht, den dieser 1908 im Verfahren Muller v. Oregon dem Supreme Court vorlegte. «Das Urteil in diesem Verfahren wird praktisch über die Verfassungsmäßigkeit nahezu aller in den Vereinigten Staaten gültigen gesetzlichen Bestimmungen entscheiden, mit denen die Arbeitszeit erwachsener Frauen begrenzt wird», erklärte Brandeis und vertrat die Ansicht, dass Überarbeitung «für die Gesundheit von Frauen katastrophalere Folgen hat als für die von Männern und bei Frauen auch dauerhaftere Schäden nach sich zieht». Das Gesetz in Oregon wurde bestätigt.

Muller v. Oregon etablierte die Rechtmäßigkeit von Arbeitsgesetzen (für Frauen), die Rechtmäßigkeit von geschlechtsspezififischen Unterschieden in Beschäftigungsverhältnissen und das Gewicht sozialwissenschaftlicher Forschungsresultate bei Gerichtsverfahren. Das «Brandeis-Gutachten» («Brandeis Brief»), wie man es später nannte, machte im Wesentlichen Muckraking zu einem vor Gericht zulässigen Beweismittel. Im Fall Plessy v. Ferguson hatte das Gericht noch jegliche Erörterung der Fakten zur Ungleichheit zwischen den Rassen verschmäht und sich auf die Macht der Tradition berufen, doch Muller v. Oregon schuf die Bedingungen für die Zulassung der Vorlage von Beweismitteln aus der sozialwissenschaftlichen Forschung in dem Fall, der 1954 schließlich zur Aufhebung der Rassentrennung führen sollte, Brown v. Board of Education in Topeka.[43]

«Die Geschichte offenbart die Tatsache, dass die Frau immer vom Mann abhängig gewesen ist», argumentierte Brandeis in Muller v. Oregon. «Durch diesen Umstand vom anderen Geschlecht unterschieden, ist sie in einer eigenen Kategorie angemessen eingestuft, und ein Gesetz zu ihrem Schutz darf seine Gültigkeit behalten, selbst wenn ein gleichlautendes Gesetz für Männer nicht erforderlich ist und keine Gültigkeit behalten könnte.»[44] Kelley nutzte diesen Unterschied als Keil. In den Jahren von 1911 bis 1920 wurden in 40 Bundesstaaten Gesetze verabschiedet, die Frauen Unterstützung in Form von Mütter- und Witwenrenten zusprachen; von 1909 bis 1917 verabschiedeten 39 Bundesstaaten Gesetze zur Höchstarbeitszeit für Frauen, und von 1912 bis 1923 erließen 15 Staaten Gesetze zum Mindestlohn für Frauen.[45]

Aber Kelley und die Anwälte der Frauen hatten sich auf einen faustischen Handel eingelassen. Diese Gesetze beruhten auf der Vorstellung, dass Frauen abhängig seien, und zwar nicht nur von Männern, sondern auch vom Staat. Wenn Frauen jemals die Gleichberechtigung erlangen wollten, stand ihnen dieses umfangreiche Korpus von Gesetzen zum Schutz der Frauen im Weg.

MULLER V. OREGON wies dem brillanten Louis Brandeis eine neue Richtung. Er entwickelte ein Interesse für das neue Tätigkeitsfeld der «Rationalisierung» als Möglichkeit zur Lösung der Probleme in den Beziehungen zwischen Lohnarbeit und Kapital. Brandeis gewann die Überzeugung, dass «Rationalisierung die Hoffnung der Demokratie ist».[46]

Die Rationalisierungsbewegung («efficiency movement») begann mit der Einstellung eines Ingenieurs namens Frederick Winslow Taylor aus Philadelphia durch die Bethlehem Steel Works, die sich von dem neuen Mann eine Beschleunigung der Produktion versprachen. Taylor schlug dafür ein System vor, das er als «Aufgabenmanagement» oder, später, als «Evangelium der Rationalisierung» («The Gospel of Efficiency») bezeichnete. In seinem 1911 erschienenen Beststeller The Principles of Scientific Management erklärte er, wie er die Arbeitsweise der Stahlarbeiter von Bethlehem mit einer Stoppuhr kontrollierte, auf diese Weise den schnellsten Arbeiter, einen «erstklassigen Mann», unter «zehn kräftigen Ungarn», herausfand und das schnellste Tempo errechnete, in dem ein bestimmter Arbeitsgang erledigt werden konnte. Ab diesem Zeitpunkt wurde von allen Arbeitern verlangt, in diesem Tempo zu arbeiten, wenn sie ihren Arbeitsplatz nicht verlieren wollten.[47] Taylor hatte allerdings die meisten der von ihm beschriebenen Personen erfunden. Nachdem er Bethlehem Steel den zweieinhalbfachen Betrag der möglichen Arbeitskostenersparnis durch seine Analysen in Rechnung gestellt hatte, wurde auch er entlassen.[48] Der Taylorismus setzte sich dennoch durch.

Die Rationalisierung versprach eine Beschleunigung der Produktion, eine Senkung der Kosten für Waren und eine Verbesserung der Lebensbedingungen für die Arbeiterschaft, Ziele, die oftmals erreicht wurden. Sie war auch eine Methode zur Minimierung von Streiks und zur Organisation von Arbeitskräften – besonders von Arbeitsimmigranten.

Europäische Einwanderer in die Vereinigten Staaten waren bis 1896 hauptsächlich aus Nord-, West- und Mitteleuropa gekommen, und hier vor allem aus Deutschland und Irland. Nach 1896 kamen die meisten von ihnen aus Süd- und Osteuropa, überwiegend aus Italien und Ungarn. Slawen, Juden und Italiener, summarisch als «new immigrants» bezeichnet, kamen außerdem in sehr viel größerer Zahl als alle bisherigen Einwanderergenerationen aus Europa, manchmal waren es mehr als eine Million pro Jahr. Allein in den zwölf Jahren von 1902 bis 1914 kamen mehr Menschen aus Europa ins Land als in den vier Jahrzehnten von 1820 bis 1860.[49]

Niemand setzte das System der Rationalisierung besser in die Praxis um als Henry Ford. Der vierzigjährige Ford, ein Farmersohn aus Michigan, eröffnete 1903 in Detroit eine Autofabrik, in der Arbeiter, deren Tempo mit der Stoppuhr überprüft wurde, an einem Fließband Fahrzeugteile zusammenfügten. Fords Fabrik stellte im Jahr 1914 knapp eine Viertelmillion Fahrzeuge her, Autos, die nur noch ein Viertel dessen kosteten, was ein Jahrzehnt zuvor der Verkaufspreis gewesen war.[50] Bevor das Automobil auf den Markt kam, besaßen nur Unternehmen große Maschinen. Walter Chrysler erklärte dazu: «Wir stellten die erste Maschine von beträchtlicher Größe in der gesamten Weltgeschichte her, für die jeder Mensch als Käufer infrage kam.»[51] Diente die Eisenbahn im 19. Jahrhundert als Symbol des Fortschritts, so war es das Automobil im 20. Jahrhundert, ein Gebrauchsgegenstand, der für Individualismus und freie Wahl stand. Ford verkündete: «Die Maschinen sind der neue Messias.»[52]

Die Rationalisierung hielt mit der Einführung der «Hauswirtschaft» auch Einzug ins Familienleben.[53] Ford übte mit Hilfe eines «Sociological Department» eine besonders wirksame Kontrolle über das häusliche Leben seiner Arbeiter aus, unter denen sehr viele Einwanderer waren. «Die Arbeitnehmer sollten in ihrem Zuhause reichlich von Wasser und Seife Gebrauch machen, auch bei ihren Kindern, und häufig baden», empfahl eine Broschüre. «Nichts fördert die richtige Lebensführung und die Gesundheit so sehr wie die Reinlichkeit. Beachten Sie, dass die fortschrittlichsten Völker zugleich auch die reinlichsten sind.» Ford gründete auch eine English School, um seine eingewanderten Arbeiter zu amerikanisieren, und bediente sich dabei der gleichen Montagemethoden wie in seiner Fabrik. «Angeboten werden ein Kurs über Industriewesen und Rationalisierung, ein Kurs über Sparsamkeit und Ökonomie, ein Kurs über Familienbeziehungen, einer über Beziehungen im Gemeinwesen und einer über inner- und überbetriebliche Beziehungen», warb Fords English School. «Dies ist das menschliche Produkt, das wir herstellen wollen, und so wie wir die Maschinen in der Fabrik einrichten, damit sie die Art von Automobil herstellen, die uns vorschwebt, so haben wir unser Bildungswesen mit dem Blick auf das menschliche Produkt konstruiert, das wir im Sinn haben.»[54]

Brandeis kam zu der Überzeugung, dass der Taylorismus die Probleme der Massenindustrie und Massendemokratie lösen könne. Während der Vorbereitungen für einen Auftritt vor dem Interstate Commerce Committee, wo es um die Frachtgebühren der Eisenbahn gehen sollte, hielt er eine Besprechung mit Rationalisierungsfachleuten ab.[55] Bei den Hearings vor dem Commerce Committee vertrat er die Ansicht, die Eisenbahnen sollten ihre Arbeit rationeller organisieren, anstatt die Frachtgebühren zu erhöhen. Mithilfe der wissenschaftlichen Betriebsführung könnten die Eisenbahngesellschaften eine Million Dollar pro Tag sparen, so Brandeis. Er setzte sich durch, aber schon bald versuchten ihn Eisenbahnbeschäftigte und Fabrikarbeiter davon zu überzeugen, dass diese Einsparungen zu ihren Lasten gingen. Als Brandeis im darauffolgenden Jahr bei einer Gewerkschaftsversammlung eine Rede hielt, rief ihm eine Frau zu: «Sie können das wissenschaftliche Betriebsführung nennen, wenn Sie wollen, aber ich nenne es wissenschaftliches Antreiben.»[56]

Einige Kongressabgeordnete hegten denselben Verdacht. William B. Wilson, der bereits als Neunjähriger in Kohlenzechen gearbeitet hatte und mit elf Jahren der Gewerkschaft beigetreten war, übernahm 1912 den Vorsitz eines Untersuchungsausschusses, der sich mit dem Taylorismus und anderen Systemen der betrieblichen Arbeitsorganisation befassen sollte. Taylor wurde als Zeuge vorgeladen, und als er bei seiner Aussage von «erstklassigen Männern» sprach, hakte Wilson nach, wie denn mit Männern umzugehen sei, die nicht erstklassig seien und die Taylor als einfältige Zugpferde beschrieben habe. «Ist in der wissenschaftlichen Betriebsführung kein Platz für solche Männer?», wollte Wilson wissen. «In der wissenschaftlichen Betriebsführung ist kein Platz für einen Vogel, der singen kann und nicht singen will», erwiderte Taylor. «Wir haben es nicht … mit Pferden oder mit Singvögeln zu tun», sagte Wilson daraufhin zu Taylor. «Wir haben es mit Menschen zu tun, die Teil der Gesellschaft sind und zu deren Wohlergehen die Gesellschaft organisiert wird.»[57]

Waren Menschen Tiere? Waren Menschen Maschinen? Waren die Maschinen ein Messias? Und war rationelles Arbeiten ein Evangelium? Während die Unternehmen ihre Beschäftigten zu harter Arbeit in höchstem Tempo antrieben, neigte sich eine zunehmende Zahl von Amerikanern dem Sozialismus zu, und das nicht zuletzt, weil keine der beiden großen Parteien eine gute Antwort auf William B. Wilsons angespannten Dialog mit Frederick Winslow Taylor parat hatte. Ein Gewerkschafter aus Schenectady sagte: «Die Leute hatten die Nase gestrichen voll davon, für die Republikaner oder die Demokraten zu stimmen, wenn das Angebot lautete: ‹Bei Kopf gewinne ich, und bei Zahl verlierst du.›» Bei der Präsidentschaftswahl von 1908 stimmten mehr als 400.000 Wahlberechtigte für Eugene Debs, den Kandidaten der Socialist Party. Sozialisten wurden 1911 in 18 Groß- und Kleinstädten ins Bürgermeisteramt gewählt, und mehr als 1000 Sozialisten hatten in insgesamt 30 Staaten öffentliche Ämter inne.[58]

Kopf oder Zahl, diesen Eindruck machten Demokraten und Republikaner auch 1912 noch auf sehr viele Menschen, dem Jahr, in dem die Demokraten Woodrow Wilson nominierten und Theodore Roosevelt auf die Kandidatur bei den Republikanern hoffte. Wilson glaubte, es sei die Pflicht der Bundesregierung, regulierend in dss Wirtschaftsleben einzugreifen, um einfache Amerikaner «vor den Auswirkungen der großen industriellen und sozialen Prozesse, welche sie nicht verändern, kontrollieren oder alleine bewältigen können», zu schützen. Hierin unterschied er sich kaum von Roosevelt. «Das Ziel der Regierung ist das Wohlergehen des Volkes», sagte Roosevelt. «Wilson ist bloß eine weniger virile Ausgabe von mir.»[59]

Die Präsidentschaftswahl von 1912 lief auf ein Referendum über den Progressivismus hinaus, das stark durch die politische Agitation von Frauen beeinflusst wurde. «Mit einer Plötzlichkeit und einer Kraft, die die Beobachter den Atem anhalten ließ, haben sich Frauen in diesem Jahr im landesweiten Wahlkampf in einer Weise engagiert, die man sich in der amerikanischen Politik niemals hätte träumen lassen», war im New York Herald zu lesen, obwohl nur Reporter, die nicht aufgepasst hatten, etwas plötzlich Einsetzendes darin sahen.[60]

Frauen, die seit 1848 offiziell für ihre Bürgerrechte kämpften, hatten mittlerweile in neun Staaten das Wahlrecht erhalten: Wyoming (1890), Colorado (1893), Idaho (1896), Utah (1896), Washington (1910), Kalifornien (1911), Arizona (1912), Kansas (1912) und Oregon (1912). Sie hatten außerdem den Kampf um sehr viel mehr als das bloße Wahlrecht aufgenommen. Das Wort «Feminismus» tauchte in den 1910er Jahren im englischen Sprachraum auf, als eine Generation unabhängiger Frauen, viele von ihnen mit Collegeabschluss – man bezeichnete sie als «Neue Frauen» –, für gleiche Schulbildung, Chancengleichheit, gleiche Staatsbürgerschaft, Gleichberechtigung und nicht zuletzt für die Geburtenkontrolle kämpfte. Diesen letzteren Begriff prägte eine Krankenschwester namens Margaret Sanger bei der Gründung der ersten feministischen Zeitung, The Woman Rebel, im Jahr 1914. Suffragetten gingen 1912 und ein weiteres Mal 1916 in Städten im ganzen Land auf die Straßen, organisierten sich auf dem Campus von Frauencolleges und veranstalteten Hungerstreiks. Sie führten Wahlkämpfe im alten Stil, mit Abzeichen und Bannern. Sie flogen mit Heißluftballons. Sie schmückten Elefanten und Esel. Frauen, die für Streikaktionen ins Gefängnis gewandert waren, fuhren in Häftlingskleidung mit einem «Prison Special»-Zug durch das Land. Sie drapierten sich als Statuen; sie trugen Rot, Weiß und Blau; sie marschierten in Ketten. Sie führten einen moralischen Kreuzzug, im Stil der Abolitionisten, aber auf der Straße, im Stil der Jackson-Demokraten.[61]

Roosevelt hoffte die Nominierung durch die Republikaner gegen Taft durch eine außergewöhnliche Kampagne für direkte Demokratie und soziale Gerechtigkeit zu erringen, indem er die weibliche Wählerschaft für sich gewann, vor allem aber, indem er sich einer anderen progressiven Reform bediente: der direkten Vorwahl. Progressive Reformer hielten das Geschehen bei den Nominierungskonventen für korrupt, sie hatten sich stattdessen für Vorwahlen in den Einzelstaaten eingesetzt, bei denen die Wahlberechtigten ihren eigenen Kandidaten für das Präsidentenamt wählen konnten. Die erste Vorwahl dieser Art wurde 1899 abgehalten; die Reform, angeführt von Robert La Follette aus Wisconsin, gewann 1905 an Stärke. Roosevelts Slogan von 1912 lautete: «Let the People Rule». «Das große, grundlegende Problem, vor dem die Republikanische Partei und unser Volk heute stehen, lässt sich kurz zusammenfassen», erklärte Roosevelt. «Es lautet: Ist das amerikanische Volk imstande, sich selbst zu regieren, über sich selbst zu herrschen, sich selbst zu kontrollieren? Ich glaube das. Meine Gegner glauben es nicht.» Dreizehn Staaten hielten Vorwahlen ab (alle nicht bindend). Roosevelt gewann neun davon.[62]

Die Primaries waren, wie zuvor bereits die geheime Abstimmung, einerseits eine progressive Reform, andererseits ein Teil des Jim-Crow-Systems. Roosevelt musste sie gewinnen, weil er keine echte Chance hatte, beim Nationalkonvent der Republikaner schwarze Delegierte für sich zu gewinnen. Weil die Republikanische Partei unter der weißen Bevölkerung des Südens so gut wie keine Anhänger hatte, waren die einzigen Delegierten aus dem Süden schwarze Delegierte, Männer, die von der Taft-Regierung mit Parteiämtern ausgestattet worden waren. Roosevelt bemühte sich vergeblich, sie von ihrer Anhängerschaft zum Präsidenten abzubringen. «Ich mag die Rasse der Neger», sagte er bei einer Rede in einem Gotteshaus der African Methodist Episcopal Church am Vortag des Konvents. Aber die New York Times brachte gleich am nächsten Tag eidesstattliche Versicherungen, nach denen Roosevelts Wahlkampagne weniger versuchte, schwarze Delegierte zu umwerben, als sie zu bestechen. Nachdem Roosevelt die Nominierung gegen Taft verloren hatte, gründete er die Progressive Party, zu deren Konvent keine schwarzen Delegierten zugelassen wurden. «Diese Partei ist nur dem weißen Mann vorbehalten», sagte einer von Roosevelts Anhängern, ein Anführer der sogenannten Lily Whites.[63]

Aber die Progressive Party war in Wirklichkeit keine Partei nur für den weißen Mann; sie war auch eine Partei für die weiße Frau. Roosevelts neue Partei machte das Frauenwahlrecht zu einem Schwerpunkt ihres Programms, und Roosevelt versprach, Jane Addams in sein Kabinett aufzunehmen.[64] Addams hielt die zweite Nominierungsrede bei diesem Konvent, nach der sie mit einer «Votes for Women»-Flagge durch den Saal marschierte. Bei der Rückkehr in ihr Büro fand sie ein Telegramm eines schwarzen Zeitungsredakteurs mit folgendem Wortlaut vor: «Das Frauenwahlrecht wird mit Negerblut befleckt sein, wenn die Frauen nicht jede Art von Bündnis mit Roosevelt ablehnen.»[65]

Roosevelts Wahlkampf von 1912 stand für einen Wendepunkt in der amerikanischen Politik, indem er auf die neuartige Idee setzte, dass eine vom Präsidenten geführte Administration auf die nationale öffentliche Meinung reagieren solle, ohne Vermittlung durch Parteien oder Kongressabgeordnete. Der Kandidat sei wichtiger als die Partei, behauptete Roosevelt. Er setzte außerdem Filmausschnitte und massenhafte Werbung auf eine Art ein, wie das bis dahin kein anderer Kandidat getan hatte, und gewann so mit den Mitteln der modernen Publicity und unter Umgehung des Parteiensystems, indem er die Wähler direkt ansprach, eine nationale Anhängerschaft für sich. Dass er die Präsidentschaftswahl nicht gewann, tat dem Einfluss dieses neuen Umgangs mit den amerikanischen politischen und konstitutionellen Verhältnissen keinen Abbruch.[66]

Roosevelt gewann 27 Prozent der Wählerstimmen (mehr als jeder andere Kandidat einer dritten Partei bis dahin oder seither jemals erhielt), aber sein Wahlkampf, der vor allem Taft Stimmen kostete, ermöglichte Wilson den Einzug ins Weiße Haus. Zum ersten Mal seit dem Bürgerkrieg wurde ein aus dem Süden stammender Kandidat Präsident. Die Demokraten hatten außerdem zum ersten Mal seit Jahrzehnten eine Mehrheit in beiden Häusern des Kongresses. «Die Herzen der Menschen warten auf uns», sagte Wilson in seiner Inaugurationsrede, die er vor der größten Menschenmenge hielt, die sich jemals bei einer Amtseinführung versammelte.[67] Wilson war von William Jennings Bryan unterstützt worden und belohnte ihn dafür mit der Ernennung zum Außenminister. Bei der Amtseinführung saß Bryan unmittelbar hinter Wilson, ein Sinnbild für den gewaltigen Weg, den der Populismus aus den Prärien von Kansas und Nebraska zurückgelegt hatte.

Nur wenige Präsidenten haben so schnell so viel erreicht wie Wilson, der in rascher Folge eine außergewöhnliche Zahl der von ihm versprochenen progressiven Reformen auf den Weg brachte. Wilson hatte von Roosevelts gutem Verhältnis zur Presse während seiner Zeit im Weißen Haus gelernt und bat deshalb noch im ersten Monat seiner eigenen Amtszeit mehr als 100 Reporter in seine Amtsräume, ging auf alle Fragen ein und gab bekannt, dass er beabsichtige, dies regelmäßig zu tun: Allein in den ersten zehn Monaten nach seinem Einzug ins Weiße Haus gab er 60 Pressekonferenzen. Der Autor von Congressional Government sorgte auch dafür, dass der 63. Kongress 18 Monate lang ohne Pause tagte, länger als jeder andere Kongress vor ihm. Die Legislative senkte die Zollgebühren, reformierte das Bankwesen und die Währungsgesetze, schaffte die Kinderarbeit ab, verabschiedete ein neues Antitrust-Gesetz, das erste Gesetz über den Achtstundentag sowie das erste Hilfsprogramm der Bundesregierung für die Farmer.

Zu Wilsons härtesten Auseinandersetzungen zählte seine Nominierung von Louis Brandeis als Richter am Supreme Court, eine der umstrittensten Ernennungen in der Geschichte dieses Gerichts. Der Streit ergab sich nicht daraus, dass Brandeis der erste Jude war, der an dieses Gericht berufen wurde, obwohl auch das in gewissen Kreisen Widerspruch auslöste, sondern weil Brandeis ein erbitterter Gegner der Plutokraten war. Über die Fälle hinaus, an denen er selbst als Anwalt beteiligt gewesen war, hatte sich Brandeis als eine Art Muckraker erwiesen, etwa durch die Veröffentlichung einer gegen die Plutokratie gerichteten Streitschrift mit dem Titel Other People’s Money and How the Bankers Use It, die sich teilweise so las, als wäre sie von jemandem wie Mary E. Lease verfasst worden. «Die Macht und der Machtzuwachs unserer Finanzoligarchien stammen aus dem Gebrauch der Ersparnisse und des kurzfristigen Kapitals anderer Leute», schrieb er. «Die Fesseln, die Menschen binden, sind aus deren eigenem Gold geschmiedet.» Brandeis führte aus, dass J. P. Morgan und die First National sowie die National City Bank gemeinsam «341 Verwaltungsratssitze in 112 Unternehmen mit Gesamtbetriebsmitteln oder -kapitalisierungen von 22,245 Milliarden Dollar» innehätten, einer Summe, die «annähernd das Dreifache des Schätzwerts allen Immobilienbesitzes in New York» ausmache und größer sei «als der Schätzwert allen Besitzes in den 22 Nord- und Südstaaten, die westlich des Mississippi liegen». Während der Debatten, die im Justizausschuss über Brandeis’ Ernennung geführt wurden, sagte ein Senator: «Das wahre Verbrechen, dessen sich dieser Mann schuldig gemacht hat, ist, dass er die Niederträchtigkeit von Männern in hohen Positionen in unserem Finanzsystem enthüllt hat.»[68]

Wilson kämpfte hart für Brandeis und gewann, und Brandeis’ Präsenz in diesem Gericht war von enormer Bedeutung für den Bestand progressiver Reformen. Aber Wilson scheiterte nicht einfach nur, wie alle Progressives, an der Beseitigung der Ungleichheit zwischen den Rassen; er billigte sie. Zum 50. Jahrestag der Schlacht von Gettysburg sprach er auf dem Schlachtfeld bei einem Treffen von mehr als 50.000 Veteranen der Union und der Konföderierten. «Ein Treffen von wem?», fragte die Washington Bee: Schwarze Soldaten waren nicht dabei. Es war stattdessen ein Treffen zwischen Weißen aus dem Norden und dem Süden, die sich darauf geeinigt hatten, den Bürgerkrieg als einen Krieg um die Rechte der Einzelstaaten zu betrachten und das Thema Sklaverei zu vergessen. «Wir haben einander als Brüder und Waffenkameraden wiedergefunden, die keine Feinde mehr, sondern großzügige Freunde sind, unsere Schlachten sind längst Vergangenheit, und der Streit ist vergessen», sagte Wilson zu den Veteranen in Gettysburg. Eine Woche später ordnete seine Regierung getrennte Toiletten für schwarze und weiße Mitarbeiter des Finanzministeriums an; bald darauf verfügte Wilson die Rassentrennung für den gesamten öffentlichen Dienst und brachte so die Jim-Crow-Gesetze in die Hauptstadt der Nation.[69]

«Es mag andere Präsidenten mit gleicher Gefühlslage gegeben haben», schrieb James Weldon Johnson von der NAACP, «aber Mr. Wilson zeichnte sich durch das unehrenhafte Merkmal aus, der erste Präsident der Vereinigten Staaten seit der Emanzipation zu sein, der Vorurteile gegen den Neger offen duldete und verteidigte.»[70] Das Jim-Crow-System expandierte, weil Reformer, die zuvor für die Bürgerrechte gekämpft hatten, nach dem Ende der Reconstruction im Jahr 1877 dieses Anliegen im Namen einer Versöhnung zwischen den Einzelstaaten und der Bundesregierung und zwischen dem Norden und dem Süden preisgaben. Das war nicht Wilsons Werk; es war das Werk seiner Generation, das Werk der Generation, die vor ihm kam, und das Werk der Generation, die auf ihn folgen sollte. Eine Abdankung vom Kampf, eine Preisgabe der Gerechtigkeit.

II

DER KRIEG IN EUROPA BRACH IM JULI 1914 aus. Krieg in einem Ausmaß, das die Welt bis dahin noch nie erlebt hatte, ein Krieg, der von Rationalisierungsexperten gelenkt und mit in Fabriken hergestellter Munition geführt wurde, ein Krieg ohne Grenzen oder Gnade. Maschinen schlachteten die Massen. Europa fiel auf die Knie. Die Vereinigten Staaten erhoben sich. Der Erste Weltkrieg brachte die Vereinigten Staaten in die Welt. Er markierte das Ende von Europas Herrschaft als Zentrum der westlichen Welt. Dieser Rang wurde nach dem Krieg von den Vereinigten Staaten eingenommen.[71]

Die Amerikaner sahen anfangs nur zu, erstarrt und geschockt von der Entdeckung, dass das gewaltige Dampfschiff des Fortschritts aus dem 19. Jahrhundert seine allzu vertrauensseligen Passagiere an den Rand des Abgrunds befördert hatte. «Die Flut, die uns auf dem ganzen Weg getragen hat, bewegte sich dann unentwegt auf das zu, den großen Niagara», schrieb Henry James.[72] Der Blutzoll im Amerikanischen Bürgerkrieg, der damals so erschütternd groß gewesen war – 750.000 Tote in vier Jahren –, wirkte im Vergleich dazu jetzt geradezu winzig. Allein in den ersten acht Kriegswochen wurden fast 400.000 Deutsche getötet oder verwundet, erkrankten oder wurden vermisst. In wenigen Monaten forderten die Kämpfe 1916.800.000 Opfer unter den Soldaten in Verdun und 1,1 Millionen Opfer an der Somme. Aber auch Zivilisten wurden abgeschlachtet. Die osmanische Regierung massakrierte 1,5 Millionen Armenier. Zum ersten Mal wurde auch mit Flugzeugen Krieg geführt, die Bomben aus großer Höhe abwarfen, als wären die Götter selbst am Werk. Kathedralen wurden mit Artillerie zertrümmert, Bibliotheken bombardiert, Krankenhäuser gesprengt. Bevor der Krieg zu Ende ging, waren fast 17 Millionen Menschen getötet und eine noch weit höhere Zahl verwundet worden.[73]

Welcher geistig gesunde Mensch konnte im Zeitalter des Massenmordens noch an den Fortschritt glauben? Das Schreckgespenst des großen Gemetzels unterhöhlte den Progressivismus, unterdrückte den Sozialismus und produzierte Antikolonialismus. Zugleich befeuerte der Krieg den Fundamentalismus, indem er die unausrottbare Schlechtigkeit der Menschheit vor Augen führte und Prophezeiungen der Apokalypse scheinbar Wirklichkeit werden ließ, als Strafe für die moralische Travestie der Moderne.

Der Dissens der Fundamentalisten mit dem Protestantismus hatte mit der Idee der Wahrheit zu tun und sollte die Geschichte einer Nation, deren Glaubensbekenntnis auf einem ganz besonderen Ensemble von Wahrheiten beruht, maßgeblich beeinflussen. Der Fundamentalismus begann mit einer Ablehnung des Darwinismus. Einige der bekanntesten Prediger des Fundamentalismus sind Südstaatler, die westwärts zogen, wie zum Beispiel der in Alabama geborene texanische Baptist J. Frank Norris, 1,85 Meter groß und hart wie Eichenholz. «Ich wurde bei Mondlicht geboren, in der Wasserdostblüte, kurz nachdem eine schwarze Katze über einen schwarzen Sarg gesprungen war», sagte Norris gerne. 1897 ordiniert, wetterte Norris gegen «diesen der Hölle entstammenden, die Bibel zerstörenden, die Göttlichkeit Christi leugnenden deutschen Rationalismus, der als Evolution bezeichnet wird».[74] Aber die Anfänge des Fundamentalismus finden sich in den Reihen gebildeter Geistlicher im Norden. Unter dem Einfluss schottischer Common-Sense-Philosophen behaupteten frühe Fundamentalisten wie Charles Hodge vom Theologischen Seminar in Princeton, das Ziel der Theologie sei, «die Tatsachen und Grundsätze der Bibel» zu beweisen. Hodge war der Ansicht, der Darwinismus führe in den Atheismus. Für ihn war die Bibel «von jeglichem Irrtum frei», und sein Sohn A. A. Hodge, ebenfalls Professor in Princeton, entwickelte diese Position weiter. (Der jüngere Hodge betonte, dass die Originale der Heiligen Schrift zwar von jeglichem Irrtum frei seien, nicht aber die Abschriften, deren Originale nicht erhalten sind. Diese Unterscheidung entging Hodges Anhängern in der Regel.)

Durch das Beharren auf der buchstabengetreuen Wahrheit der Bibel forderten die Fundamentalisten liberale Theologen und Social Gospelers zum Streit heraus, vor allem nach der 1910 begonnenen Veröffentlichung einer 20-bändigen Serie von Pamphleten unter dem Titel The Fundamentals: A Testimony to the Truth. Die Fundamentalisten betonten, der Daseinszweck einer Kirche sei die Bekehrung der Menschen zu Jesus Christus, und zwar durch die Verkündigung des wirklichen, wortgetreuen Evangeliums, nicht durch das Predigen von guten Werken und sozialer Gerechtigkeit. «Manche Menschen versuchen, aus den sozialen Hilfsdiensten eine Religion zu machen und Jesus Christus dabei wegzulassen», beklagte der Erweckungsprediger und ehemalige Baseballspieler Billy Sunday im Jahr 1912. «Wir hatten genug von diesem gottlosen Sozialhilfeunsinn.»[75]

William Jennings Bryan, Mr. Fundamentalist, war eigentlich gar kein Fundamentalist. Zunächst einmal glaubte er an den Social Gospel; außerdem scheint er niemals ein Exemplar von The Fundamentals besessen zu haben, und als jemand, der sich nicht für theologische Fragen interessierte, machte er sich kaum jemals die Mühe, die buchstabengetreue Wahrheit der Bibel zu verteidigen. «Christus war damit beschäftigt, Gutes zu tun», war die Quintessenz von Bryans Theologie. Bryan wurde irrtümlich für einen Fundamentalisten gehalten, weil er eine Bewegung für das Verbot des Unterrichtens der Evolutionslehre an den Schulen des Landes anführte. Aber Bryan sah diese Kampagne gegen die Evolutionslehre nur als weiteren Ableger seines jahrzehntelangen Kampfes gegen die Plutokratie. Zu einem Karikaturisten sagte er: «Sie sollten mich als Schützen mit einer doppelläufigen Schrotflinte darstellen, der einen Lauf auf den Elefanten richtet, als dieser versucht, sich Zugang zur Staatskasse zu verschaffen, und mit dem anderen Lauf den Darwinismus – den Affen – ins Visier nimmt, als dieser versucht, das Klassenzimmer zu betreten.»[76]

Bryans Problem war, dass er keinen Unterschied zwischen dem Darwinismus und dem Sozialdarwinismus sah, aber sein Zorn richtete sich gegen den Sozialdarwinismus, die Brutalität einer politischen Philosophie, die an nichts anderes mehr zu glauben schien als an das Überleben des Tüchtigsten, oder an das, was Bryan als «das Gesetz des Hasses» bezeichnete – «das gnadenlose Gesetz, durch das die Starken die Schwachen verdrängen und töten».[77] Wie konnte ein Krieg ohne Gnade diese Bewegung nicht in Rage versetzen? Deutschland war der Feind, dasselbe Deutschland, dessen Schul- und Hochschulsystem amerikanischen Colleges und Universitäten als Vorbild gedient hatte, an denen jetzt Eugenik gelehrt wurde, die manchmal auch als Wissenschaft von der Verbesserung der Menschheit» bezeichnet wird: eine Wissenschaft, die die Eliminierung von Personen aus der menschlichen Rasse forderte, deren Fortpflanzung aufgrund ihrer Intelligenz, ihres kriminellen Verhaltens oder ihrer Herkunft unerwünscht war.

Bryan kämpfte keineswegs gegen ein Hirngespinst. Amerikanische Universitäten brachten tatsächlich Eugeniker hervor. Der Zoologe Charles Davenport war Professor in Harvard, als er Statistical Methods, with Special Reference to Biological Variation schrieb. In seinem 1910 erschienenen Buch Eugenics definierte er das Arbeitsgebiet als «Wissenschaft von der Verbesserung des Menschen durch bessere Aufzucht». Der Biologe David Jordan war 1906 Präsident der Stanford University, als er einem Komitee der American Breeders Association (einer von Davenport gegründeten Organisation) vorsaß, dessen Ziel es war, «über Vererbbarkeit in der menschlichen Rasse zu forschen und zu berichten» und ebenso «den Wert überlegenen Blutes» zu dokumentieren wie «die Bedrohung der Gesellschaft, die von minderwertigem Blut ausgeht».[78]

Diese akademische Forschung blieb auch nicht folgenlos. Zwei Drittel der amerikanischen Bundesstaaten verabschiedeten Gesetze zur Zwangssterilisierung, Indiana machte 1907 den Anfang. Madison Grant, der die Zoologische Gesellschaft in New York mitbegründet hatte, ein Mann, der akademische Abschlüsse in Yale und Columbia vorzuweisen hatte, veröffentlichte 1916 das Buch The Passing of the Great Race; Or, the Racial Basis of European History, eine «Erbgeschichte» der menschlichen Rasse, in der er die Nordeuropäer («hellhäutig, mit blondem oder braunem Haar und lichten Augen»), die er als «nordische Rasse» bezeichnete, für den Südeuropäern («den dunkelhaarigen, dunkeläugigen Menschen», die er «die alpine Rasse» nannte) genetisch überlegen erklärte und die Anwesenheit von «Scharen von Juden» und «Mischtypen» beklagte. Grant behauptete, dass in den Vereinigten Staaten die alpine Rasse die nordische Rasse überwältige und dadurch die amerikanische Republik bedrohe, weil «die Demokratie fortschrittsfeindlich ist, wenn zwei Rassen von ungleichem Wert Seite an Seite leben».[79]

Die Progressives verspotteten die Fundamentalisten als antiintellektuell. Aber die Fundamentalisten trugen natürlich ein intellektuelles Argument vor, wenn auch eines, das nicht viele Akademiker hören wollten. William B. Riley, der, wie auch J. Frank Norris, am Southern Baptist Theological Seminary ausgebildet worden war, legte 1917 ein Buch mit dem Titel The Menace of Modernism vor, zu dessen Angriffen auf die Evolutionslehre auch eine allgemeine Attacke auf die Vorherrschaft der an säkularen Universitäten lehrenden liberalen Theologen in der öffentlichen Debatte gehörte – und auf das Blockieren konservativer Stimmen. Konservative, befand Riley, hätten «eine etwa ebenso große Chance, in einem türkischen Harem Gehör zu finden, wie auf eine Einladung zu einem Vortrag in den Räumlichkeiten einer modernen staatlichen Universität». Riley wirkte 1919 bei der Organisation der ersten Versammlung der World’s Christian Fundamentals Associaton mit, zu der 6000 Teilnehmer kamen. Das Grauen des Krieges stärkte die Bewegung, denn es brachte viele Evangelikale zu der Überzeugung, dass die zunehmende Säkularisierung der Gesellschaft für diese groteske Parade der Unmenschlichkeit verantwortlich sei: massenhaftes Abschlachten. «Die neue Theologie hat Deutschland in die Barbarei geführt», behauptete ein Fundamentalist 1918, «und sie wird jede Nation in dieselbe Art von sittlicher Verderbnis führen».[80]

Doch obwohl sich die Amerikaner über das Massenmorden in Europa entsetzten, rückte der Kriegseintritt der Vereinigten Staaten näher. «Solange ich Außenminister bin, wird es keinen Krieg geben», hatte Bryan gelobt, als er in Woodrow Wilsons Regierung eintrat.[81] Aber Bryan gelang es nicht, die Tendenz zu einem Kriegseintritt Amerikas zu stoppen, und 1915 trat er zurück.

Erste Demonstrationen für den Frieden, hauptsächlich von Frauen angeführt, hatte es bereits wenige Wochen nach Kriegsbeginn gegeben. Im Sommer 1914 beteiligten sich 15.000 Frauen in Trauerkleidung an einem Friedensmarsch der Frauen in New York. Unterdessen gingen Frauen weiterhin für das Wahlrecht auf die Straße, beide Ziele verflochten sich miteinander, von der Theorie ausgehend, dass die Frauen, wenn sie wählen dürften, gegen die Entsendung ihrer Söhne und Ehemänner in den Krieg stimmen würden.

Wilson warb 1916 mit dem Versprechen, die Vereinigten Staaten aus dem Krieg herauszuhalten, um seine Wiederwahl. Die Republikaner nominierten Charles Evans Hughes, einen ehemaligen Richter am Supreme Court, der die entgegengesetzte Haltung vertrat. «Eine Stimme für Hughes ist eine Stimme für den Krieg», erklärte ein Senator aus Oklahoma. «Eine Stimme für Wilson ist eine Stimme für den Frieden.»[82]

«Wenn meine Wiederwahl als Präsident davon abhängt, dass ich in den Krieg ziehe, will ich nicht Präsident sein», sagte Wilson im vertraulichen Gespräch. «Er hält uns aus dem Krieg heraus», wurde sein Wahlkampfslogan, und als Roosevelt dies als «unehrenhaftes Sich-Drücken vor der Verantwortung» kritisierte, konterte Wilson: «Ich bin Amerikaner, aber ich glaube nicht, dass irgendjemand von uns eine Nation liebt, die Drohungen ausstößt.»[83]

Wilson hatte dem Frauenwahlrecht seine Unterstützung versagt, aber Frauen, die wählen durften, neigten eher zu einer Abstimmung für den Frieden. Die Suffragette Alice Paul kam zu dem Schluss, dass die von beiden Parteien zurückgewiesenen Frauen eine eigene Partei bräuchten. Die National Woman’s Party marschierte schließlich durch die Straßen von Denver und führte dabei einen Esel namens Woodrow mit, dem man ein Schild umgehängt hatte, auf dem zu lesen stand: «Für Frauen bedeutet Freiheit, gegen die Partei zu stimmen, die dieser Esel repräsentiert.» Paul setzte sich nicht durch. Letztlich waren es die Wählerinnen, die Wilson, indem sie sich hinter die Friedensbewegung stellten, einen knappen Sieg sicherten. Er gewann zehn von zwölf Staaten, in denen Frauen wählen durften.[84]

Aber während Wilson sich auf seine zweite Amtszeit vorbereitete, dominierten Frauen, die für die Gleichberechtigung kämpften, die Nachrichten. In Brooklyn hatten Margaret Sanger und ihre Schwester Ethel Byrne, ebenfalls eine gelernte Krankenschwester, die erste Klinik zur Geburtenkontrolle in den Vereinigten Staaten eröffnet. Sanger erklärte, das Wahlrecht sei nichts im Vergleich zur Bedeutung der Geburtenkontrolle vor allem für arme Frauen, eine Haltung, die auf den ersten Blick auch zu konservativen Eugenikern hätte passen können, es aber nicht tat, weil diese gegen den Feminismus waren. Ethel Byrne wurde wegen Verstoßes gegen das Strafgesetzbuch von New York verhaftet, das jedes öffentliche Gespräch über Empfängnisverhütung untersagte, und im Januar 1917 vor Gericht gestellt. Zeitungsberichte über dieses Verfahren und seine Hintergründe erschienen im ganzen Land. Byrnes Anwalt argumentierte, die Bestimmung im Strafgesetzbuch sei verfassungswidrig, denn sie verletze das Recht einer Frau auf das «Streben nach Glück». Byrne wurde am 8. Januar schuldig gesprochen, im Gefängnis trat sie in den Hungerstreik. Zwei Tage später begannen Alice Paul und die National Woman’s Party mit einer Suffragettenmahnwache vor dem Weißen Haus und führten dabei Schilder mit, auf denen zu lesen war: «Mr. President, wie lange müssen Frauen noch auf die Freiheit warten?»[85]

Die öffentliche Unterstützung für das Frauenwahlrecht brach ein, als der Kriegseintritt der Vereinigten Staaten näher rückte und Kritik am Präsidenten zunehmend illoyal wirkte. Im Januar 1917 veröffentlichte Wilson eine abgefangene Depesche von Arthur Zimmermann, dem deutschen Staatssekretär und Leiter des Auswärtigen Amtes, an den deutschen Botschafter in Mexiko. Zimmermann bat Mexiko darum, als Verbündeter Deutschlands in den Krieg einzutreten, und versprach dafür Hilfe beim Vorhaben, «die ‹verlorenen Gebiete› New Mexico, Arizona und Texas für Mexiko wiederzugewinnen, sollten die USA Deutschland den Krieg erklären».[86] Nur wenige Tage nach Wilsons zweiter Amtseinführung versenkten deutsche U-Boote drei amerikanische Schiffe. Wilson kam zu dem Schluss, dass es keine Möglichkeit mehr gab, sich aus dem Krieg herauszuhalten. Anfang April bat er den Kongress um die Kriegserklärung.

«Die Welt muss sicher gemacht werden für die Demokratie», sagte Wilson vor dem Kongress. Nicht alle Zuhörer waren überzeugt. «Ich lege besonderen Wert auf die Feststellung, Mr. President, dass ich nicht im Namen der Demokratie für den Krieg stimme», erklärte Warren G. Harding aus Ohio im Senat. «Mein wohlüberlegtes Urteil lautet, dass es uns nichts angeht, für welche Art von Regierungsform sich irgendeine Nation auf dieser Erde entscheiden mag. … Ich stimmte heute Abend für den Krieg zur Wahrung amerikanischer Rechte.»[87]

Der Kongress erklärte den Krieg. Aber Wilsons Behauptung, die Vereinigten Staaten kämpften dafür, die Welt «safe for democracy» zu machen, war für viele nicht leicht zu schlucken. Wilson hatte de facto nicht versprochen, die Welt demokratisch zu machen oder gar die Einrichtung demokratischer Institutionen überall auf der Welt zu unterstützen, sondern stattdessen die Bedingungen für eine Stabilität zu schaffen, in der Demokratie möglich war. Es war kein Krieg für den Frieden. Der Krieg erforderte eine massive Mobilisierung: Alle amerikanischen Männer im Alter von 18 bis 45 Jahren mussten sich für den Militärdienst registrieren lassen; fast fünf Millionen von ihnen wurden einberufen. Wie konnte man sie vom Sinn dieses Krieges überzeugen? Wilsons neuer Außenminister Robert Lansing versuchte sich in einer Ansprache vor frisch eingezogenen Rekruten an einer Erklärung. «Wäre es jedem Volk auf Erden vergönnt, seinen Willen zum Ausdruck zu bringen, gäbe es keine Angriffskriege, und wenn es keine Angriffskriege gäbe, dann gäbe es überhaupt keine Kriege, und ein dauerhafter Friede würde auf dieser Erde Einzug halten», sagte Lansing und fügte dabei einen Konditionalsatz an den anderen. «Das einzige Mittel, mit dem ein Volk seinen Willen zum Ausdruck bringen kann, sind demokratische Institutionen», fuhr Lansing fort. «Deshalb wird, sobald die Welt für die Demokratie sicher gemacht ist, … ein weltweiter Friede eine gesicherte Tatsache sein.»[88]

Wilson, der Politikwissenschaftler, versuchte die Unterstützung des amerikanischen Volkes mit einer ausgeklügelten Theorie über die Beziehung zwischen Demokratie und Frieden zu gewinnen. Das funktionierte nicht. Um seine Botschaft besser zu verpacken und mehr öffentliche Unterstützung zu mobilisieren, richtete Wilson das Committee on Public Information ein, eine Propagandaabteilung, und übertrug die Leitung einem 41-jährigen Muckracker-Journalisten aus Missouri namens George Creel, einem Milchgesicht, das sich durch eine Enthüllungsgeschichte über Children in Bondage einen Namen gemacht hatte. Creel übertrug die Muckraker-Methoden der Progressive Era auf die Erzeugung von Kriegsbegeisterung. Seine Abteilung beschäftigte Hunderte von Mitarbeitern und Tausende von Freiwilligen und verbreitete Pro-Krieg-Botschaften über die Printmedien, Radiosendungen und Filme. Sozialwissenschaftler bezeichneten die durch die Kriegspropaganda erzielte Wirkung als «Herdenpsychologie»; der Philosoph John Dewey sprach von der «Einberufung des Denkens».[89]

Die Einberufung des Denkens bedrohte auch die Rede- und Meinungsfreiheit. Der Kongress verabschiedete 1918 einen Sedition Act. Seit der Verabschiedung der Alien und Sedition Acts von 1798 hatte sich der Kongress nicht mehr so unverfroren über den 1. Zusatzartikel hinweggesetzt. Unter Verweis auf den Sedition Act von 1798 waren weniger als zwei Dutzend Personen verhaftet worden. Doch während des Ersten Weltkriegs klagten die Justizbehörden mehr als 2000 Amerikaner wegen Volksverhetzung an, von denen die Hälfte verurteilt wurde. Revisionsverfahren, die es bis zum Obersten Gerichtshof schafften, blieben erfolglos. Pazifisten und Feministinnen und ganz besonders Sozialisten wurden zu Gefängnisstrafen verurteilt. 96 der zu Haftstrafen verurteilten Personen waren Mitglieder der Industrial Workers of the World (IWW), deren Vorsitzender Bill Haywood 20 Jahre Gefängnis erhielt. Eugene Debs wurde zu zehn Jahren Haft verurteilt, weil er eine Rede gehalten hatte, in der er seinen Zuhörern sagte, sie «eigneten sich für etwas Besseres als Sklaverei und Kanonenfutter».[90]

Unter diesem Regime wurde W. E. B. Du Bois, der vermeintlich kompromisslose Anführer und Mitgründer der NAACP, gefügig gemacht. Du Bois hatte in dem 1915 in der Zeitschrift Atlantic veröffentlichten Essay «The African Roots of War» die Ursachen des Konflikts in kolonialen Rivalitäten der europäischen Mächte in Afrika ausgemacht und die Weltordnung angeklagt. «Wenn wir einen echten Frieden wollen, müssen wir das demokratische Ideal auf die gelben, braunen und schwarzen Völker ausdehnen», schrieb Du Bois. Aber nach dem Kriegseintritt der USA lud Creel 31 schwarze Chefredakteure und Verleger zu einer Konferenz nach Washington ein und warnte sie vor einer «Negersubversion». Du Bois verfasste eine Resolution, mit der er sich mehr oder weniger verpflichtete, nicht über die Rassenbeziehungen zu klagen, solange der Krieg noch andauerte, und versprach, dass der Afroamerikaner «nicht dazu neige, in dieser gewaltigen Krise alle seine Beschwerden und Gebrechen aufzulisten». Anschließend schrieb er den ersten seiner zahlreichen Leitartikel für The Crisis und löste dieses Versprechen ein. «Lasst uns, solange dieser Krieg andauert, unsere besonderen Klagen vergessen und unsere Reihen schließen, Schulter an Schulter mit unseren weißen Mitbürgern und den verbündeten Nationen, die für die Demokratie kämpfen», schrieb er in einem Text, der genauso gut von Creel selbst hätte stammen können. Du Bois bat schwarze Männer, die in den Vereinigten Staaten nicht wählen durften, ihr Leben dafür zu geben, die Welt «für die Demokratie sicher» zu machen, und er bat schwarze Menschen, den Kampf gegen Lynchmorde, deren Zahl weiter zunahm, erst einmal aufzuschieben.[91]

«Black bodies swinging in the southern breeze», sollte später Billie Holiday in einer ergreifenden Eulogie singen. «Strange fruit hanging from the poplar trees» («Schwarze Körper schaukeln im Südstaatenwind/Seltsame Früchte hängen an den Pappeln»).[92]

WALTER LIPPMANN HATTE SICH in einem Beitrag in der New Republic für den Kriegseintritt der Vereinigten Staaten ausgesprochen. Sobald dies geschehen war, meldete er sich freiwillig und wurde einem geheimen Nachrichtendienst namens The Inquiry zugewiesen, dessen Aufgabe darin bestand, über die Bestimmungen eines Friedensvertrags nachzudenken, indem man die Landkarte Europas völlig neu zeichnete. The Inquiry benötigte dafür einen beispiellosen Kartenbestand und übernahm kurzerhand die New Yorker Büroräume der American Geographical Society. In deren Bibliothek verfasste der 28-jährige Lippmann einen Bericht mit dem Titel «Die Kriegsziele und die sich daraus ergebenden Friedensbedingungen». Der von Wilson selbst überarbeitete Bericht Lippmanns wurde zu Wilsons Vierzehn Punkten, die der Präsident bei einer gemeinsamen Sitzung beider Häuser des Kongresses am 8. Januar 1918 vortrug. Er rief darin zu einem liberalen Frieden auf, zu dem freier Handel, freie Schifffahrt auf den Meeren, Abrüstung, das Selbstbestimmungsrecht für die kolonisierten Völker und ein Völkerbund gehörten.[93]

Doch bevor Wilson in Friedensverhandlungen eintreten konnte, musste zuerst der Krieg gewonnen werden. Und die Kriegskosten mussten bezahlt werden. Zu diesem Zweck unterzeichnete Wilson ein Steuergesetz, mit dem die Einkommensteuer erhöht, die Steuer auf Unternehmensgewinne verdoppelt, eine Steuerbefreiung für Einkünfte aus Dividenden gestrichen und eine Erbschaftssteuer sowie eine Steuer auf übermäßige Gewinne eingeführt wurden. Der Steuersatz für die wohlhabendsten Amerikaner stieg von zwei auf 77 Prozent, aber die meisten Menschen entrichteten überhaupt keine Steuern (80 Prozent der Steuereinnahmen entstammten den Einkommen des reichsten einen Prozents der amerikanischen Familien). Als die Steuern auf Einkommen und Unternehmenstätigkeit nicht ausreichten, um die Kriegskosten zu decken, gab die Bundesregierung Kriegsanleihen aus. 22 Millionen Amerikaner folgten dem Aufruf zum Kauf von Liberty und Victory Bonds, was zu einer unerwarteten Nebenwirkung des Krieges führte: Er führte einfache amerikanische Bürger in den Kauf von Wertpapieren ein. Die Rhetorik des Kriegskreditprogramms förderte die Idee der Staatsbürgerschaft als einer Form der Geldanlage. Ein Bulletin versprach: «Ein finanzielles Interesse an der Regierungsführung, ob es nun groß oder klein sein mag, ist hilfreich und schafft bessere Bürger.»[94]

Kriege haben seit jeher die Macht des Staates erweitert. Dieser Krieg bewirkte eine Neuordnung des Verhältnisses zwischen Bundesregierung und Wirtschaft und schuf neue Formen der Kooperation, Aufsicht und Regulierung, die der Errichtung eines Wohlfahrtsstaates für Unternehmer gleichkamen. Der National War Labor Board wurde mit der Abwendung von Streiks beauftragt, damit die Munitionsherstellung nicht behindert wurde, während der War Industries Board alle Produktionsprozesse beaufsichtigte, die Teil der Kriegsanstrengungen waren. Die Bundesregierung managte die amerikanische Volkswirtschaft unter der Parole Effizienz. «Die Industriegeschichte beweist, dass vernünftige Arbeitszeiten, faire Arbeitsbedingungen und eine angemessene Lohnskala für eine hohe Produktionsleistung unentbehrlich sind», riet ein Armeebefehl. «Während des Krieges sollte jede erdenkliche Anstrengung unternommen werden, um alle unsere Errungenschaften bei der Verbesserung der sozialen Verhältnisse vollständig zu bewahren.»[95]

Die Regierung machte auch neue Formen der Verfügungsgewalt über die Körper von Bürgerinnen und Bürgern geltend. Eine Bewegung für «gesellschaftliche Reinheit» («social purity») führte einen Feldzug gegen die Ausbreitung von Geschlechtskrankheiten, die zum Thema militärischer Erlasse wurde. «Sie würden die Zahnbürste eines Kameraden nicht benutzen», war in einem Film der Armee zu hören. «Warum sollten Sie seine Hure benutzen?» Eine weitere Kampagne moralischer Art, die Prohibition, lange Zeit ein von Frauen geführter Kreuzzug, trug ebenfalls zur Expansion staatlicher Machtbefugnisse in Kriegszeiten bei. Der Kongress billigte die Prohibition im Dezember 1917 als kriegswichtige Maßnahme. «Kein betrunkener Mann war jemals effizient, ob nun im Zivilleben oder beim Militär», sagte Senator Kenneth McKellar aus Tennessee. Amerikaner, die nicht im Kongress saßen, hatten ihre Zweifel. «Ein Mann wäre ohne Schnaps besser dran, aber dasselbe gilt auch für Kuchen», war die Haltung, die Clarence Darrow einnahm.[96]

Lippmann reiste unterdessen nach Europa und nahm die Arbeit für den von Wilson geplanten Frieden auf. Der ins Londoner Büro der Interalliierten Propagandakommission entsandte Lippmann leitete die Erstellung von Schriften, die nicht auf Amerikaner, sondern auf Deutsche und Österreicher zugeschnitten waren. Flugzeuge und hinter die feindlichen Linien geschickte unbemannte Ballons verbreiteten seine Flugblätter in millionenfacher Auflage. Wie alles, was er schrieb, blieb ihr Inhalt im Gedächtnis haften. Einer die Texte klang so, als wäre der Autor ein gefangener deutscher Soldat. «Macht euch keine Sorgen um mich. Der Krieg ist für mich vorbei. Ich werde gut verpflegt. Die amerikanische Armee gibt ihren Kriegsgefangenen dieselben Rationen, die auch die eigenen Soldaten erhalten: Rindfleisch, Weißbrot, Kartoffeln, Dörrpflaumen, Kaffee, Milch, Butter.» Exemplare dieses Flugblatts wurden in den Tornistern zahlreicher desertierter deutscher Soldaten gefunden.[97] Lippmann begann sich zu fragen, wie leicht das Denken der Menschen eigentlich zu steuern war.

Als der Krieg dem Ende entgegenging, begann das Rechnen. Die amerikanischen Verluste waren im Vergleich zu den gewaltigen Verlusten der europäischen Nationen nahezu unbedeutend. Die Amerikaner verloren 116.000 Mann, Frankreich hatte 1,6 Millionen, Großbritannien 800.000 und Deutschland 1,8 Millionen Tote zu beklagen. Städte in ganz Europa lagen in Schutt und Asche; Amerika blieb unversehrt. Europa, das vor dem Krieg aus 17 Ländern bestand, war jetzt in 26 Länder aufgeteilt, die alle hoch verschuldet waren, in erster Linie bei den Amerikanern. Vor dem Krieg schuldeten die Amerikaner 3,7 Milliarden Dollar dem Ausland; nach dem Krieg waren Ausländer mit 12,6 Milliarden Dollar bei Amerikanern verschuldet. Selbst die fürchterliche Grippeepidemie, die 1918 weltweit 21 Millionen Menschenleben forderte, kostete nur 675.000 Amerikaner das Leben. Der Krieg ruinierte die Volkswirtschaften in Europa, die amerikanische boomte. Die Stahlproduktion der Vereinigten Staaten stieg in den Jahren von 1913 bis 1920 um ein Viertel; im Rest der Welt ging sie um ein Drittel zurück.[98]

Der Waffenstillstand kam am 11. November 1918, als Deutschland den Kapitulationsbedingungen zustimmte, die an Wilsons – von den Alliierten selbst nicht rückhaltlos begrüßten – Vierzehn Punkte gebunden waren. Mit einer außergewöhnlichen Abkehr von der Konvention beschloss Wilson, die 1300 Personen starke Delegation der Vereinigten Staaten bei der Pariser Friedenskonferenz im Januar 1919 persönlich anzuführen. Das passte zu seinem ausgreifenden Amtsverständnis; nicht alle teilten diese Auffassung. Viele Amerikaner waren dagegen, dass der amerikanische Präsident amerikanischen Boden verließ. Und wessen Interessen sollte er vertreten? «Mr. Wilson ist in keiner Weise befugt, zu diesem Zeitpunkt für das amerikanische Volk zu sprechen», erklärte Theodore Roosevelt.[99] Artikel II, Abschnitt 2 der Verfassung legt fest, dass der Präsident befugt ist, Verträge zu schließen, aber für die Ratifizierung bedarf es einer Zweidrittelmehrheit im Senat. Bemerkenswert – und fatal – war, dass Wilson zu dieser Konferenz nicht einen einzigen Senator der Republikaner mitnahm.

Wilson traf zunächst auf überschäumende Begeisterung und Hoffnung. Menschenmengen säumten die Straßen von Paris, um ihn als «den Gott des Friedens» zu begrüßen. Dieser Empfang war nicht eben dazu angetan, sein Sendungsbewusstsein zu mindern. Lippmann berichtete: «Die Hotels waren vollgestopft mit Delegationen, die repräsentierten, die so taten, als repräsentierten sie, und die hofften, jede Gruppe von Menschen auf dieser Welt zu repräsentieren.» Besonders erwartungsvoll wurde Wilson von Delegierten aus staatenlosen und kolonisierten Gesellschaften empfangen – von Ägyptern, Indern, Chinesen, Koreanern, Arabern, Juden, Armeniern, Kurden. Der junge Ho Chi Minh, der künftige Staatspräsident Nordvietnams, der damals in Paris lebte, unterbreitete den führenden Politikern der Welt eine Petition mit den «Forderungen des Volkes von Annam»: «Alle unterworfenen Völker sind von Hoffnung erfüllt durch die Aussicht, dass sich für sie ein Zeitalter des Rechts und der Gerechtigkeit auftut.» Er bemühte sich um ein Treffen mit Wilson, aber ohne Erfolg. Doch Wilson hinterließ ein bleibendes Vermächtnis: Seine Rhetorik von der Selbstbestimmung trug zu einer Welle von Protesten im Nahen Osten und in Asien bei, die von breiten Volksschichten getragen wurde, einschließlich einer Revolution in Ägypten im Jahr 1919, machte den Nationalstaat zum Ziel staatenloser Gesellschaften und beflügelte die Entstehung und Stärke eines antikolonialen Nationalismus.[100]

W. E. B. Du Bois trat die Reise nach Paris vier Tage nach Wilson an. Er fuhr mit einem Schiff, das für Journalisten bestimmt war. Du Bois reiste offiziell im Namen der NAACP und als Wissenschaftler, der Material für eine Geschichte des Krieges sammeln wollte, aber er war außerdem vor Ort, um an einem Panafrikanischen Kongress teilzunehmen, der drei Tage lang im Grand Hotel am Boulevard des Capucines zusammenkam. Und er mag durchaus auch in dem Bestreben nach Paris gereist sein, seine Reputation wiederherzustellen, die durch seine dringende Empfehlung an schwarze amerikanische Mitbürger, ihre Klagen zurückzustellen und jedes nur erdenkliche Opfer für den Krieg zu bringen, schweren Schaden genommen hatte. 1917 waren 30 schwarze Männer gelyncht worden, im darauffolgenden Jahr waren es doppelt so viele, und 1919 waren es 76, darunter zehn Veteranen, von denen manche immer noch ihre Uniform trugen, nachdem sie, wie manche Leute fanden, im falschen Krieg gekämpft hatten.[101]

WILSON BEKAM IN FRANKREICH vieles von dem, was er wollte, aber nicht den Frieden, den er wollte, oder den Frieden, den die Welt brauchte. Stattdessen erkrankte der Präsident in Paris, wahrscheinlich durch den ersten in einer Reihe von Schlaganfällen. Außerdem stieß seine Anwesenheit auf wachsende Ablehnung, je mehr sich die Verhandlungen in die Länge zogen.[102] «Fast alle erfahrenen Kritiker sind der Meinung, dass er hätte in Amerika bleiben … sollen», kommentierte H. G. Wells. Noch heftigere Antipathien erregte Wilsons Frau Edith, die ein verwüstetes Europa in der Rolle einer Touristin zu besuchen schien. «Es mag trivial wirken, wenn wir diese scheinbaren Geringfügigkeiten in einer Geschichte der Menschheit verzeichnen», räumte Wells ein, «und doch waren es Kleinigkeiten wie diese, die der Friedenskonferenz des Jahres 1919 einen Hauch von Oberflächlichkeit gaben».[103]

Die Macher des Vertrags, in erster Linie die Vereinigten Staaten, Großbritannien, Frankreich und Italien, zeichneten die Landkarte Europas auf eine ganz andere Art neu, als Walter Lippmann dies in den Büroräumen der American Geographical Society getan hatte. Sie balkanisierten Europa, indem sie neue Staaten schufen, zu denen unter anderem die Tschechoslowakei, Jugoslawien, Polen und Finnland zählten. Und sie bestraften Deutschland. Der Vertrag fesselte die deutsche Industrie. Er entzog Deutschland die Kontrolle über die eigene Politik, die Verhältnisse im eigenen Land. Er erlegte Deutschland Reparationsleistungen im Wert von 33 Milliarden Dollar auf. «Wenn ich die Dinge von oben, von unten und von allen Seiten betrachte, sehe ich in diesem Vertrag nur endlose Schwierigkeiten für Europa», schrieb Lippmann. Die New Republic kam zu dem Schluss, dass «der Völkerbund nicht mächtig genug ist, um den Vertrag zu erfüllen», und sprach sich gegen ihn aus, was eine besonders schwierige Entscheidung für Lippmann war, der die Leitartikel schrieb, die ihn verdammten. Das Magazin druckte außerdem in Fortsetzungen The Economic Consequences of the Peace, eine vernichtende Polemik des jungen britischen Ökonomen John Maynard Keynes. Keynes nannte Wilson einen Narren, einen «blinden und tauben Don Quijote», wies darauf hin, dass der Friedensvertrag nur die Entbehrungen der Kriegszeit verlängere, und warnte davor, dass er Europa ins Elend stürzen werde – in «die rasche Herabdrückung der Lebenshaltung der europäischen Bevölkerung auf einen Punkt, der für manche den tatsächlichen Hungertod bedeuten wird».[104]

Wilson glaubte, dass alle Unzulänglichkeiten der Friedensbedingungen durch die Gründung des Völkerbundes angegangen werden könnten, denn alle vom Vertrag geschaffenen Probleme könnten, so dachte er, dort gelöst werden. Allein der Völkerbund konnte seiner Ansicht nach einen dauerhaften Frieden schaffen. Zwei Tage nach seiner Rückkehr in die Vereinigten Staaten legte er den Versailler Vertrag dem Senat vor, erläuterte seine Bestimmungen, einschließlich der Regelungen für die Gründung des Völkerbundes, und fragte: «Wagen wir es, ihn abzulehnen und der Welt das Herz zu brechen?»[105]

Die geringe Unterstützung, die Wilson im Senat erfuhr, kam von Parteifreunden aus den Reihen der Demokraten; die Republikaner erwiesen sich als unnachgiebig. Henry Cabot Lodge, der republikanische Vorsitzende des Außenpolitischen Ausschusses des Senats, ließ den 264 Seiten umfassenden Vertrag drucken, kündigte an, dass er Hearings zum Thema ansetzen werde, und stellte die Angelegenheit dann faktisch zurück. Er verschleppte sie zwei Wochen lang, während er jedes Wort laut vorlesen ließ.[106]

Wilson, immer noch gesundheitlich angeschlagen, beschloss, die Nation in Stellung zu bringen. Er verließ Washington am 3. September 1919 mit dem Zug für eine Vortragsreise, die ihn durch 17 Bundesstaaten führen sollte. «Ich versprach unseren Soldaten, als ich sie bat, zu den Waffen zu greifen, dass dies ein Krieg sei, der allen Kriegen ein Ende setzen solle», sagte er zu seiner Frau. «Wenn ich nicht alles tue, was in meiner Macht steht, um den Vertrag wirksam werden zu lassen, bin ich ein Faulenzer und kann diesen Jungs nie mehr in die Augen sehen.» In Nevada begann es in seinem Gesicht zu zucken; in Utah schwitzte er seinen Anzug durch; in Wyoming redete er zusammenhanglos. In Colorado schließlich, am 2. Oktober 1919, stolperte er auf den Stufen zum Rednerpodium. «Ich bin wohl entzweigegangen», sagte er. Seine linke Körperhälfte war gelähmt. Fünf Monate lang versteckte man ihn im Westflügel des Weißen Hauses, wo ihn niemand zu sehen bekam, nicht einmal sein Kabinett.

Edith Wilson verbannte die Öffentlichkeit aus dem Amtssitz. Selbst Mitglieder des Senats wussten nicht über Wilsons Gesundheitszustand Bescheid. Als der Senat sich um einen Kompromiss bemühte und der Präsident nicht reagierte, blieb dem Senat nur die Schlussfolgerung, dass der Präsident nicht kompromissbereit war.[107] Im März 1920 lehnte der Senat den Versailler Vertrag – und den Völkerbund – ab, für eine Annahme fehlten sieben Stimmen. Die Chance für einen dauerhaften Frieden kam und ging wieder, in aller Stille.

III

1922, IN DEM JAHR, in dem er 32 Jahre alt wurde, schrieb Walter Lippmann ein Buch mit dem Titel Public Opinion, in dem er zu dem Schluss kam, dass in einer modernen Demokratie den Massen, wenn man sie aufforderte, Entscheidungen über Dinge zu treffen, die über ihre unmittelbaren Kenntnisse weit hinausgingen, zu viel abverlangt wurde. «Entscheidungen werden in einem modernen Staat eher in der Interaktion zwischen öffentlicher Meinung und Exekutive getroffen und nicht im Austausch zwischen Kongress und Exekutive», hatte er bereits zu einem früheren Zeitpunkt festgestellt.[108] Die Massendemokratie kann nicht funktionieren, hatte Lippmann argumentiert, weil die neuen Techniken der Massenmanipulation – insbesondere die Massenwerbung – es mit sich brachten, dass eine winzige Minderheit sehr leicht die Mehrheit davon überzeugen konnte, all das zu glauben, was sie diese glauben machen wollte.

Die größte Hoffnung für die Massendemokratie hätte vielleicht die gewissenhafte und unerschütterlich aufrichtige Berichterstattung sein können, aber sie war nach Lippmanns Auffassung aufgrund der Kluft zwischen Fakten und Wahrheit zum Scheitern verurteilt. Reporter protokollieren Ereignisse und liefern Fakten, aber «sie können nicht die Gesellschaft mit Episoden, Begebenheiten, Eruptionen regieren», schrieb er.[109] Um regieren zu können, brauchen Menschen die Wahrheit, den Sinn des Ganzen, aber sie können in der Morgenzeitung gar nicht genug lesen und in den Abendnachrichten auch nicht genug hören, um Fakten in Wahrheit verwandeln zu können, wenn sie den ganzen Tag lang angetrieben werden wie Zugpferde.

Die Lösung, die Lippmann für dieses Problem vorschlug, war absurd. Sie entstand im Kopf eines Mannes, der die Welt mit hochgezogenen Augenbrauen begrüßte. Er schlug vor, dass die Regierung zehn «Informationsbüros» («Bureaus of Intelligence») einrichten solle, jeweils eines für jedes im Kabinett vertretene Ressort, in denen sachkundige und auf Lebenszeit («und mit Ferienjahren zur Fortbildung und Schulung») ernannte Intellektuelle alle Fakten zusammenstellten und der Masse der Bevölkerung die Wahrheit erläuterten.[110] Er rang sich schließlich zu der Einsicht durch, wie töricht dieses Konzept war, aber das, was tatsächlich geschah, war sehr viel schlimmer: Gegen Ende des Jahrzehnts sollte die Steuerung der öffentlichen Meinung in Gestalt von «Public Relations» zu einem Geschäft werden.

Noch vor diesem Zeitpunkt sollten die Frauen das Wahlrecht erhalten, die Zahl der Wahlberechtigten verdoppelte sich, und das Problem verschärfte sich. Der 19. Zusatzartikel, der im August 1920 ratifiziert wurde, war das letzte verfassungsrechtlich wirksame Gesetz der Progressiven Ära. Es erwies sich als ein durchwachsener Sieg. Frauen erlangten das Wahlrecht erst, nachdem sich der Stil der Parteipolitik verändert hatte, weg von der volksnahen Politik der Umzüge und Märsche (die mit einer hohen Wahlbeteiligung verbunden war) und hin zu einer im privaten Rahmen verankerten, domestizierten Politik der Massenwerbung (und zu einer niedrigeren Wahlbeteiligung). Eine Feministin merkte bereits 1926 an: «Es ist ein Unglück für die Frauenbewegung, dass sie politische Rechte für Frauen genau in dem Zeitraum erkämpft hat, in dem politische Rechte weniger wert sind, als sie es zu jedem beliebigen Zeitraum seit dem 18. Jahrhundert waren.»[111]

Das Erlangen des Wahlrechts spaltete außerdem die Frauenbewegung in jene, die die vollständige Gleichberechtigung erreichen wollten, und jene, die erkannten, dass die Gleichberechtigung einen kompletten Bestand an Arbeitsschutzgesetzen obsolet machen würde, und dies ablehnten. Sogenannte «Equalizers» gründeten die Women’s League for Equal Opportunity und die Equal Rights Association, sie bemühten sich um die Verabschiedung des «Equal Rights Amendment», das dem Kongress erstmals im Jahr 1923 vorgelegt wurde, und begegneten den Schutzgesetzen mit Skepsis und Zynismus: «Männliche Arbeiter wollten die Schutzgesetze für Frauen nur, damit sie ihnen unter dem Deckmantel des Kavaliers die Arbeitsplätze wegnehmen können», schrieb eine Equalizerin 1929. Die Anhängerinnen der Schutzgesetze gründeten unterdessen die League of Women Voters.[112] Als der Zusatzartikel zur Gleichberechtigung ein halbes Jahrhundert später schließlich kurz vor der Verabschiedung stand, sollte dieselbe Spaltung, in den Reihen der Frauen, dafür sorgen, dass er scheiterte.

Bei den Präsidentschaftswahlen des Jahres 1920 triumphierte der Republikaner Warren G. Harding mühelos über den Demokraten, Gouverneur von Ohio und progressiven Reformer James Cox und seinen relativ unbekannten Mitbewerber, Assistant Secretary of the Navy Franklin Delano Roosevelt, der hauptsächlich wegen seines berühmten Nachnamens ausgewählt worden war. Wilsons Idealismus und Internationalismus waren ebenso passé wie eine Ära der Reformen. Harding wurde von einer ansteigenden Welle des Konservatismus ins Weiße Haus getragen, einer Gegenreaktion auf die progressiven Reformen, die konservativen Kräften als Verrat an den Gründungsprinzipien der Nation und vor allem an der Verfassung galten. «Ich muss meinem Glauben an die göttliche Inspiration der Gründerväter Ausdruck verleihen», bekannte Harding in seiner Inaugurationsrede. Er wies die Library of Congress an, das Original der Verfassung – das unterzeichnete Pergament – aus dem Magazin zu holen und einen nationalen Schrein für das Dokument zu errichten. Er ernannte James Montgomery Beck – Mr. Constitution –, einen ehemaligen Unternehmenssyndikus, der eine Reihe außerordentlich beliebter Bücher verfasst hatte, in denen er die Verfassung erklärte, zum Solicitor General.[113]

«Die Verfassung ist weder der Fels von Gibraltar, der heil dem unaufhörlichen Spülen von Zeit und Umständen widersteht, noch ist sie eine Sandbank, die langsam von den Wellen weggeschwemmt wird», schrieb Beck. «Man kann sie eher mit einem Schwimmdock vergleichen, das an seinem Ankerplatz fest vertäut ist und deshalb kein Spielball der Wellen wird, aber mit dem Wechsel der Zeit und Lage steht und fällt.» Thomas Reed Powell, ein Juraprofessor, der sich Becks Werk in einer etwas geringschätzigen Rezension in der New Republic vornahm, merkte an, dass seine Verfassung sich weder vorwärts noch rückwärts bewege: sie «wackelt auf und ab», wie Wackelpudding. Powell schlug vor, einen Gedichtband mit «Becksniffian Songs of Innocence» zu verfassen, und gab dazu diese Kostprobe: «The Constitution is a dock/That’s moored, yet tosses to and fro./It’s not a beach; it’s not a rock./And that is why we love it so» («Die Verfassung ist ein Pier,/Vertäut und doch beweglich./Sie ist kein Fels, sie ist kein Strand/Und deshalb ist sie so beliebt»).[114] Die Fehde zwischen Beck und Powell war keine belanglose Rangelei, sie verwies vielmehr auf eine tiefe und sich ausdehnende Kluft. Die Auseinandersetzung über das Wesen der Verfassung hatte sehr viel gemeinsam mit dem Streit zwischen Protestanten, die an eine buchstabengetreue Auslegung der Bibel glaubten, und solchen, die das nicht taten. Beck war ein konstitutioneller Fundamentalist. Powell glaubte an Evolution.

Hardings Agenda der Reversion progressiver Reformen, die er in seiner Inaugurationsrede skizzierte, verband das Verfassungsverständnis von Solicitor General Beck mit Frederick Winslow Taylors Evangelium der rationellen Arbeitsweise. Der Taylorismus war mittlerweile auch auf die Büroarbeit übertragen worden, jene Art von Arbeit, die auch der Regierungsapparat selbst verrichtete. Die Büroangestellten saßen am neuen Modern Efficiency Desk, einer Metallplatte, die über Schubladenkästen gelegt war, üblicherweise zwei auf jeder Seite. Sie stempelten ihre Arbeitszeitkarte an einer Stechuhr und arbeiteten mit Schreib- und Rechenmaschinen der Computing-Tabulating-Recording Company, die 1911 durch die Fusion von Unternehmen entstanden war, zu denen auch Herman Holleriths Tabulating Machine Company zählte. Ein 1923 veröffentlichtes Theaterstück mit dem Titel Die Rechenmaschine verspottete die Monotonie der Fließbandbüroarbeit und verlieh Ängsten Ausdruck, die mit der maschinellen Automatisierung verbunden waren. «Herr Null» («Mr. Zero»), die Hauptperson des Stücks, trägt während des ganzen Arbeitstags Zahlen «auf einem großen liniierten Bogen» ein.[115] Als sein Chef ihm mitteilt, dass er durch eine Rechenmaschine ersetzt werden wird, ermordet er ihn. Der Bereich, mit dem sich ein Büroangestellter wirklich auskannte, wurde immer kleiner, genauso wie die Tätigkeiten der Fabrikarbeiter, während die Unternehmen, bei denen die Menschen arbeiteten, immer größer wurden, einschließlich, im Jahr 1924, IBM. «Wir müssen lernen, durch Lesen, Zuhören, Diskutieren, Beobachten und Denken», verkündete der Unternehmensgründer Thomas Watson. Sein Motto war DENKEN, und dazu wurden die IBM-Mitarbeiter auch aufgefordert, aber die Besorgnis nahm zu, im Lauf der Jahre immer mehr, dass das Denken von den Maschinen übernommen werden würde.[116]

Harding wollte die Bundesregierung taylorisieren. «Ich trete für eine rationell arbeitende Verwaltung ein», sagte Harding in einer der schlechtesten Inaugurationsreden, die je gehalten wurden, «für eine geringere Steuerlast, für vernünftige Handelspraktiken, für angemessene Kreditmöglichkeiten, für ein verständnisvolles Interesse an allen Problemen der Landwirtschaft, für den Verzicht auf eine unnötige Einmischung der Regierung ins Wirtschaftsleben, für ein Ende der Regierungsexperimente in der Wirtschaft und für eine effizientere Arbeit der Regierungsbehörden.»[117]

Harding machte die Effizienz zu seinem persönlichen Schlagwort und versammelte eine außergewöhnliche Kohorte konservativer Geschäftsleute in seinem Kabinett, das den Bundesbehörden während einiger der wirtschaftlich erfolgreichsten Jahre der amerikanischen Geschichte vorstand. In den Jahren von 1922 bis 1928 wuchs die Industrieproduktion um 70 Prozent, das Bruttosozialprodukt um knapp 40 Prozent, das Pro-Kopf-Einkommen um 30 Prozent, und die Reallöhne stiegen um 22 Prozent. Außerdem wurde die Nation in den 1920er Jahren elektrifiziert, denn Unternehmen wie auch Wohnhäuser wurden an ein neues Stromnetz angeschlossen: Noch 1916 hatten nur 16 Prozent der Amerikaner in Häusern mit Stromanschluss gelebt, bis 1927 stieg dieser Anteil auf 63 Prozent.[118]

Zum Finanzminister ernannte Harding Andrew W. Mellon, einen Industriellen und Philanthropen, der außerdem, nach John D. Rockefeller jr., Henry Ford und Edsel Ford, der viertreichste Mann Amerikas war. Mellon, der dieses Amt unter drei republikanischen Präsidenten – Harding, Coolidge und Hoover – ausüben sollte, hatte sich zum Ziel gesetzt, die Rationalisierung auf das Steuersystem zu übertragen. In seinem Buch Taxation: The People’s Business (1924) schrieb Mellon, dass hohe Steuern «den Geist unternehmerischen Wagemuts» zerstörten. Steuersenkungen hingegen würden die Kosten für Wohnraum senken, die Preise drücken, den Lebensstandard erhöhen, Arbeitsplätze schaffen und «den allgemeinen Wohlstand fördern». Mellons Bemühungen um die Unterstützung der Öffentlichkeit für seine Steuerpolitik fanden starke Unterstützung bei der American Taxpayers’ League, der umbenannten und teilweise von Mitgliedern der Familie Mellon finanzierten ehemaligen American Bankers’ League –, die für Steuervereine in den Einzelstaaten als Sponsor agierte, Literatur beschaffte und Spesen beglich. Im Gegenzug traten deren Mitglieder dann vor dem Kongress als Zeugen und starke Befürworter von Steuersenkungen auf. «Steuern sind der Preis, den wir für eine zivilisierte Gesellschaft bezahlen», sagte Oliver Wendell Holmes 1927. Diese Worte sollten später in die Fassade der Bundesfinanzbehörde IRS in Washington eingemeißelt werden. Aber nicht alle Amerikaner stimmten zu. Während Mellons Amtszeit schaffte der Kongress die Steuer für exzessive Gewinne ab, senkte die Erbschaftsteuer, nahm Kapitalerträge aus der Einkommensermittlung heraus und reduzierte den Spitzensteuersatz.[119]

Harding berief Herbert Hoover zum Handelsminister. Hoover war in dem Quäkerstädtchen West Branch in Iowa in großer Armut aufgewachsen, bereits im Alter von neun Jahren zum Waisenkind geworden und hatte später in Stanford Geologie studiert. Als Bergbauingenieur und Organisationsgenie hatte er in Australien und China ein Vermögen verdient und war zu einem beeindruckend erfolgreichen international tätigen Geschäftsmann geworden, bis er sich im Alter von 37 Jahren als zehnfacher Millionär aus dem Geschäftsleben zurückzog, um sich dem Dienst an der Allgemeinheit und der Philanthropie zu widmen. Den größten Teil seines Lebens hatte er bis dahin außerhalb der Vereinigten Staaten verbracht. Während des Krieges und in der Nachkriegszeit hatte er humanitäre Hilfsaktionen in Europa geleitet und mitgeholfen, Millionen von Leben zu retten. (Als Wilson den Friedensnobelpreis erhielt, waren nicht wenige Europäer der Ansicht, Hoover hätte ihn eher verdient.) Bei seiner Rückkehr in die Vereinigten Staaten war er zu einem außerordentlich beliebten Gast in Lippmanns House of Truth geworden. «Viele hatten, ebenso wie ich, das Gefühl, dass sie noch niemals zuvor einem interessanteren Mann begegnet waren», sagte Lippmann. Beide Parteien hatten Hoover 1920 zur Kandidatur für das Präsidentenamt gedrängt, aber nachdem er bei den Vorwahlen der Republikaner kurz einen Zeh ins Wasser gehalten hatte, unterlag er bei der Nominierung ohne großes Aufsehen gegen Harding.[120]

Hoover war ein Rationalisierungsexperte, besonders bekannt war er durch einen einflussreichen 400-seitigen Bericht über Waste in Industry geworden. Sein Ruhm war so groß, dass nahezu alles, was mit der Beseitigung von Abfall zu tun hatte, mit seinem Namen verbunden wurde. Hoover war zwar ein Gegner von «Big Government», legte aber seine Rolle als Handelsminister gleichwohl so aus, als unterstelle ihm das Amt die gesamte amerikanische Volkswirtschaft. Von seinem Arbeitsplatz im obersten Stockwerk eines Gebäudes an der Ecke 19. Straße/Pennsylvania Avenue aus sorgte er dafür, dass die zahlreichen Büros des Ministeriums in Räume umzogen, die unter seinem Büro lagen. Mit beängstigender Effizienz baute er das Handelsministerium aus und machte sich selbst zum «Under-Secretary aller anderen Ministerien», um seinen Plan von einer «neuen Ära» zu verwirklichen. Hoover plante einen assoziierenden Staat, der führende Vertreter aus Wirtschaft und Arbeit, Farmer und Fischer zu kooperativen Besprechungen versammelte, um so die Prioritäten der Regierungstätigkeit zu ermitteln. Während Hoovers Amtszeit wuchs das Budget des Ministeriums auf das Sechsfache seines früheren Umfangs, von 860.000 auf fünf Millionen Dollar. «Niemals zuvor, weder hier noch irgendwo sonst, war eine Regierung so vollständig mit der Wirtschaft fusioniert», schrieb das Wall Street Journal.[121]

Der Glaube der Amerikaner an den Fortschritt wandelte sich während der 1920er Jahre zu einem Glauben an den Wohlstand, der vom Konsum befeuert wurde. «Ein Wandel ist über unsere Demokratie gekommen», schrieb ein Journalist. «Man nennt ihn Konsumismus. Die größte Bedeutung des amerikanischen Bürgers für sein Land ist jetzt nicht mehr diejenige als Bürger, sondern als Konsument.»[122] Die amerikanische Volkswirtschaft wuchs nach allen Kriterien immer weiter. Die Vereinigten Staaten waren der weltweit größte Kreditgeber, und ihre Volkswirtschaft war die größte der Welt; 1929 erzeugten sie 42 Prozent der weltweiten Industrieproduktion (Großbritannien, Frankreich und Deutschland kamen zusammen auf 28 Prozent).[123] Die Stahlproduktion und die Einnahmen im Eisenbahngeschäft brachen alle Rekorde, die grafischen Darstellungen der Wachstumskurven erreichten immer größere Höhen, genau wie die Wolkenkratzer, die sich über die Fifth Avenue in New York, die Michigan Avenue in Chicago und die California Street in San Francisco erhoben.

Und dennoch wandte sich die Nation nach innen. Vor dem Krieg verfolgte der größte Teil der industriellen Welt eine Politik der offenen Grenzen für den Warenverkehr wie auch für die Menschen. Menschen verließen Europa, um in anderen Teilen der Welt zu leben, vor allem in den Vereinigten Staaten, während Europäer Kapital in Bauprojekte in ihren Kolonien investierten. Die Verwüstungen des Krieges und die – vor allem für Deutschland – brutalen Friedensbedingungen sorgten für ein Ende dieser Verhältnisse.[124] Nach dem Krieg wurden die Vereinigten Staaten zum Zentrum des Welthandels und begannen dennoch wenig später mit der Schließung ihrer Grenzen für die Menschen und den Warenverkehr. Harding und ein von den Republikanern beherrschter Kongress erhöhten 1921 und 1922 die Einfuhrzölle, und 1921 und 1924 verfügten sie restriktivere Einwanderungsbestimmungen. Die vom Krieg verwüsteten Länder Europas konnten keine überschüssigen Arbeitskräfte mehr über den Atlantik schicken und waren außerdem nicht mehr in der Lage, ihre Schulden bei den amerikanischen Kreditgebern zurückzuzahlen, weil sie auch ihre Industrieprodukte nicht mehr in den Vereinigten Staaten absetzen konnten. Als Vergeltung erhöhten europäische Länder ebenfalls die Einfuhrzölle und nahmen so den amerikanischen Farmen und Industriebetrieben einen Absatzmarkt.[125] Und so entwickelte sich ein wirtschaftlicher Teufelskreis. «In der Rückschau ist es heute ein Rätsel», sollte ein reumütiger Lippmann später schreiben, «dass wir jemals so vollkommen davon überzeugt sein konnten, dass ein unter so trügerischen Bedingungen entstandener Boom von Dauer sei.»[126]

Hardings Regierung versah ihr ökonomisches Programm mit dem Etikett einer «Rückkehr zur Normalität». Ihr politisches Programm war eine Kampagne gegen die Einwanderung, ihr kulturelles Programm eine als «Colonial Revival» bezeichnete ästhetische Bewegung. Beide Programme waren nach innen und rückwärtsgewandt, sie erfanden und feierten ein amerikanisches Erbe, eine Fantasiewelt einer Vergangenheit, die es so nie gegeben hatte. Philanthropisch gesinnte Industrielle positionierten ihre eigenen Vorstellungen von der Vergangenheit der Nation. Henry Ford baute ein Museum der amerikanischen Geschichte, John Rockefeller restaurierte das Williamsburg der Kolonialzeit – Geschichte als Puppenstube in Lebensgröße.[127] R. T. H. Halsey, ein Mann mit Sitz und Stimme im New York Stock Exchange, hatte einst die Abwehrmaßnahmen der Banken gegen Theodore Roosevelts Angriff auf den «Geld-Trust» angeführt. Jetzt gab er seinen Sitz im Börsenvorstand auf und wirkte bei der Einrichtung eines «American Wing» im Metropolitan Museum of Art mit. Diese 1924 eröffnete Abteilung zeigte amerikanische bildende Kunst und Gebrauchskunst aus der Zeit vor 1825. «Ein großer Teil des heutigen Amerika hat seine Traditionen aus dem Blick verloren», mahnte Halsey. «Viele unserer Landsleute kennen sich nicht mehr aus mit unseren Traditionen und Grundsätzen, für die unsere Väter kämpften und starben.» Nach Halseys Ansicht sollte die nachdenkliche Betrachtung der Vergangenheit eine Warnung für die Gegenwart liefern: «Die ungeheuren Veränderungen im Charakter unserer Nation und der Zustrom von Gedankengut aus dem Ausland, das gänzlich von dem Denken der Männer abweicht, die uns die Republik gaben, bedrohen und – sofern ihnen nicht Einhalt geboten wird – erschüttern möglicherweise die Grundlagen unserer Republik.»[128]

Im gleichen Jahr, in dem der American Wing eröffnet wurde, verabschiedete der Kongress den Immigration Act. Er bestand aus zwei Teilen: aus einem Asian Immigration Act, der den 1882 beschlossenen Chinese Exclusion Act so erweiterte, dass eine Einwanderung aus irgendeinem Teil Asiens nahezu ausgeschlossen wurde, und aus einem National Origins Act, mit dem die jährliche Zahl der Einwanderer aus Europa auf 150.000 begrenzt und ein Quotensystem eingeführt wurde, nach dem die Zahl der Neuankömmlinge aus einem bestimmten Land ihrem proportionalen Anteil an der Gesamtbevölkerung entsprechen sollte. Das Gesetz war ein handfestes Beispiel für die eugenische Denkweise von Madison Grants Passing of the Great Race. Das Ziel des Quotensystems war ein Ende der Einwanderung aus Asien und eine Eindämmung der Aufnahme von Menschen aus Süd- und Osteuropa, die man für weniger wertvoll hielt als die Einwanderer aus anderen Teilen Europas. Der Republikaner Fred S. Purnell aus Indiana befand: «Es besteht nur eine geringe oder gar keine Ähnlichkeit zwischen dem klar denkenden, sich selbst verwaltenden Menschenschlag, der das amerikanische Volk hervorbrachte, und dieser Flut von unzuverlässigen und bankrotten gescheiterten Existenzen, die die gesellschaftlichen und politischen Krankheiten der Alten Welt in die Lebensadern Amerikas einfließen lassen.» Der New Yorker Kongressabgeordnete Nathan D. Perlman, ein jüdischer Republikaner und Gegner der restriktiven Einwanderungspolitik, gab für den Congressional Record die Namen der Amerikaner aller Ethnien zu Protokoll, die während des Krieges mit dem Distinguished Service Cross ausgezeichnet worden waren. Seine Argumente drangen nicht durch.[129]

Der Kongress verabschiedete in jenem Jahr außerdem den Indian Citizenship Act, der allen indigenen Völkern durch eine rechtskräftige Verfügung die Staatsbürgerschaft zuerkannte. Viele von ihnen wandten sich, wie etwa die Onondaga, gegen einen Vorgang, der für sie einer zwangsweisen Einbürgerung gleichkam. Die Beschränkung der Einwanderung, die ab 1924 galt, verschärfte die Abgrenzung zwischen den Rassen, institutionalisierte neue Formen der rassenbasierten Diskriminierung, kodifizierte die Fiktion einer «weißen Rasse» in Form eines Gesetzes und führte eine neue rechtliche Kategorie ins amerikanische Leben ein: den «illegalen Ausländer». Europäer, die als «Weiße» galten, nach nationaler Herkunft klassifiziert und nach dem Grad ihrer Erwünschtheit in eine Rangfolge gebracht wurden, durften in begrenzter Zahl einwandern; wenn sie als legale, registrierte Ausländer in die Vereinigten Staaten einreisten, konnten sie später eingebürgert werden. Chinesen, Japaner, Inder und andere Asiaten konnten, als Nichtweiße eingestuft, nicht legal in die Vereinigten Staaten einwandern, galten als nicht assimilierbar und wurden aus rassischen Gründen von der US-Staatsbürgerschaft ausgeschlossen. Eine noch tiefer greifende Unterscheidung war, dass das Gesetz alle Europäer als Angehörige von Nationen einstufte – sie wurden nach «nationaler Herkunft» sortiert –, Nichteuropäer hingegen als Angehörige von «Rassen» kategorisierte – sie wurden in fünf «farbige Rassen» unterteilt (Schwarze, Mulatten, Chinesen, Japaner und Inder). Den indigenen Völkern hingegen billigte es keinen Status als Nationen zu.

Interessanterweise schränkte der Immigration Act von 1924 die Einwanderung aus Mexiko nicht ein, obwohl auch sie zugenommen hatte. In den Jahren von 1890 bis 1920 gingen rund 1,5 Millionen Mexikaner in die Vereinigten Staaten, sie flohen vor dem Diktator José de la Cruz Porfirio Díaz, vor allem nach der Revolte gegen ihn im Jahr 1910. Amerikaner mexikanischer Herkunft, die seit Jahrzehnten im amerikanischen Südwesten gelebt hatten, hielten meist an ihrer Sprache und Kultur fest und lebten in städtischen Barrios, überwiegend spanischsprachigen Vierteln; oft verhielten sie sich ablehnend gegenüber den Neuankömmlingen, «los recién llegados». Neu zugewanderte Mexikaner wurden meist als Erntehelfer in der Landwirtschaft beschäftigt, auf neu an Bewässerungssysteme angeschlossenen Anbauflächen. Noch im Jahr 1890 umfassten die bewässerten Anbauflächen in Kalifornien, Nevada, Utah und Arizona insgesamt etwa 600.000 Hektar, aber 1902 wurden allein in Kalifornien bereits 800.000 Hektar künstlich bewässert. Nach dem Chinese Exclusion Act von 1882 hatten Großfarmer die ausgesperrten Chinesen durch japanische Arbeiter ersetzt, aber ein sogenanntes «gentlemen’s agreement» zwischen Japan und den Vereinigten Staaten setzte ihrer Migration ein Ende, worauf die Farmer Rekruteure über die mexikanische Grenze schickten, um dort Arbeiter anzuheuern. In einer Ära, in der die wissenschaftliche Betriebsführung Ungarn, Italiener und Juden als halbe Tiere betrachtete, die nicht mit der Peitsche, aber mit der Stoppuhr kommandiert werden mussten, neigten Unternehmer und Politiker dazu, Einwanderer aus Mexiko – bettelarme politische Flüchtlinge – als ideale Arbeiter zu betrachten. Victor S. Clark, ein Ökonom im Dienst der US-Regierung, behauptete 1908, mexikanische Einwanderer seien «gelehrig, geduldig, im Lager meist ordentlich, unter kompetenter Aufsicht recht intelligent, gehorsam und billig», und 1911 berichtete ein Ausschuss des Kongresses, Mexikaner seien zwar «nicht leicht zu assimilieren, aber das ist nicht besonders wichtig, solange die meisten von ihnen nach einer kurzen Zeitspanne wieder in ihr Heimatland zurückkehren».[130]

Natürlich kehrten Mexikaner, die auf Arbeitssuche über die Grenze kamen, nicht immer nach Mexiko zurück. Der Kongressabgeordnete Albert H. Vestal aus Indiana fragte während der Debatte über das Einwanderungsgesetz: «Wo liegt der Nutzen, wenn man die Haustür schließt, um unerwünschte Personen aus Europa fernzuhalten, und zugleich Mexikanern gestattet, durch die Hintertür hier hereinzukommen, und das zu Tausenden und Abertausenden?» Edward Taylor, ein Abgeordneter aus Colorado, antwortete, niemand außer den Mexikanern würde die Arbeiten übernehmen, für die sie eingestellt wurden: «Die amerikanischen Arbeiter werden nicht auf Händen und Knien auf den Feldern Unkraut jäten, die Beete auslichten und sich mit dieser Art von Arbeit abplagen. Es gibt tatsächlich nur sehr wenige Leute, die eine solche Arbeit ertragen können. Für die anderen gilt: Sie können und werden sie nicht übernehmen, ganz gleich, wie viel man ihnen bezahlt.» Solche Argumente ließen die Nativisten jedoch nicht verstummen, und die American Eugenics Society warnte: «Unser großartiger Südwesten schafft sich selbst sehr schnell auf eigenem Boden ein neues Rassenproblem, so wie unser alter Süden dies mit dem Import von Sklavenarbeitern aus Afrika tat. Die Geburtenrate der Mexikaner ist hoch, und jedes auf amerikanischem Boden geborene mexikanische Kind ist ein amerikanischer Staatsbürger, der, sobald er oder sie volljährig wird, wahlberechtigt ist. Das ist keine Frage des Geldbeutels oder des ‹Arbeitskräftebedarfs› oder der Wirtschaft. Es ist eine Frage des Zuschnitts zukünftiger Rassen. Es geht um Eugenik, nicht um Ökonomie.» Der Kongress, von Eugenikern und Farmern und Agrarexperten im Süden und Westen gleichermaßen unter Druck gesetzt, nahm letztlich die Mexikaner von den neuen Beschränkungen der Einwanderung aus, verfügte aber zugleich auch, dass jede in die Vereinigten Staaten einreisende Person über einen Pass und ein Visum verfügen musste. So errichtete er Hürden, die es den Mexikanern zwar ermöglichten, für zeitlich begrenzte Arbeiten die Grenze zu überqueren, ihnen aber die Einbürgerung verwehrten. Im Lauf der Zeit sollten die Mexikaner – die in der nationalen Volkszählung unter der neuen Kategorie «mexikanisch» geführt wurden – sehr eng mit der neuen, juristischen und rassistisch konnotierten Kategorie des «illegalen Ausländers» verbunden werden. In die USA einreisende Mexikaner mussten vor 1919 an der Grenze keinen Einreiseantrag stellen. Nach der Gründung der U. S. Border Patrol im Jahr 1924 hielten an den Grenzübergängen bewaffnete Soldaten Wache, und die Abschiebung von «illegalen Ausländern» wurde zur offiziellen Regierungspolitik.[131]

Im Endeffekt erweiterte die neue Einwanderungspraxis die rassistischen Jim-Crow-Gesetze zur Trennung von Schwarzen und Weißen auf die neuen Einwanderer aus Europa (die, als Weiße klassifiziert, für die Einbürgerung infrage kamen) und auf Asiaten und Mexikaner (die als Nichtweiße für die Einbürgerung ungeeignet waren). Sie erhielt Unterstützung durch einen zweiten Ku-Klux-Klan, der ab 1915 wieder in Erscheinung trat; in den 1920er Jahren attackierten seine fünf Millionen Mitglieder Juden und Katholiken ebenso vehement, wie sie Schwarze und Einwanderer angriffen. Beim Nationalkonvent der Demokraten 1924 in New York marschierten Tausende KKK-Mitglieder durch die Straßen der Stadt, und die Partei war so ungeordnet und desorganisiert – und in allen Rassenfragen so uneinig –, dass der Konvent die Rekordzahl von 103 Wahlgängen benötigte, um den profillosen Kandidaten John W. Davis zu nominieren.[132]

Der Politikwissenschaftler Lothrop Stoddard schrieb, von einer brisanten Mischung aus Nativismus und Eugenik angetrieben, die amerikanische Geschichte zu einer Geschichte weißer Menschen um. «Das Problem des 20. Jahrhunderts ist das Problem der Rassentrennung», hatte W. E. B. Du Bois 1903 geschrieben.[133] Schwarze Intellektuelle, vor allem die Schriftsteller und Künstler der Harlem Renaissance, konterten die Nostalgie des Colonial Revival mit einer neuen, kritischen Aufmerksamkeit für die schwarze Vergangenheit der Nation. Es sei Zeit, sich «an eine realistische Betrachtung der Tatsachen zu machen», schrieb Alain Locke in The New Negro (1925), einer Textsammlung, die auch den Essay «The Negro Digs Up His Past» enthielt.[134] Stoddard antwortete mit The Rising Tide of Color Against the White World-Supremacy, einem Buch, das den dunkelhäutigen Rassen die Schuld für die Unzufriedenheit und Malaise in Europa gab. Er warb für das Einwanderungsgesetz und behauptete, genau dieses gesellschaftliche Problem habe den Zusammenhalt der Vereinigten Staaten bedroht. Am Ende des Jahrzehnts feierte er den Triumph der Einwanderungsrestriktionen. «Wir wissen, dass unser Amerika ein weißes Amerika ist», sagte Stoddard bei einer Diskussion mit W. E. B. Du Bois auf einer Bühne in Chicago. «Und die historischen wie auch die wissenschaftlichen Beweise zeigen uns mit überwältigendem Nachdruck, dass seine Institutionen und Ideale und seine Kultur nur so lange dem Charakter seiner Bewohner entsprechen – und deshalb auch bestehen bleiben –, wie das amerikanische Volk weiß bleibt.»

«Ihr Land?», fragte Du Bois Stoddard. «Wieso Ihr Land?» Und dann hatte er sein Gegenüber herausgefordert: «Wäre Amerika ohne seine Negerbevölkerung zu Amerika geworden?»[135]

Stoddard hatte auf solche Fragen keine wirkliche Antwort. In den 1930er und zu Beginn der 1940er Jahre applaudierte er Hitler. Er starb als diskreditierter und vergessener Mann. Aber die Debatte, die er mit Du Bois über die Ursprünge der Nation geführt hatte, kam niemals an ein Ende.

IV

DIESE WAHRHEITEN ERACHTEN WIR ALS SELBSTVERSTÄNDLICH. Bis zum Jahr 1926, eineinhalb Jahrhunderte nach der Gründung der Nation, war jedes Wort ihres Gründungsdokuments infrage gestellt worden. Wer sind wir? Was ist wahr? Was zählt als Beweis?

Die amerikanische Politik war durch heftige Auseinandersetzungen über Grundfragen gespalten. Den Kern dieser Auseinandersetzungen bildeten konkurrierende Interpretationen der Verfassung, die auf einem unterschiedlichen Verständnis ihres Wesens beruhten, eine Erweiterung der Debatte über die buchstabengetreue Wahrheit der Bibel. Aber die Amerikaner trugen ihre politischen Differenzen auch in Debatten über Naturwissenschaften und Geschichte aus, Debatten, die vom neuen Metier der Public-Relations-Leute geprägt wurden.

Ivy Lee, einer der ersten Praktiker auf diesem Gebiet, bezeichnete es als Propaganda und definierte den Begriff als «Versuch, Ideen zu propagieren». Lee, 1877 als Sohn eines methodistischen Geistlichen in Georgia geboren, hatte als Zeitungsreporter gearbeitet, bevor er Aufträge von Eisenbahngesellschaften annahm, die sich um ein besseres Erscheinungsbild in der Presse bemühten. Zu seinen ersten Kunden zählten außerdem John D. Rockefeller, der sein durch die Enthüllungen von Ida Tarbell über die Geschäftspraktiken von Standard Oil ramponiertes Ansehen wiederherstellen wollte, und Bethlehem Steel, ein Unternehmen, dessen Reputation Streiks zusetzten, die durch tayloristische Maßnahmen ausgelöst worden waren. Carl Sandburg nannte Lee einen «bezahlten Lügner», Upton Sinclair sprach von «Poison Ivy» («Giftefeu»). In einem Vortrag vor Journalismuslehrern behauptete Lee in den 1920er Jahren, dass es überhaupt keine Tatsachen gebe oder man zumindest keine solchen berichten könne: «Das Bemühen, eine unumstößliche Tatsache festzustellen, ist schlicht und einfach ein Versuch, etwas menschlich Unmögliches zu erreichen; ich kann Ihnen nur meine Interpretation der Tatsachen mitteilen.»[136]

Journalisten, vor allem diejenigen, die als Soldaten am Krieg teilgenommen hatten, neigten zum Widerspruch. Als Henry Luce und Briton Hadden, zwei junge Army-Veteranen, 1923 beschlossen, eine Zeitschrift zu gründen, dachten sie zunächst an den Namen Facts. Letztlich entschieden sie sich für Time mit der Idee dahinter, dass das Blatt im Zeitalter der Rationalisierung seinen Leserinnen und Lesern helfen würde, Zeit zu sparen. Time sollte der vielbeschäftigten Leserschaft – vor allem Geschäftsleuten – die Nachrichten einer ganzen Woche mit einem Leseaufwand von nur einer Stunde bieten. Jede Ausgabe sollte 100 Artikel enthalten, keiner davon länger als 400 Wörter, die randvoll mit Fakten waren, und nur mit Fakten, entstanden aus Sätzen, die den in sieben Tagen erschienenen Zeitungen entnommen und anschließend zu neuen Artikeln zusammengefügt worden waren. Luce und Hadden bedienten sich eines von Taylor inspirierten Systems des Aufgabenmanagements und sortierten die Nachrichten nach Kategorien, was in dieser Form noch nie zuvor praktiziert worden war. Trotz schneller Herstellung, Kürze und Schlichtheit des Inhalts erhob Time den Anspruch, fehlerfrei zu sein, eine «akkurate Chronik» der Ereignisse, was etwas anderes war, als einen Anspruch auf Objektivität zu erheben. «Zeigen Sie mir einen Mann, der denkt, er sei objektiv, und ich werde Ihnen einen Mann zeigen, der sich selbst etwas vormacht», sagte Luce einmal.[137] Objektivität sei unmöglich; Subjektivität führe dazu, dass sich Fehler einschlichen. Das Beste, was man tun könne, sei, jeden Artikel auf sachliche Fehler zu überprüfen. Time führte die Praxis des «fact-checking» ein, und zwar eine ausgefeilte Prüfmethode, Punkt für Punkt, als ob man Wissen auf Einheiten reduzieren könne, wie Bauteile an einem Fließband.

Für diese Arbeit engagierten sie junge Frauen, die frisch vom College kamen. «Mit der Überprüfung jedes einzelnen Wortes beauftragt, setzten sie einen Punkt über alle geprüften Wörter, um anzuzeigen, dass sie die Arbeit erledigt hatten», schrieb ein Reporter, der auf Recherchebesuch kam. Der Autor eines frühen Handbuchs für die «Checker» der Time riet seiner Leserschaft:

Das Überprüfen wird … mitunter als langweilige und ermüdende Tätigkeit angesehen, aber eine solche Vorstellung von dieser Aufgabe ist völlig falsch. Jede kluge junge Frau, die sich engagiert der Praxis des Prüfens widmet, kann damit eine angenehme Zeit erleben und ihre Arbeitswoche mit Glücksmomenten und denkwürdigen Ereignissen ausfüllen. Der wichtigste Punkt ist, sich beim Prüfen in Erinnerung zu rufen, dass der Autor Ihr natürlicher Feind ist. Er versucht herauszufinden, mit was er alles ungeschoren davonkommen kann. Denken Sie daran, dass Sie es sind, die man anschreien wird, wenn die Menschen Briefe wegen Fehlern schreiben. Also schützen Sie sich.

Wenn Leser sich schriftlich über Fehler beschwerten, veröffentlichte Time die Briefe und druckte Richtigstellungen. Die Redakteure führten ein Schwarzbuch, in dem jeder Fehler festgehalten wurde, samt der Korrektur.[138]

Diese Praxis wurde in der nicht weit entfernten Redaktion des New Yorker, des größten Rivalen von Time, mit leidenschaftlicher Intensität gepflegt. Die Zeitschrift war als Gegenmodell zu allem gegründet worden, für das Time stand – mit Ausnahme der Obsession für Fakten. Im Herbst 1924 schrieb Harold Ross, ein ehemaliger Zeitungsreporter in der City und wie Luce und Hadden ein Veteran des Ersten Weltkriegs, einen Werbeprospekt für The New Yorker, ein Magazin, das nicht dazu gedacht war, irgendjemandem auch nur einen Augenblick Zeit zu sparen. Aber wie Luce und Hadden verabscheute Ross Fehler, Täuschung und dummes Zeug, insbesondere die Public-Relations-Variante davon. Ross versprach: «Ich werde diesen Müll hassen.» «EINE BESONDERE ANSTRENGUNG SOLLTE DER VERMEIDUNG VON FEHLERN IM NEW YORKER GELTEN», ließ Ross seine Leute wissen, nachdem der Redaktion ein grober Schnitzer unterlaufen war. Ein Autor sagte, Ross «hielt sich an Fakten fest … wie ein Ertrinkender an einem Rundholz». Einem seiner Redakteure schickte er ein Memo: «Nehmen Sie die Faktenprüfung in die Liste ihrer Routinetätigkeiten auf.»[139]

Aber während Journalisten sich mit neuen Methoden einer möglichst akkuraten Berichterstattung verschrieben, setzten Unternehmen das Instrumentarium der Public Relations ein, um sicherzustellen, dass die Presse ihre besondere Sicht der Dinge zu hören bekam. Keiner anderer spielte bei dieser Transformation eine größere Rolle als Edward Bernays, ein Neffe Sigmund Freuds, der Freuds Theorie des Unbewussten nutzte, um Unternehmen dabei zu helfen, ihre Produkte an amerikanische Konsumenten zu verkaufen. Bernays, 1891 in Wien geboren, war in New York aufgewachsen. Bei Kriegsbeginn arbeitete er für George Creels Büro für Kriegspropaganda und reiste später mit Woodrow Wilson zu den Pariser Friedensgesprächen, wo er, wie er gerne erzählte, unschätzbare Dienste leistete. Nach der Rückkehr ins Zivilleben startete er eine Karriere in der Public-Relations-Branche, die er selbst als «angewandte Sozialwissenschaft» bezeichnete, während The Nation von «höherem Unfug» («The Higher Hokum») sprach. 1924 traf Bernays mit Calvin Coolidge zusammen, der nach Hardings plötzlichem Tod 1923 ins Präsidentenamt aufgestiegen war. Bernays kam zu dem Ergebnis, Coolidges Image als robuster, grantiger Mann aus Vermont ließe sich durch Glamour aufbessern, und arrangierte deshalb einen Besuch von Hollywood-Filmstars im Weißen Haus.[140]

«Gute Propaganda ist eine unsichtbare Regierung, die die Gewohnheiten und Handlungen der meisten Menschen in den Vereinigten Staaten beeinflusst», erklärte Bernays. «Setzt man sie richtig ein, ist sie ein schnell wirkendes und effektives Mittel zur Herbeiführung gesellschaftlich nützlicher Veränderungen.» Propaganda im Rahmen politischer Kampagnen mache Demokratien effizienter: «Ehrliche Propaganda, wirksam eingesetzt, wird bei der nächsten politischen Kampagne Millionen sparen», sagte er voraus.[141]

In seinem 1928 erschienenen Buch Propaganda erklärte Bernays, dass er auch von Walter Lippmanns Buch Public Opinion beeinflusst worden sei, als er Lippmanns besorgte Gedanken darüber gelesen habe, welche Chancen sich für einen gewieften Publizisten durch eine leichtgläubige Öffentlichkeit eröffneten. «Die bewusste und zielgerichtete Manipulation der Verhaltensweisen und Einstellungen der Massen ist ein wesentlicher Bestandteil demokratischer Gesellschaften», konstatierte Bernays. Für Bernays war Propaganda für die Massen das, was das Unbewusste für das Denken war, die «unbewussten Herrscher» des Volkes.[142]

Die Tragödie, die sich daraus für die Massendemokratie der Vereinigten Staaten ergab, spielte sich in aller Öffentlichkeit an fünf langen Sommertagen des Jahres 1925 auf einer Bühne in der Kleinstadt Dayton in Tennessee ab. Dort fand der Prozess gegen einen Highschool-Biologielehrer namens John Scopes statt, der des Vergehens beschuldigt wurde, die Evolutionslehre unterrichtet zu haben. Der 65-jährige William Jennings Bryan, dessen breiter Kopf mittlerweile kahl geworden war, trat als Ankläger auf, nachdem er die Kampagne für ein Verbot der Evolutionslehre im Schulunterricht angeführt hatte. Nicht alle Fundamentalisten lehnten die Evolutionslehre ab, manche von ihnen glaubten, wie R. A. Torrey, der Herausgeber von The Fundamentals, dass ein Christ «durch und durch an die absolute Unfehlbarkeit der Bibel glauben und dennoch in gewissem Sinn ein Anhänger der Evolutionstheorie sein kann».[143] Aber Bryans eigene Ansichten zu diesem Thema hatten sich, wie die vieler anderer Fundamentalisten auch, nach einem Krieg verhärtet, dessen Grauen so viele Menschen zu verstehen suchten, aber weder ergründen noch mit der Vorstellung von einem barmherzigen Gott in Einklang bringen konnten.

«Die Evolution ist nicht die Wahrheit», führte Bryan aus. «Sie ist nur eine Hypothese – sie besteht aus Millionen von aneinandergeknüpften Vermutungen.» Besonders scharf prangerte er jedoch ihre Anwendung auf menschliche Gesellschaften an. 1921 hatte er in einem Essay mit dem Titel «The Menace of Darwinism» seine Unterstützung für eine ganze Reihe progressiver Reformen bekundet, deren Absicht darin bestand, schon der bloßen Vorstellung Einhalt zu gebieten, dass nur die Tüchtigsten überleben sollten: «Gesetze zur Reinhaltung von Nahrungsmitteln sind notwendig geworden, um Hersteller darin zu hindern, ihre Kunden zu vergiften; Gesetze gegen Kinderarbeit sind notwendig geworden, um Arbeitgeber darin zu hindern, die Körper, das Denken und die Seelen von Kindern verkümmern zu lassen; Anti-Trust-Gesetze sind nötig geworden, um zu groß gewordene Unternehmen daran zu hindern, kleinere Unternehmen zu erdrosseln, und wir stehen nach wie vor in einem Kampf auf Leben und Tod mit Profiteuren und Spekulanten, die mit landwirtschaftlichen Produkten handeln.» Bryan verband mit einer säkularen Moderne das Ende jeglichen Mitgefühls und jeglicher Nächstenliebe. Er prangerte die Herzlosigkeit der Wissenschaft an: «Menschen, die sich nicht die Mühe machen würden, über die Straße zu gehen, um eine Seele zu retten, haben auf der Suche nach Skeletten die ganze Welt bereist», sagte er 1923 in einer Rede im Parlament von West Virginia. «Die große Notwendigkeit in der Welt von heute ist, zu Gott zurückzukehren», schrieb er. Mit Bryan wurde der Fundamentalismus, der als ein theologischer Disput über Tatsachen und die Wahrheit begonnen hatte, zu einer populistischen Bewegung, der es um Glaubensfragen ging.[144]

Nachdem Tennessee 1925 als erster Bundesstaat jeglichen Schulunterricht zur Evolutionstheorie verboten hatte, überzeugte die American Civil Liberties Union den Lehrer Scopes davon, das Gesetz auf die Probe zu stellen. Die ACLU war 1917 zum Schutz von Kriegsdienstverweigerern aus Gewissensgründen ins Leben gerufen worden, und ihre Arbeit wurde noch wichtiger während des «Red Scare», der antibolschewistischen Hysterie, von der die Vereinigten Staaten während der letzten Jahre des Krieges erfasst worden waren. «Die Rechte von Einzelpersonen wie auch von Minderheiten werden im ganzen Land aufs Gröbste verletzt», hatte ihr Gründer geschrieben. Die Organisation hatte seitdem ihren in Kriegszeiten übernommenen Auftrag, Amerikaner vor Angriffen auf die bürgerlichen Freiheiten zu schützen, auf die Friedenszeit erweitert. Ihr Interesse an dem in Tennessee erlassenen Gesetz hatte, wie bei Scopes selbst, nichts mit Religion, aber sehr viel mit Rede- und Meinungsfreiheit zu tun. (Scopes selbst war Kirchgänger und ein Bewunderer Bryans, der bei seiner eigenen Abschlussfeier an einer Highschool in Illinois 1919 die Festrede gehalten hatte.) Die ACLU erwartete und bezweckte, dass Scopes bei diesem Verfahren schuldig gesprochen werden würde, damit sie den Fall mit einem Berufungsverfahren vor ein höheres Gericht bringen konnte.

Dieser Plan änderte sich, nachdem Bryan als Anklagevertreter gewonnen und zum Berater des Justizministers von Tennessee ernannt worden war. Bryans Beteiligung an diesem Verfahren brachte Clarence Darrow dazu, die Verteidigung von Scopes zu übernehmen. Darrow war groß, aggressiv, breitschultrig, ein Mann mit markanten Gesichtszügen, der sich gerne als Stammtischphilosoph gebärdete, ausgebeulte Hosen, Hosenträger und eine Schnurkrawatte trug. «Alles an Darrow lässt auf einen Zyniker schließen», sagte ein Reporter. «Alles, bis auf eine Sache, und das ist – ein vollständiges Fehlen von wirklichem Zynismus.» In seiner langen und zu Recht ruhmreichen Laufbahn als bekanntester Strafverteidiger der Nation war er an rund 2000 Verfahren beteiligt; bei mehr als einem Drittel dieser Fälle erhielt er kein Honorar. Aber der Prozess gegen Scopes war das einzige Verfahren, bei dem er seine Dienste freiwillig anbot.[145]

Darrow und Bryan waren beide auf Farmen aufgewachsen, Rechtsanwälte in der ländlichen Provinz geworden, und beide hatten sich ihr ganzes Leben lang für die Armen und Unterprivilegierten eingesetzt. Sie hatten den gleichen Kampf gekämpft, Bryan als der «Great Commoner», der «große Mann aus dem Volk», Darrow als der «attorney for the damned», der «Anwalt für die Verdammten». Sie sprachen die gleiche Sprache. Als Darrow 1903 die Bergarbeitergewerkschaft United Mine Workers Union in Pennsylvania in einem Schlichtungsverfahren vertrat, sagte er dem Gericht: «500 Dollar pro Jahr sind ein großer Preis dafür, dass man das eigene Leben und die eigenen Knochen aufs Spiel setzt und in die Grube einfährt, um dort Kohle abzubauen und jemand anderen damit reich zu machen.»[146] Das hätte auch Bryan so sagen können.

Aber Darrow wusste, dass Bryans Feldzug gegen die Evolutionstheorie zwar ein Feldzug gegen den Sozialdarwinismus und eine Kampagne für die Schwachen war, aber zugleich war sie auch ein Angriff auf die Wissenschaft. Und Darrow konnte das nicht hinnehmen, ebenso wenig wie die meisten anderen Menschen, die bei arbeitsrechtlichen Fragen auf der gleichen Seite gekämpft hatten wie Bryan. Eugene Debs, viele Jahre ein Anhänger Bryans, hatte ihn 1924 als «dieses oberflächliche Sprachrohr leerer Phrasen, diesen frömmlerischen Scharlatan, diesen Propheten der Steinzeit» bezeichnet.[147] Darrow sah das genauso. Er war mit der Lektüre von Charles Darwin und Frederick Douglass aufgewachsen. Sein Interesse galt der Erziehung und Bildung. «Ich wusste, dass das Bildungswesen durch eine Quelle gefährdet wurde, die ihm schon immer zugesetzt hat – durch religiösen Fanatismus», sagte er. Bryan hielt er für «das Idol aller Schwachköpfe».[148]

In Dayton gab es nur zwei gepflasterte Straßen und ein Kino mit 75 Sitzplätzen. Der Prozess wurde zu einem Zirkus, denn in die Kleinstadt kamen mehr als einhundert Journalisten, Dutzende von Predigern und Psalmensängern und, nicht zu vergessen, dressierte Schimpansen. «Die Geschichte ist wirklich fabelhaft», berichtete H. L. Mencken an die Baltimore Sun. «Ich habe so viel Material gesammelt, dass es für 20 Jahre reicht.»[149]

Niemand bestritt, dass Scopes gegen das Gesetz verstoßen hatte. Die Verteidigung hoffte, die Plausibilität des Gesetzes selbst anfechten zu können. Sie eröffnete mit einem Aufmarsch von Biologen, die zeigen sollten, dass die Evolutionstheorie eine Wissenschaft ist. «Dies ist nicht der Ort, an dem versucht werden sollte zu zeigen, dass das Gesetz niemals hätte verabschiedet werden dürfen», sagte Bryan. «Der Ort, an dem das hätte versucht oder gezeigt werden sollen, war die Legislative.» Aber Bryan wollte ebenso sehr wie Darrow, wenn nicht sogar noch mehr, die Evolution vor Gericht bringen. Der Richter schlug sich auf Bryans Seite und untersagte eine Aussage der Biologen vor den Geschworenen. Am darauffolgenden Tag war es im Gerichtssaal so heiß, dass der Richter die Verhandlung auf den Rasen vor dem Gerichtsgebäude verlegte. Die Verteidigung rief niemand anderen als Bryan selbst in den Zeugenstand – als Experte für die Bibel.

«Sie haben die Bibel gründlich studiert, nicht wahr, Mr. Bryan?», fragte Darrow.

«Ja, Sir, ich habe es versucht.»

Aber Bryan war kein Theologe. Darrow nahm ihn zwei Stunden lang nach allen Regeln der Kunst auseinander. Wurde die Erde wirklich innerhalb von sechs Tagen geschaffen? Wurde Jona wirklich von einem Wal verschluckt? Wurde Eva wirklich aus Adams Rippe erschaffen, und wie kam Kain zu einer Frau? Bryan, aufgeregt und verwirrt, geriet ins Stammeln. Darrow setzte nach. Bryan schwitzte und brachte kaum etwas Sinnvolles zustande.

«Das einzige Ziel, das Mr. Darrow verfolgt, ist, die Bibel zu verunglimpfen», beklagte sich Bryan.

«Ich widerspreche Ihrer Aussage», erwiderte Darrow. «Ich befrage Sie zu Ihren unsinnigen Vorstellungen, die kein intelligenter Christ auf Erden glaubt.»[150]

Der Richter ordnete an, Bryans Aussage aus dem Protokoll zu streichen, die Geschworenen befanden Scopes für schuldig, und fünf Tage später starb Bryan im Schlaf, als er ein Nickerchen hielt, während seine Frau auf der Veranda vor seinem Fenster Zeitung las. Der «Boy of the Plains», der «Great Commoner» und dreimalige Präsidentschaftskandidat war niedergestreckt worden als «Opfer seiner letzten großen Schlacht», wie eine Nachrichtenagentur schrieb.[151]

Der Fundamentalismus starb nicht, als Bryans Haupt auf sein Kissen sank. Der Fundamentalismus wirkte fort, und die Herausforderung, die er für die bei der Gründung der Nation formulierten Prinzipien und vor allem für das Wesen der Wahrheit selbst darstellte, sollte bis weit ins 21. Jahrhundert hinein spürbar bleiben. Darrow gehörte nicht zu denen, die glaubten, dass mit dem Prozess gegen Scopes, auf den so schnell Bryans Tod folgte, das Kapitel Fundamentalismus abgeschlossen sei. «Es schmerzt mich, die Nachricht von Bryans Tod zu hören», sagte ein todernster Darrow. «Ich kannte Bryan seit 1896 und unterstützte ihn zweimal bei einer Präsidentschaftskandidatur.» Aber die Vorstellung, dass die Moderne William Jennings Bryan umgebracht habe, setzte sich fest, und nur wenige Wochen nach seinem Tod begannen Reporter aus den Großstädten, und ganz besonders H. L. Mencken, Bryan und seine Anhänger wieder als tumbe Hinterwäldler zu verunglimpfen, während Mencken im privaten Rahmen bekannte, die Menschen, denen er auf dem Rasen vor dem Gerichtsgebäude in Dayton begegnet sei, hätten ihm Angst eingejagt – ihre Bigotterie und ihre Wut ließen ihn erschauern. «Ich machte mich lachend auf den Weg», schrieb Mencken an einen Freund, «und kehrte zitternd zurück.»[152]

Walter Lippmann zitterte nicht, und er verunglimpfte nicht. Stattdessen setzte er sich an seinen Schreibtisch, um die Konsequenzen des Plädoyers zu durchdenken, das Bryan in Dayton für die Religionsfreiheit, die Freiheit der Forschung und die Trennung von Kirche und Staat gehalten hatte. Für Lippmann ging es in der Auseinandersetzung zwischen Bryan und Darrow nicht um die Evolution, sondern um die Frage, wie Menschen entscheiden, was wahr ist – leitet sich die Wahrheit aus dem Glauben oder von der Vernunft ab? –, und um die noch tiefer reichende Frage, was in einer Demokratie geschieht, wenn sich die Menschen nicht darüber einigen können, wie sie entscheiden, was wahr ist. Entscheidet die Mehrheit?

Lippmann verfolgte die Frage bis zu Thomas Jefferson zurück. In Virginias 1786 verabschiedeter Bill for Establishing Religious Freedom hatte Jefferson den Grundsatz festgehalten, dass «es sündhaft und tyrannisch ist, einen Menschen zu zwingen, Beiträge in Geld für die Verkündigung von Meinungen zu entrichten, an die er selbst nicht glaubt». Mit dem 1925 verabschiedeten Act Prohibiting the Teaching of the Evolutionary Theory hatte das Staatsparlament von Tennessee «das Unterrichten der Evolutionstheorie an allen Universitäten, Ausbildungsstätten für Grundschullehrer und allen anderen öffentlichen Schulen in Tennessee, die ganz oder teilweise aus Geldmitteln des Staates für die öffentlichen Schulen finanziert werden», verboten.

Bryan hatte in Anspielung auf den von Jefferson formulierten Grundsatz gefragt: «Mit welchem Recht beansprucht eine kleine, verantwortungslose Oligarchie von selbsternannten Intellektuellen die Kontrolle über die Schulen der Vereinigten Staaten, in denen 25 Millionen Kinder bei jährlichen Ausgaben von zehn Milliarden Dollar unterrichtet werden?» Verletzte ihre Forderung nach Kontrolle etwa nicht nur das Gesetz in Tennessee, sondern auch die freie Ausübung der Religion selbst?

Darrow hatte diese Frage für sich selbst beantwortet. «Ich mag keine Zwiebelsuppe, aber Sie können ruhig eine essen», sagte er gerne. «Ich würde Ihnen meine Voreingenommenheit nicht aufzwingen.»[153] Darrow nahm gerne Zuflucht bei einem Sprichwort oder einer Redensart. Aber Lippmann empfand diese Formulierung als unzureichend, denn hier ging es nicht um einen Mann, der Zwiebelsuppe mochte; es ging um eine Mehrheit der Wählerschaft, die gerne Zwiebelsuppe aß und mit einer Abstimmung beschloss, alle anderen Gerichte von der Speisekarte aller Restaurants, die finanzielle Unterstützung vom Staat erhielten, zu verbannen. Ganz zu schweigen davon, dass weder eine Offenbarungsreligion noch ein Bekenntnis zur Vernunft sich mit Zwiebelsuppe vergleichen lassen: Sie sind Erkenntnislehren.

Lippmann nahm Bryans Argument ernst.

«Jefferson hatte betont, dass von den Menschen nicht verlangt werden sollte, für die Unterweisung in der Lehre der anglikanischen Kirche Beiträge zu bezahlen», schrieb er. «Mr. Bryan fragte, warum sie für den Unterricht im Agnostizismus bezahlen sollten.»[154]

Was bedeutete das für die Demokratie? Wenn eine Mehrheit der Wählerschaft entschied, dass Charles Darwin sich geirrt hatte und die Evolutionstheorie nicht an Schulen unterrichtet werden sollte – was sollte dann die unterlegene Minderheit tun? Wenn die Evolutionslehre eine kluge, plausible und wichtige Theorie war, die erklärte, wie der Wandel in der Natur sich vollzog, wie konnte die Minderheit der Menschen, die sie als überzeugend empfand, auch nur in eine Diskussion mit der Mehrheit eintreten, die innerhalb einer Generation aus Menschen bestehen würde, denen etwas anderes beigebracht worden war?

Lippmann beschloss, dieses Problem in Form eines imaginären Dialogs zu bearbeiten, in dem Jefferson und Bryan abwechselnd ihr Plädoyer Sokrates vortrugen, wobei Jefferson für die Vernunft und Bryan für die Religion argumentierte, aber beide ihre Begeisterung für die Volksherrschaft bekundeten. Jeder der beiden hält sein Plädoyer und ist damit einverstanden, Sokrates’ Entscheidung zu befolgen.

JEFFERSON: Und was schließen Sie aus all dem?

SOKRATES: Dass das einfache Volk die Vernunft hasst und dass die Vernunft die Religion einer Elite ist, der bedeutende Gentlemen
angehören, wie Sie selbst einer sind.

BRYAN: Die Vernunft ist eine Religion? Was meinen Sie damit?

SOKRATES: Die einfachen Leute haben schon immer gewusst,
dass die Vernunft eine Religion ist. Deshalb lehnen sie sie so
entschieden ab.[155]

Wenn die einfachen Leute die Vernunft hassen, gibt es für eine Regierung des Volkes keine Möglichkeit, das freie Denken zu schützen, lautete Lippmanns Schlussfolgerung. Der gläubige Mensch kann die Vernunft nicht als Richter über die Wahrheit akzeptieren, ohne vom Glauben abzulassen; der Anhänger der Vernunft kann nicht akzeptieren, dass die Wahrheit außerhalb des Reiches der Vernunft liegt. Die Bürgerschaft, die nicht imstande ist, sich auf grundlegende Tatsachen zu einigen, kann sich auch nicht darauf verständigen, wie ihre Kinder gemeinsam zu unterrichten sind. «Das ist die Stunde der Propagandisten», schrieb Lippmann.[156] Mit genügend Geldmitteln und effizient eingesetzten Techniken der modernen Massenkommunikation kann der Propagandist eine politische Mehrheit in eine Wahrheit verwandeln.

Lippmann hatte sich selbst in ein Dilemma argumentiert. Er hatte sich in ein Problem hineingedacht, das die Verfassung nicht vorhergesehen hatte, ein Problem, das den Gedanken nahelegte, dass das Volk unter diesen Umständen nicht imstande wäre, sich selbst durch Vernunft und freie Entscheidung zu regieren, wie Alexander Hamilton gehofft hatte, sondern stattdessen von Willkür und Gewalt regiert werden würde. Sein Denken verdüsterte sich durch Furcht. Durch Effizienz konnte dieses Problem nicht gelöst werden; Effizienz war ein Teil des Problems. Es musste aber eine Lösung geben.

«Gentlemen, die Welt ist finster», sagte Clarence Darrow vor Gericht einmal zu einer Jury und lehnte sich dabei mit seiner breitschultrigen Gestalt über die Geschworenenbank. «Aber sie ist nicht ohne Hoffnung.»[157] Es blieb die Frage: Worin lag die Hoffnung?