DIE DUNKELHEIT HATTE SICH BEREITS über Europa gesenkt, das 1928 tief in einer Wirtschaftskrise steckte, als Konsequenz der Friedensverträge, die den Ersten Weltkrieg beendet hatten. Bis zum Herbst 1929 hatte es so ausgesehen, als lägen die Vereinigten Staaten außerhalb jener Schatten. Aber dann, im Verlauf von drei Wochen, fiel der Dow Jones von 326 auf 198 Punkte. Aktien verloren fast 40 Prozent ihres Wertes. Zunächst erholte sich der Markt wieder; die Papiere des Dow Jones hatten bis zum März 1930 fast 75 Prozent des Wertverlustes gutgemacht. Dennoch schwächelte die Wirtschaft, und dann geriet sie ins Taumeln, eine Depression setzte ein, und im Spätfrühling stürzten die Aktienkurse erneut ins Bodenlose.[9]
Hoover, der Meister der Notfälle, steuerte das Land durch den Börsenkrach, aber als die Depression einsetzte, tat er kaum mehr, als auf die Erholung der Wirtschaft zu warten und den Versuch zu unternehmen, eine in Panik geratene Öffentlichkeit zu beruhigen. Er glaubte an Wohltätigkeit, aber er glaubte nicht an staatliche Hilfsmaßnahmen und vertrat die Ansicht, die Nation würde, wenn die Vereinigten Staaten zu solchen Maßnahmen griffen, «in den Sozialismus und Kollektivismus gestürzt».[10]
Als Hoover schließlich handelte, ging es ihm darum, die Vereinigten Staaten von Europa zu lösen: Er holte Amerikas letzte finanzielle Zugbrücke ein, indem er den Kongress dazu brachte, ein neues Gesetz über Strafzölle zu verabschieden, den Tariff Act von 1930. Andere Nationen verabschiedeten als Vergeltung wenig später ihre eigenen Handelsbeschränkungen. Auch ihre Zugbrücken wurden hochgezogen. Der Welthandel schrumpfte um ein Viertel. Die US-Importe gingen zurück. 1929 hatten die Vereinigten Staaten ausländische Waren im Wert von 4,4 Milliarden Dollar importiert; 1930 nahmen die Importe auf 3,1 Milliarden Dollar ab. Dann gingen die US-Exporte zurück. Zum Schutz der amerikanischen Weizenfarmer waren die Importzölle für Getreide um fast 50 Prozent angehoben worden. Aber die amerikanischen Farmer konnten 1931 nur noch etwa zehn Prozent ihrer Ernteerträge absetzen. Kreditgeber übernahmen Farmen und versteigerten sie. Ausländische Schuldner, die ihre Waren nicht mehr in den Vereinigten Staaten verkaufen konnten, konnten ihre Kredite bei amerikanischen Gläubigern nicht mehr bedienen.
In den Jahren von 1929 bis 1932 wurde jede fünfte amerikanische Bank zahlungsunfähig. Die Arbeitslosenquote stieg von 9 Prozent im Jahr 1930 auf 16 Prozent im Jahr 1931 und 1932 sogar bis auf 23 Prozent, so dass zu diesem Zeitpunkt fast zwölf Millionen Amerikaner – eine Zahl, die der gesamten Bevölkerung des Staates New York entsprach – ohne Arbeit waren. Das Volkseinkommen, das 1929 noch 87,4 Milliarden Dollar erreicht hatte, sank 1932 auf 41,7 Milliarden Dollar. Viele Familien erzielten überhaupt kein Einkommen mehr. Jeder vierte Amerikaner hatte nicht genug zu essen.[11]
Fabriken schlossen ihre Tore; Farmen wurden aufgegeben. Selbst das Wetter schien an einer Verschwörung teilzunehmen, die Not der Amerikaner zu vergrößern. Eine Dürreperiode suchte die Great Plains heim, säte Verzweiflung und hielt eine tödliche Ernte. Der Mutterboden wurde zu Staub, den der Wind davontrug. Schulen schlossen ihre Pforten, Kinder hungerten und magerten ab, und Babys starben in der Wiege. Farmerfamilien, durch Schulden und Dürre von Haus und Hof vertrieben, zogen westwärts und nahmen dabei in staubbedeckten Klapperkisten mit, was sie konnten. Das demokratische Experiment, das mit der amerikanischen Unabhängigkeit begonnen hatte, schien unmittelbar vor dem Scheitern zu stehen.
«Zu keiner anderen Zeit seit dem Aufstieg der politischen Demokratie sind ihre Grundsätze so ernsthaft auf die Probe gestellt worden wie heute», lautete die Schlagzeile der New Republic, mit der das Blatt eine Serie über die Zukunft der Selbstregierung («self-government») einleitete. Überall auf der Welt brachen Demokratien unter dem Gewicht der Massen zusammen. Russland, das Osmanische Reich und Österreich-Ungarn waren zerfallen und hatten 1918 mehr als ein Dutzend neue Staaten hervorgebracht, von denen viele, wie etwa Litauen, Ungarn, Bulgarien und Polen, mit der Demokratie experimentierten, ohne als Demokratien zu überdauern. Die Bilanz war düster, und sie wurde von Jahr zu Jahr düsterer, weil eine europäische Nation nach der anderen sich dem Faschismus oder einer anderen Form autoritärer Herrschaft zuwandte.[12]
Die lang anhaltende politische Bewegung des 19. Jahrhunderts in Richtung einer verfassungsmäßigen Regierung, eines Rechtsstaats, repräsentativer Volksvertretungen und einer Abdankung der Diktatur – die Umsetzung des Gedankenguts des 18. Jahrhunderts zu Vernunft und Debatte, Forschung und Gleichheit – war zum Stillstand gekommen, und eine Gegenbewegung hatte eingesetzt. Kaum eine Woche verging, ohne dass ein weiterer gelehrter Kommentator das Scheitern des Experiments erklärte. «Grabinschriften für die Demokratie sind groß in Mode», bemerkte der Rechtswissenschaftler Felix Frankfurter 1930. «Männer und Frauen in aller Welt erwogen im Jahr 1931 ernsthaft und diskutierten offen über die Möglichkeit, dass das westliche Gesellschaftssystem zusammenbrechen und nicht mehr funktionieren könnte», stellte der britische Historiker Arnold J. Toynbee in jenem schicksalhaften Jahr fest. «Die repräsentative Demokratie scheint in eine Sackgasse geraten zu sein», schrieb der Politikwissenschaftler Harold Laski 1932.[13]
Der letzte Friede hatte die Voraussetzungen für den nächsten Krieg geschaffen. Aus der Not entstand die Furcht, und aus der Furcht wurde Wut. Im Jahr 1930 waren mehr als drei Millionen Deutsche arbeitslos, und die Mitgliederzahl der NSDAP hatte sich verdoppelt. Adolf Hitler, ebenso verwirrt wie rücksichtslos, kam 1933 an die Macht, ließ 1936 deutsche Truppen in die entmilitarisierte Zone des Rheinlands einrücken und griff 1939 Polen an. Die Glocken der Geschichte läuteten eine epochale Tragödie ein. Japan, dessen Expansion vom Völkerbund für unzulässig erklärt worden war, besetzte 1931 die Mandschurei und 1937 die Stadt Schanghai. Der italienische Diktator Benito Mussolini, den es nach Ruhm und Kriegstriumphen und -trophäen gelüstete, fiel 1935 in Äthiopien ein. Tyrannen herrschten mit dem Terror der Lüge, angeführt vom Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda. Mussolini sagte voraus: «Der liberale Staat ist zum Untergang verurteilt.»[14]
Viel schien dabei vom Schicksal der Vereinigten Staaten und ihrer Suche nach einem neuen Weg abzuhängen, einem dritten Weg zwischen Laissez-faire-Kapitalismus und staatlich gelenkter Wirtschaft. «Es ist uns zugefallen, in einer dieser Umbruchzeiten der Menschheit zu leben, in denen es zu einer Krise der Sitten und Gewohnheiten, des Alltagslebens, der überkommenen Lebensart und traditionellen Denkweise kommt», sagte Walter Lippmann 1933 in einer Rede in Berkeley. «Die althergebrachten Beziehungen zwischen der großen Masse der Völker der Erde gibt es nicht mehr», sagte er. «Die Fixpunkte, nach denen unsere Väter das Staatsschiff gelenkt haben, sind verschwunden.»[15]
War das Staatsschiff verloren auf hoher See? «Wir alle sind immer noch, mehr oder weniger, primitive Menschen – wie die Lynchmorde dramatisch belegen und der Faschismus systematisch zeigt», schrieb der Historiker Charles Beard im Jahr 1934 verbittert. Die großen Volksmassen hatten auf ihrem Herrschaftsrecht bestanden, aber ihre Herrschaft war, wie sich gezeigt hatte, gefährlich, weil sie so leicht durch Propaganda verführbar waren. «Die liberale Kultur der Moderne ist nicht imstande, einer verwirrten Generation, die es mit der Auflösung eines Gesellschaftssystems zu tun bekommt und vor der Aufgabe steht, ein neues System aufzubauen, den Weg und die Richtung zu weisen», schrieb der Theologe Reinhold Niebuhr in jenem Jahr in seinem passend betitelten Buch Reflections on the End of an Era.[16]
Eine Reihe politischer Übereinkünfte war an ihr Ende gelangt; es blieb abzuwarten, welche sie ersetzen würden. Die Wählerschaft lehnte nach dem Börsenkrach sowohl Hoovers persönliche Führungsrolle als auch die seiner Partei ab. Bei den Zwischenwahlen von 1930 verloren die Republikaner 52 Sitze im Repräsentantenhaus. Hoovers Berater drängten den Präsidenten, sich in wöchentlichen zehnminütigen Radioansprachen an die Nation zu wenden, um auf diesem Weg Trost zu spenden und Orientierung zu bieten; er weigerte sich.
Nur wenige Sprechstimmen waren für das neue Medium noch schlechter geeignet. Hoover hielt während seiner Präsidentschaft 95 Radioreden, aber bei der Handvoll von Sendungen, in denen er mehr mitteilte als einen angestrengten, bemühten Gruß, las er die Worte mit schrecklich monotoner Stimme von seinem Manuskript ab. «Niemand, der auch nur über einen Funken menschlichen Mitgefühls verfügt, kann ungerührt bleiben angesichts der möglichen Leiden, die viele unserer unglücklichen amerikanischen Mitbürger zerstören können, wenn wir sie im Stich lassen», sagte er einmal, als er einen gut geschriebenen, ja sogar aufrüttelnden Text ablas und dabei klang wie der überarbeitete Mittelschulrektor, der bei einer Abschlussfeier am Lesepult einer graugrünen Aula teilnahmslos die Namen der Absolventen vorträgt.[17]
Franklin Delano Roosevelt hatte keinerlei Probleme mit solchen Ungeschicklichkeiten. Er trug einen breitkrempigen Hut und eine randlose Brille mit runden Gläsern. Seine Geziertheit und eine gewisse persönliche Pedanterie trugen ihm den Spitznamen «Feather Duster Roosevelt», «Staubwedel R.», ein. Aber trotz seines patrizischen Stils sprach er im Radio mit müheloser Vertrautheit und gewinnendem Charme, wirkte kenntnisreich, geduldig, warmherzig und entschlossen. Er sprach, wie er gerne sagte, mit der «Ruhe des Common Sense und mit Freundlichkeit».[18] Hoover, ein Mann, der aus einfachen Verhältnissen kam und dem Dienst an der Allgemeinheit verpflichtet war, sollte später als jemand gesehen werden, dem die Leiden der allerärmsten Amerikaner gleichgültig waren. Roosevelt, zum Aristokraten erzogen, würde als Fürsprecher der Armen in Erinnerung bleiben.
Der 1882 in Hyde Park geborene Roosevelt hatte als junger Mann seinen weitläufig mit ihm verwandten Cousin, den Löwenjäger Theodore Roosevelt, sehr bewundert und ihm sogar nachgeeifert. «Delighted!» («Erfreut!»), sagte er gerne, und «Bully!» («Prima!»). Der 28-jährige wurde 1910 für die Demokraten in den Senat des Staates New York gewählt. Drei Jahre später ernannte ihn Wilson zum stellvertretenden Marineminister (Assistant Secretary of the Navy). 1920 hatte er es bis zum Kandidaten für die Vizepräsidentschaft gebracht, aber im darauffolgenden Jahr schien seine politische Laufbahn bereits beendet zu sein, als er an Kinderlähmung erkrankte, die seine Beine lähmte. Im Privatleben auf einen Rollstuhl angewiesen, verbarg er seine Krankheit vor der Öffentlichkeit, indem er Beinschienen und einen Gehstock benutzte, obwohl er nur unter großen Schmerzen wenige Schritte machen konnte. Seine Frau Eleanor sagte, es sei seine Lähmung gewesen, die Roosevelt gelehrt habe, «was Leid bedeutet».[19]
Die Schmerzerfahrung veränderte seine Stimme: Sie machte sie wärmer. Hoover verstand die Bedeutung des Radios; Roosevelt wusste, wie man es nutzen konnte. Während einer Nominierungsrede beim Nationalkonvent der Demokraten im Jahr 1928, dem ersten Konvent, der im Radio übertragen wurde, hatte Roosevelt das Gefühl – und er klang auch so –, als würde er nicht zu seinem Publikum im Madison Square Garden sprechen, sondern zu Amerikanern überall im Land. Er verfeinerte seine Fähigkeiten als Radioredner anschließend im Amt des Gouverneurs von New York, indem er über den Sender WOKO in Albany regelmäßige «Berichte an das Volk» verbreitete. Die Zeitungen des Bundesstaats standen mehrheitlich den Republikanern nahe; Roosevelt hielt eine monatliche Radioansprache, um sie zu umgehen und die Wählerschaft direkt zu erreichen.
1932 bewarb er sich um die Nominierung als Präsidentschaftskandidat der Demokraten und vertrat dabei eine neue Variante des Liberalismus, die sich gleichermaßen bei Bryans Populismus und bei Wilsons Progressivismus bediente. «Die Geschichte des letzten halben Jahrhunderts ist … in hohem Maß die Geschichte einer Gruppe von Finanzgiganten», sagte Roosevelt bei einer Kundgebung in San Francisco. Aber «die Tage des großen Projektträgers oder Finanzgiganten, dem wir alles bewilligten, wenn er nur baute oder erschloss, sind vorbei».[20]
Als Roosevelt im Amtssitz des Gouverneurs in Albany im Radio hörte, dass der Nationalkonvent der Demokraten in Chicago ihn nominiert habe, rief er dort an und sagte, er mache sich auf den Weg. Während die Delegierten – und mit ihnen ein erwartungsvolles Radiopublikum – warteten, flog Roosevelt nach Chicago, wobei sein Flugzeug in Cleveland noch einen Tankstopp einlegte. Bis dahin war noch kein einziger nominierter Präsidentschaftskandidat persönlich erschienen, um die Nominierung anzunehmen, aber Roosevelt sagte, man lebe in merkwürdigen Zeiten, die nach Änderungen verlangten: «Machen wir es ab jetzt zur Aufgabe unserer Partei, mit törichten Traditionen zu brechen.» In seiner mitreißenden, live übertragenen Ansprache, mit der er die Nominierung annahm, versprach er dem amerikanischen Volk eine «neue Chance» («new deal»).
«Ich verspreche Ihnen und ich verspreche mir selbst einen New Deal für das amerikanische Volk», sagte er vor einer begeistert tobenden Menge, in der die Strohhüte geschwenkt wurden. «Lassen Sie uns alle hier Versammelten selbst als Propheten einer neuen Ordnung einsetzen, die von Tüchtigkeit und Mut geprägt ist. Dies ist mehr als ein politischer Wahlkampf, es ist eine Mobilisierung. Helfen Sie mir, nicht nur Stimmen zu gewinnen, sondern in diesem Kreuzzug zu siegen, mit dem Amerika dem eigenen Volk zurückgegeben werden soll.»[21]
Politiker und Anhänger der Republikaner sagten oft – wie schon über William Jennings Bryan –, dass sie, wenn sie Roosevelt zuhörten, plötzlich seiner Meinung seien, selbst wenn das gar nicht zutreffe. «Dieser Mann muss nur im Radio sprechen, und der Klang seiner Stimme, seine Aufrichtigkeit und die Art, wie er spricht, rühren mich einfach», sagte einer von ihnen. Hoover verglich Roosevelt nicht nur dem Stil nach, sondern auch in den Inhalten seiner Politik mit Bryan und bezeichnete den New Deal kurzerhand als «Bryanismus mit neuen Worten und Methoden». Das stimmte zwar nicht, soweit es Politik und Wählerschaft betraf, aber es gab unbestreitbare Ähnlichkeiten. Der New Deal «ist so alt wie die christliche Ethik, denn im Wesentlichen ist es die gleiche Ethik», sagte Roosevelt gerne. «Er erkennt an, dass der Mensch tatsächlich seines Bruders Hüter ist, betont, dass der Arbeiter seines Lohnes wert ist, und verlangt, dass das Recht für die Mächtigen ebenso gilt wie für die Schwachen.»[22]
Dennoch war an Roosevelts Präsidentschaft vieles neu, und das begann bereits mit dem Wahlkampf. Die Reden, die er bei seinen Auftritten im ganzen Land hielt, waren die ersten Reden eines Präsidentschaftsbewerbers, die gefilmt und im Wochenschauprogramm der Kinos gezeigt wurden. Nach der Annahme der Nominierung begann er mit den landesweit verbreiteten Radioansprachen aus dem Amtssitz des Gouverneurs, und jede neue Rede fiel noch entwaffnender aus als die vorhergehende.
«Ich hoffe darauf, das Radio während dieses Wahlkampfs häufig nutzen zu können, um über wichtige Themen, die uns alle betreffen, zu Ihnen zu sprechen», ließ er sein Publikum wissen. «Ich möchte, dass Sie mich heute Abend hören, wenn ich hier zu Hause sitze, weit weg von den Aufregungen des Wahlkampfs, und nur einige Familienmitglieder und wenige persönliche Freunde bei mir sind.» Die meisten Amerikaner hatten Kandidaten für nationale politische Ämter immer nur laut rufen oder schreien hören, wenn sie versuchten, mit ihrer Stimme in einem Festsaal oder auf einem Footballplatz durchzudringen. Roosevelt so ruhig und gelassen sprechen zu hören, als sitze er einem am Küchentisch gegenüber und führe dabei ein vernünftiges Gespräch mit seinem Gegenüber, brachte ihm bei den Amerikanern große Zuneigung ein. «Es war eine Gottesgabe», sagte seine Frau. Er «konnte so zu den Menschen sprechen, dass sie das Gefühl hatten, er spreche sie persönlich an».[23]
Im November bereitete Roosevelt dem Amtsinhaber Hoover eine vernichtende Niederlage, sicherte sich eine Mehrheit von 472 zu 59 Stimmen im Wahlmännergremium und gewann in 42 von 48 Bundesstaaten. Die einfachste Erklärung war, dass die Öffentlichkeit Hoover die Schuld an der Wirtschaftskrise gab. Aber mit diesem überdeutlichen Wahlausgang verband sich noch mehr. Die Wahl von FDR bedeutete auch die Einführung eines neuen Parteiensystems, weil die Demokratische und die Republikanische Partei sich neu sortierten. Das Stichwort dafür war die New-Deal-Koalition, die Industriearbeiter, Farmer im Süden, ethnische Minderheiten, liberale Intellektuelle, ja sogar Industrielle und, noch merkwürdiger, Frauen zusammenführte. FDRs Aufstieg stand mit seinen Wurzeln im Populismus des 19. und im Progressivismus des frühen 20. Jahrhunderts zugleich für den Aufstieg des modernen Liberalismus.
Aber FDRs Wahl und die New-Deal-Koalition markierten noch auf eine andere Art einen Wendepunkt – im Charakter und in den Ambitionen seiner Ehefrau, der unbeugsamen Eleanor Roosevelt. Sie wurde 1884 in New York geboren und bereits im Kindesalter zu einer Vollwaise. Sie heiratete FDR, ihren Cousin 5. Grades, 1905; das Ehepaar hatte sechs Kinder. Nach neun Ehejahren begann Franklin eine Affäre mit Eleanors Sekretärin, und als Eleanor dahinterkam, verweigerte er, aus Furcht vor einem Ende seiner politischen Karriere, die Zustimmung zur Scheidung. Eleanor verlagerte ihre Tätigkeit nach außen. Während des Krieges engagierte sie sich in der internationalen Wohltätigkeitsarbeit, und nachdem Franklin 1921 an Polio erkrankte, begann sie mit öffentlichen Auftritten als Rednerin und folgte dabei einem Ruf, der so viele Frauen zum ersten Mal eine Bühne betreten ließ: Sie wurde als Vertreterin ihres Mannes entsandt.
Eleanor Roosevelt wurde aufgrund ihres eigenständigen Beitrags zu einer bedeutenden Persönlichkeit in der amerikanischen Politik, und das genau zu einem Zeitpunkt, als Frauen sich politischen Parteien anschlossen. Alice Paul hatte 1916 aus Enttäuschung, dass die großen Parteien sich vor dem Thema Gleichberechtigung drückten, die National Woman’s Party gegründet.[24] Die Demokratische und die Republikanische Partei begannen unterdessen um Frauen zu werben, aus Furcht, dass schon in naher Zukunft wahlberechtigte Frauen einen eigenen Stimmenblock bilden könnten. Das Democratic National Committee (DNC) richtete 1917 eine Women’s Division ein, und die Republikaner zogen ein Jahr später nach, wobei der Parteivorsitzende versprach, «jeder Tendenz in Richtung der Gründung einer eigenständigen Frauenpartei Einhalt zu gebieten». Nach der Ratifizierung des 19. Zusatzartikels im Jahr 1920 steuerte Carrie Chapman Catt, die Vorsitzende der League of Women Voters, die Frauen von der National Woman’s Party weg, legte ihnen dringend nahe, einer der beiden großen Parteien beizutreten, und verband dies mit dem folgenden Rat: «Die einzige Möglichkeit, bestimmte Dinge in diesem Land zu bekommen, ist, sie innerhalb einer politischen Partei zu finden.» Nur wenige Frauen reagierten auf diesen Appell energischer als Eleanor Roosevelt, die zu einer führenden Persönlichkeit der Women’s Division der Demokratischen Partei im Staat New York wurde, während sich ihr Ehemann für das Amt des Gouverneurs bewarb, in das er dann auch gewählt wurde. Im Jahr 1928 war sie, als Vorsitzende der Women’s Division des DNC, eine der beiden mächtigsten Frauen in der amerikanischen Politik.[25]
Eleanor Roosevelt, schlank und hochgewachsen, trug Kleider mit Blumenmuster und steckte Blumen in die Krempe der Schlapphüte, die sie sich aufs lockige Haar setzte, aber sie hatte ein Rückgrat, stabil wie die Stahlträger eines Wolkenkratzers. Sie hatte nicht gewollt, dass ihr Mann fürs Präsidentenamt kandidierte, in erster Linie, weil sie so wenig Interesse daran hatte, First Lady zu werden und eine Rolle einzunehmen, die bis dahin, mit seltenen Ausnahmen, darin bestanden hatte, als Gastgeberin bei Staatsbanketten zu fungieren und den Männern das Feld zu überlassen, wenn die Unterhaltung sich den Staatsgeschäften zuwendete. Sie gab dieser Rolle ihr eigenes Gepräge und beschloss, ihre Stellung zu nutzen, um Anliegen voranzubringen, die ihr wichtig waren: Frauenrechte und Bürgerrechte. Sie bereiste das ganze Land, schrieb eine regelmäßig erscheinende Zeitungskolumne und hielt, ab Dezember 1932, eine Serie von 13 im ganzen Land verbreiteten Radioansprachen. Ein rhetorisches Naturtalent war sie nicht, gewann aber eine außerordentliche treue Anhängerschaft und entwickelte sich zu einer Radioberühmtheit. Aus dem Weißen Haus bestritt sie rund 300 Radiosendungen, in etwa gleich viele wie FDR. Und was vielleicht am wichtigsten war: Sie erreichte Frauen auf dem Land, die sonst nur wenige Verbindungen zum kulturellen Leben der Nation hatten, es sei denn über das Radio. «Während ich zu Ihnen sprach», ließ sie ihr Publikum wissen, «versuchte ich mir zu vergegenwärtigen, dass hoch dort oben auf Farmen in den Bergen von Tennessee, auf abgelegenen Ranches in der Prärie in Texas und in Tausenden und Abertausenden von Wohnstätten Frauen dem zuhören, was ich sage.»[26]
Eleanor Roosevelt brachte nicht nur Frauen in die Politik und definierte die Rolle der First Lady neu, sie sorgte auch dafür, dass sich die Demokratische Partei um die Interessen von Frauen kümmerte, was eine dramatische Kehrtwendung bedeutete. Die Republikanische Partei hatte seit ihrer Gründung im Jahr 1854 um die Unterstützung von Frauen geworben; die Demokratische Partei hatte Frauen zurückgewiesen und ihre Anliegen verworfen. Unter Eleanor Roosevelts Einfluss begann sich das zu ändern. In den Jahren, in denen sich Frauen erstmals für eine Partei entschieden, schloss sich eine größere Zahl von ihnen den Demokraten an als den Republikanern. In den Jahren von 1934 bis 1938 stieg die Zahl der weiblichen Mitglieder bei den Republikanern um 400 Prozent, die der Frauen bei den Demokraten um 700 Prozent.[27]
Im Januar 1933 gab sie bekannt, dass sie die Absicht habe, ein Buch zu schreiben. «Mrs. Franklin D. Roosevelt, die eine der aktivsten Frauen im ganzen Land gewesen ist, seit ihr Ehemann zum Präsidenten gewählt wurde, wird ab jetzt und bis zur Amtseinführung im März ein 40.000 Wörter umfassendes Buch schreiben», berichtete ein ungläubiger Boston Globe. «Und jedes Wort wird von Mrs. Roosevelt selbst stammen.»[28]
It’s Up to the Women erschien noch in jenem Frühjahr. Nur die Frauen könnten das Land aus der Wirtschaftskrise herausführen, schrieb die Autorin – durch Sparsamkeit, harte Arbeit, gesunden Menschenverstand und Beteiligung am gesellschaftlichen Leben. Der «wahre New Deal für das Volk», das sagte Eleanor Roosevelt immer, war mit dem Erwachen der Frauen verbunden.[29]
FRANKLIN DELANO ROOSEVELT fuhr auf dem Rücksitz eines schwarzen Cabriolets zum Weißen Haus, neben ihm saß Hoover, sie hatten sich eine Decke auf den Schoß gelegt. Nach diesem kalten Tag, dem 4. März 1933, begegneten sich die beiden Männer nie wieder. «Unsere große Nation wird durchhalten, wie sie bisher durchgehalten hat», sagte FDR in seiner Inaugurationsrede, darum bemüht, eine besorgte Nation zu beruhigen, während er selbst sich am Pult festhielt und unter großen Schmerzen die Last des eigenen Körpers trug. «Das Einzige, was wir zu fürchten haben, ist die Furcht selbst – jenen namenlosen, blinden, unbegründeten Schrecken.»[30]
Zu dieser Zeit waren viele Amerikaner der Ansicht, die Wirtschaftskrise sei so furchtbar, dass der neue Präsident diktatorische Vollmachten für sich beanspruchen müsse, um jeder Art Obstruktionspolitik vonseiten des Kongresses begegnen zu können. «Die Lage ist kritisch, Franklin», schrieb Walter Lippmann an Roosevelt. «Sie haben vielleicht keine Alternative zur Übernahme diktatorischer Vollmachten.»[31] Gabriel Over the White House, ein Hollywood-Film, der in Koproduktion mit Randolph Hearst entstand und zur Zeit der Amtseinführung im März 1933 in die Kinos kam, zeigte einen fiktiven, aber deutlich an Roosevelts Vorbild orientierten Präsidenten, der, von der Amtsenthebung bedroht, in eine gemeinsame Sitzung beider Häuser des Kongresses platzt.
«Sie haben kostbare Tage und Wochen und Jahre mit fruchtlosen Diskussionen vergeudet», sagt er zu den versammelten Volksvertretern. «Wir brauchen Taten, sofortige und effektive Taten!» Er ruft den nationalen Notstand aus, suspendiert den Kongress und übernimmt die alleinige Regierungsgewalt. «Mr. President, das bedeutet Diktatur!», ruft ein Senator. «Worte machen mir keine Angst!», erwidert der Präsident.[32]
«Brauchen wir einen Diktator?», fragte The Nation in dem Monat, in dem der Film anlief, und gab selbst die Antwort: «Ganz bestimmt nicht!»[33]
Die Welt blickte unterdessen auf Deutschland. Amerikanische Reporter hatten Hitler lange unterschätzt. Die weltberühmte Dorothy Thompson interviewte Hitler 1930 und tat ihn kurzerhand ab. «Er ist inkonsequent und zungenfertig, unausgeglichen, unsicher», schrieb sie. «Er ist der exakte Prototyp des kleinen Mannes.» Was dieser kleine Mann vorhatte, wurde 1933 klarer, und Thompson sollte mehr dafür tun, in Amerika ein Bewusstsein für die Verfolgung der europäischen Juden zu schaffen, als fast alle anderen Autoren. Den Nationalsozialismus bezeichnete sie als «Ablehnung der gesamten Geschichte der westlichen Welt» und als «vollständigen Bruch mit der Vernunft, mit dem Humanismus und mit der christlichen Ethik, die die Grundlage des Liberalismus und der Demokratie bilden». Nachdem sie wegen ihrer Kritik an der nationalsozialistischen Regierung im August 1934 aus Deutschland ausgewiesen worden war, ließ sie sich die Ausweisungsverfügung einrahmen und hängte sie an die Wand.[34]
Hitler war am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt worden. Bei der Reichstagswahl am 5. März 1933 – es war die letzte Wahl, die dem deutschen Volk für mehr als zwölf Jahre zugestanden wurde – verfehlte die NSDAP mit 43,9 Prozent der Stimmen die absolute Mehrheit. Sechs Tage später teilte Hitler seinem Kabinett die Absicht mit, ein Propagandaministerium einzurichten. Joseph Goebbels, am 13. März zu dessen Chef ernannt, schrieb drei Tage später in sein Tagebuch: «Ich will den Rundfunk ganz haben. Ich krieg ihn auch.» Nachdem Hitler sich die Kontrolle über den Rundfunk gesichert hatte, übernahm er auch die Kontrolle über das, was an Regierungsgewalt noch verblieben war. Am 23. März sprach er vor dem Reichstag, die Krolloper, wo das Parlament nach dem Reichstagsbrand tagte, war von SA und SS abgesperrt worden. Unter einer riesigen Hakenkreuzfahne verlangte Hitler vom Reichstag die Verabschiedung des «Gesetzes zur Behebung der Not von Volk und Reich», mit dem das Parlament seine verfassungsmäßige Gewalt aufgab und Hitler ermächtigte, an seiner Stelle Gesetze und Verordnungen zu erlassen. Die Regierung verbot bald alle politischen Parteien mit Ausnahme der NSDAP. Im Oktober 1933 trat Deutschland aus dem Völkerbund aus. Jüdische Flüchtlinge, die versuchten, in die Vereinigten Staaten zu gelangen, sahen sich durch ein groteskes Paradoxon blockiert: Ein Gesetz des NS-Staates verfügte, dass ein Jude nicht mehr als vier Dollar außer Landes bringen durfte; amerikanische Einwanderungsbestimmungen schlossen alle Immigranten aus, die «wahrscheinlich zu einer Belastung für die Allgemeinheit werden».[35]
Für Menschen auf der ganzen Welt war Roosevelt die Hoffnung der Demokratie und sein New Deal die letzte große Chance einer liberalen Gesellschaftsordnung. «Sie haben sich zum Treuhänder für diejenigen Menschen in allen Ländern der Welt gemacht, die versuchen, die Missstände in unseren gesellschaftlichen Verhältnissen durch wohlüberlegte Experimente im Rahmen des bestehenden Gesellschaftssystems zu beheben», schrieb John Maynard Keynes an den Präsidenten. «Wenn Sie scheitern, wird sich jeder vernunftbestimmte Wandel weltweit schweren Vorbehalten ausgesetzt sehen, so dass es der Orthodoxie und der Revolution vorbehalten bleibt, die Dinge auszufechten. Aber wenn Sie Erfolg haben, werden neue und mutigere Methoden überall erprobt werden, und wir können das erste Kapitel einer neuen wirtschaftlichen Ära auf den Tag Ihres Amtsantritts datieren.»[36]
Keynes’ Erwartungen waren nichts im Vergleich zu denen normaler Amerikaner. An den ersten sieben Tagen im Amt erhielt FDR mehr als 450.000 Briefe und Telegramme. Längst nicht alle Zuschriften fielen günstig aus, aber FDR liebte die Resonanz dennoch; sie zeigte ihm, was die Menschen dachten. Ihm war es wichtig, täglich eine Auswahl der Post zu lesen.[37]
Die Menschen hatten seit George Washingtons Amtseinführung an ihre Präsidenten geschrieben, aber keine andere Präsidentschaft hatte auch nur annähernd für eine solche Postflut gesorgt.[38] (Hoover erhielt 800 Briefe pro Tag; FDR 8000.) Die Zunahme der «Fanpost» – der Ausdruck fand erst seit den 1920er Jahren Verwendung – war eine Folge des Radios; die Sender ermutigten ihre Hörer, ihnen zu schreiben und nutzten die Reaktionen aus dem Publikum für die Weiterentwicklung ihres Programms. Die National Broadcasting Corporation erhielt in den 1930er Jahren zehn Millionen Briefe pro Jahr (nicht mitgezählt ist dabei die Post, die an Tochtergesellschaften, Sponsoren und Sender ging). Das Weiße Haus begann, wie die Radiosender auch, seine Post zu lesen, zu sortieren und zu zählen. Eleanor Roosevelt erhielt allein im Jahr 1933.300.000 Briefe. Der nächste Ort, auf den die Post herabregnete, war der Kongress. Beim Senat gingen 1935 40.000 Briefe pro Tag ein. Ende der 1930er Jahre schrieben die Wähler Briefe an die Richter am Supreme Court.[39]
FDR hörte nicht nur einfachen Amerikanern genau zu, indem er eine Auswahl von Briefen aus der Wählerschaft las, er versammelte auch ein insgesamt durchaus ungewöhnliches Team von Beratern um sich. Gewählt in einer nationalen Notlage, stellte Roosevelt einen «Brain Trust» zusammen, dem unter anderem, als Arbeitsministerin, Frances Perkins angehörte, die erste Ministerin im Kabinett eines amerikanischen Präsidenten. Wie Roosevelt sich auf seinen Brain Trust stützte und dem Rat seiner Mitglieder zugleich seine persönliche Note gab, zeigt ein Beispiel aus der Verwendung von Radiomanuskripten. «Wir versuchen eine umfassendere («more inclusive») Gesellschaft zu errichten», hatte Perkins für ihn aufgeschrieben, im Entwurf eines Redetextes, der für eine Radioansprache bestimmt war. Als Roosevelt die Rede hielt, sagte er stattdessen: «Wir werden ein Land schaffen, in dem keiner draußen bleibt.»[40]
Er begann seine Amtszeit mit einer Schließung der Banken im ganzen Land. Die Zahl der Banken- und Unternehmenskonkurse erreichte zu jener Zeit einen historischen Höchststand. Millionen von Amerikanern hatten ihre gesamten Ersparnisse verloren. Die New Yorker Börse und der Chicago Board of Trade hatten den Handel ausgesetzt, und die Gouverneure von 32 Bundesstaaten hatten die Banken in ihren Staaten bereits schließen lassen, um einen vollständigen Zusammenbruch zu vermeiden. In den Staaten, in denen die Banken noch geöffnet blieben, konnten die Einleger nicht mehr als fünf Prozent ihrer Guthaben abheben. Roosevelt schloss die Banken, um weitere Zusammenbrüche zu verhindern. Am 5. März, dem Tag nach seiner Amtseinführung, bat er den Kongress um die Verfügung einer viertätigen Schließung aller Banken. Nach den Bestimmungen des Emergency Banking Acts sollten Banken wieder geöffnet werden, sobald ihre wirtschaftliche Stabilität festgestellt worden war. FDR trug am 12. März im Radio das vor, was Radiodirektoren künftig als «Kaminplauderei» («fireside chat») bezeichnen sollten – die erste von mehr als 300 Ansprachen dieser Art. Er erläuterte dabei seinen Plan für die Banken und verband das mit beruhigenden Worten. «Ich möchte Ihnen sagen, was in den letzten paar Tagen getan wurde, warum es getan wurde und was die nächsten Schritte sein werden», sagte er. Und er unterwies sein Publikum: «Wenn Sie bei einer Bank Geld einzahlen, wird die Bank dieses Geld nicht in einem gut gesicherten Tresorraum aufbewahren.» Der Präsident bat um das Vertrauen der Amerikaner: «Ich kann Ihnen garantieren, dass es sicherer ist, Ihr Geld in einer wiedereröffneten Bank aufzubewahren, als unter der Matratze.»[41]
Roosevelts Möglichkeiten, solche Maßnahmen zu treffen, wurden erheblich gestärkt durch die öffentliche Zustimmung, die er sich über das Radio verschaffte. Die Leute erzählten, dass man im Sommer in der Stadt eine Straße entlanggehen konnte, vorbei an den offenen Fenstern von Häusern und Autos, und dabei kein einziges Wort einer Kaminplauderei verpasste, weil alle das Radio eingeschaltet hatten. «Wir sind auf eine neue und wahrhaftige Art Nachbarn geworden», sagte FDR und umriss damit, was die von Küste zu Küste verbreiteten Radiosendungen bewirkt hatten. Er hatte sich Aufzeichnungen seiner Reden angehört, nachdem er sie gehalten hatte, um beim nächsten Mal besser zu sein. So gründlich arbeitete er an seinen Manuskripten, dass er seine Ansprachen, wenn er sich ans Mikrofon setzte, auswendig vortragen konnte. Vor jedem Rundfunkauftritt hielt er ein kurzes Schläfchen, um seine Stimme zu schonen. Er sprach in einem ungewöhnlichen Tempo – viel langsamer als die meisten Ansager im Radio – und mit einem alltäglichen Wortschatz. Roosevelts Meisterschaft bei der Nutzung des Radios entsprang seiner Begabung für und seiner Hingabe an die Form. Aber er arbeitete auch mit dem Vorsitzenden der Federal Communications Commission daran, dass Zeitungsverleger nicht in den Besitz von Radiosendern gelangten, vereitelte so William Randolph Hearsts Versuch, sein Medienimperium auf das Radio auszuweiten, und verweigerte einem seiner wichtigsten politischen Gegner einen Platz auf der Senderskala.[42]
Roosevelt war auch bei seiner Arbeit mit dem Kongress hartnäckig. Er traf sich in den ersten hundert Tagen seiner Regierung täglich mit Abgeordneten und legte ihnen eine Vielzahl von – später vom Kongress auch verabschiedeten – Gesetzesvorlagen auf den Tisch. Mit ihnen wollte er das Bankensystem stabilisieren und reformieren, die Wirtschaft durch die planerische Tätigkeit der Regierung regulieren, durch Förderprogramme der öffentlichen Hand Wirtschaftshilfe leisten und es den Farmern durch das Bereitstellen besserer Ressourcen für ländliche Regionen ermöglichen, ihre Betriebe weiterzuführen. «Als Nation erkennen wir», sagte Frances Perkins, «dass Programme, die lange nur mit dem Wohlergehen der Arbeiterschaft verbunden wurden, zum Beispiel die Verkürzung der Arbeitszeit, höhere Löhne und eine Mitsprache bei den Arbeitsbedingungen, in Wirklichkeit unentbehrliche Faktoren für die wirtschaftliche Erholung sind.»[43]
Roosevelts Programm beruhte auf der Vorstellung, dass die Planung von Regierungsseite für die Erholung notwendig sei und in gewissem Umfang auf der von Keynes inspirierten Überzeugung, dass Ausgaben der Regierung das Heilmittel gegen die Depression seien, ein Programmpunkt, den er sich noch vor der Veröffentlichung von Keynes’ General Theory of Employment, Interest, and Money (1936) zu eigen machte. Zu FDRs das Bankwesen betreffenden Reformen zählten der Emergency Banking Act, der Glass-Steagall Act, durch den die Federal Deposit Insurance Corporation eingerichtet wurde, und die Schaffung der Securities Exchange Commission. Die Public Works Administration beaufsichtigte Zehntausende von Infrastrukturprojekten, zu denen die Reparatur von Straßen und der Bau von Staudämmen zählten, aber auch kulturelle und künstlerische Initiativen wie etwa das Federal Writers’ Project und das Federal Theatre Project. Der Agricultural Adjustment Act galt den Problemen, mit denen mehr als ein Drittel der Amerikaner zu kämpfen hatte, die auf Farmen arbeiteten.
FDR hatte mit vielen dieser Probleme bereits als Gouverneur von New York zu tun gehabt. In den 1920er Jahren wurden mehr als 300.000 Farmen im Staat New York von den Besitzern aufgegeben. Roosevelt glaubte – wie viele andere Reformer auch, die mit der später als New Conservation bezeichneten Richtung verbunden waren –, dass die größte Ungleichheit in der Vermögensverteilung zwischen dem städtischen und dem ländlichen Amerika bestand. In den ländlichen Gemeinden gab es schlechtere Schulen und eine unzureichende medizinische Versorgung, dafür aber höhere Steuern. Ein armes Land bringt arme Menschen hervor, glaubte Roosevelt. «Ich möchte das Land aufbauen, damit es, zumindest teilweise, als Absicherung gegen künftige Wirtschaftskrisen wirken kann», sagte Roosevelt 1931, in dem Jahr, in dem er die New York Power Authority, einen staatlichen Energieerzeuger und Stromnetzbetreiber, ins Leben rief. Der Agricultural Adjustment Act, die Farm Security Administration (FSA) und andere Gesetzes- und institutionelle Initiativen im landwirtschaftlichen Bereich hoben die Probleme einer besseren und gerechteren Verteilung von Ressourcen wie Land, Energieversorgung und Wasser auf die nationale Ebene. Die schlimmsten Nöte, die das bäuerliche Amerika litt, konzentrierten sich auf den Cotton Belt, den Teil des Landes, den FDR als «das größte wirtschaftliche Problem der Nation – das Problem der Nation, nicht nur des Südens» bezeichnete.[44]
Reform, Hilfe und Erholung waren die drei Säulen von FDRs Programm. Erste Ergebnisse waren vielversprechend, aber die Depression bestand fort. «Wenn irgendein Prognostiker das Ergebnis der Gesetze des New Deal vorhersagt, gibt er mehr oder weniger den Ratespieler in diesem Tal der Tränen», schrieb Charles Beard 1934. «Was ist ein ‹Ergebnis› oder ein ‹Resultat›? Ist es ein Ergebnis oder Resultat im Jahr 1936, 1950 oder gar im Jahr 2000?» Der New Deal hatte kaum begonnen, aber die Wählerschaft reagierte zustimmend; die Demokraten schnitten bei den Zwischenwahlen gut ab, was Roosevelt dazu bewog, weiter Druck zu machen. «Jungs, das ist unsere Stunde», sagte sein Berater Harry Hopkins. «Wir müssen alles bekommen, was wir wollen – ein Arbeitsbeschaffungsprogramm, Sozialversicherung, Lohn- und Arbeitszeitgesetze, alles – jetzt oder nie.» Oder eben nicht ganz alles. Isaac Rubinow, der in den 1910er Jahren für eine nationale Krankenversicherung gekämpft hatte, veröffentlichte 1934 The Quest for Security und drängte FDR, die medizinische Versorgung in den New Deal aufzunehmen. Aber mittlerweile hatte die American Medical Association, die Rubinows Vorschlag vor dem Krieg noch unterstützt hatte, die Seiten gewechselt. Wenn die Regierung sich in die medizinische Versorung einmische, schrieb der Herausgeber des Journal of the American Medical Associaton, stelle sich letztlich die Frage des «Amerikanismus versus Sowjetismus».[45]
Selbst ohne allgemeine Krankenversicherung war der Umfang des New Deal bemerkenswert. Der Kongress verabschiedete 1935 den National Labor Relations Act, mit dem Arbeitern das Organisationsrecht zugestanden und zugleich die Works Project Administration gegründet wurde, die Millionen von Menschen für den Bau von Straßen und Schulen und Krankenhäusern einstellte und auch Künstler und Schriftsteller unter ihre Fittiche nahm. Unterdessen erarbeitete Perkins das Gesetz über die soziale Sicherheit (Social Security Act), das der Kongress noch im gleichen Jahr verabschiedete. Dieses Gesetz führte die Altersrente ein, ebenso wie eine Unterstützung der Bundesregierung für vaterlose Familien und ein Arbeitslosengeld.
Dennoch hatten die Reformen ihre Grenzen. Zunächst einmal hegten die liberalen Politiker, die in den 1930er Jahren den Wohlfahrtsstaat schufen, eine grundsätzliche Abneigung gegen Sozialhilfe an sich. Roosevelt sagte: «Die Bundesregierung hat weder den Wunsch noch die Absicht, dem Lande oder den Arbeitslosen selbst ein Unterstützungssystem aufzuzwingen, das mit dem amerikanischen Ideal des individuellen Selbstgefühls unvereinbar ist.» Und sie hatten auch große Bedenken gegen das Erheben direkter Steuern, eine Aversion, die am deutlichsten bei der Entscheidung zutage trat, den Social Security Act über eine Steuer auf Löhne und Gehälter zu finanzieren. Das ermöglichte es den New Dealers, zwischen Renten- und Arbeitslosenprogrammen (ausgewiesen als Versicherung und bezahlt durch jährliche Beiträge aus der Besteuerung von Lohnzahlungen, die als Versicherungsprämien galten) und Programmen zur Armutsbekämpfung, etwa der Hilfe für minderjährige Kinder (Aid to Dependent Children; ausgewiesen als wohltätige Leistung), zu unterscheiden. Ein Erbe dieser Unterscheidung war, dass Amerikaner, die der Sozialfürsorge mit Ablehnung begegneten, die Sozialversicherung nur selten als einen Teil davon betrachteten.[46]
HUNGER, EINE NOT BIS ZUM KÖRPERLICHEN SCHMERZ, war die große Geißel der 1930er Jahre. Das Land selbst war unfruchtbar geworden. «Wenn wir die Baumwolle pflückten, sahen wir noch die zwei oder drei Monate alten Spuren des Pfluges», erinnerte sich Willis Magby an die Dürrezeit in Beaton, Arkansas, westlich von Little Rock. «Es hatte nicht genug geregnet, um die Spuren auszuwaschen.» Magby war 13 Jahre alt, als seine Eltern sich mit ihm und seinen sechs jüngeren Geschwistern in ein altes Model T zwängten und von Arkansas nach Südtexas fuhren. Die Familie schlief am Straßenrand auf dem Erdboden und versetzte unterwegs die letzten ihrer wenigen Habseligkeiten, um tanken zu können. In Texas angekommen, ernährten sie sich wochenlang von Maismehl, das mit Regenwasser zu einem Brei verrührt wurde. Einen Winter lang lebten sie von Kaninchenfleisch. Erst als Magbys Vater mit Hilfe eines Regierungskredits ein Maultiergespann kaufte, ging es langsam wieder aufwärts.[47]
Knapp fünf von zehn weißen und neun von zehn schwarzen Familien litten zu irgendeinem Zeitpunkt der Depression unter Armut. Schwarzen Familien ging es dabei schlechter, und das nicht nur, weil mehr von ihnen in Armut gerieten, sondern weil ihnen die Wege aus der Armut oft verschlossen blieben. New-Deal-Kredit-, Hilfs- und Versicherungsprogramme schlossen schwarze Menschen oft explizit aus.
Louise Norton, im Jahr 1900 auf Grenada geboren, lernte ihren späteren Ehemann Earl Little, einen Baptisten-Geistlichen, 1917 bei einer Versammlung der United Negro Improvement Association in Philadelphia kennen. Die Littles lebten 1925 in Omaha, und Louise war mit ihrem Sohn Malcolm schwanger und mit ihren drei kleinen Kindern allein zu Hause, als berittene Ku-Klux-Klan-Männer zu ihrem Haus kamen und damit drohten, Reverend Little zu lynchen. Da sie ihn nicht vorfanden, zerschlugen sie alle Fenster. Die aus Omaha vertriebenen Littles ließen sich schließlich in Lansing, Michigan, nieder, doch auch dort suchten sie Klan-Leute heim, und ihr Haus wurde niedergebrannt. Reverend Little wurde 1931 von einer Straßenbahn überfahren; zahlreiche Indizien legen den Verdacht nahe, dass sein Tod kein Unfall war. Die Versicherungsgesellschaft verweigerte der Witwe nach Littles Tod die Auszahlung seiner Lebensversicherung. Louise und ihre Kinder lebten eine Zeit lang von Löwenzahn. Nach der Geburt ihres achten Kindes wurde Louise Little 1939 in eine psychiatrische Einrichtung des Kalamazoo State Hospital eingewiesen. Ihr Sohn Malcolm wurde zunächst bei einer Pflegefamilie und anschließend in einem Jugendheim untergebracht und wohnte später bei seiner Halbschwester. Eines Tages sollte er seinen Namen ändern und sich Malcolm X nennen.[48]
Während die Notzeiten manche gesellschaftlichen Spaltungen vergrößerten, verringerten sie andere. Menschen, denen es gut ging, konnten plötzlich, von einem Tag auf den anderen, in Armut geraten. Und es war unmöglich, von all dem nichts mitzubekommen. Die Arbeitslosigkeit zeigte eine Nebenwirkung: Die Menschen hatten mehr Zeit, Radio zu hören. Ein Drittel aller Kinos wurde geschlossen, aber allein in den Jahren von 1935 bis 1941 nahmen fast 300 neue Radiosender den Betrieb auf. Am Ende des Jahrzehnts wurden mehr als die Hälfte aller Radiogeräte weltweit in den Vereinigten Staaten genutzt. Und das geschah in einer Zeit, in der Radiobeiträge vor einem Publikum, das die ganze Nation umfasste, die Not der Armen behandelten, in Berichten wie auch mit einem Genre, das gerade erst aufkam, dem Hörspiel mit seinem neuen Arsenal von Toneffekten, das unmittelbar, geradezu körperlich wirkte.[49]
Ein großer Teil der Arbeit an der Chronik der Leiden jener Jahre wurde von Dramatikern, Fotografen, Historikern und Schriftstellern geleistet, die von der Regierung mit dem Instrument der Works Progress Administration (WPA) engagiert wurden. Mit ihrer Arbeit für das Federal Writers’ Project und das Federal Theatre Project, die auch dessen Radioabteilung einschloss, dokumentierten sie das Leben der einfachen Leute, der Landbevölkerung und vor allem der Armen, in Interviews und durch Fotografien, Filme, Gemälde und Radiosendungen. Kritiker bezeichneten diesen Auftraggeber als «Whistle, Piss, and Argue»-Abteilung, aber in einer Zeit, in der jede vierte im Verlagswesen tätige Person arbeitslos war, bot das Federal Writers’ Project der WPA mehr als 7000 Autorinnen und Autoren eine Beschäftigung, unter anderen Ralph Ellison, Zora Neale Hurston, John Cheever und Richard Wright.[50] Aber es war das Radio, das die Tondokumente des Leidens in die Häuser brachte, auch in die Wohnungen von Menschen, die nach wie vor über die Runden kamen, und auch zu der geringeren Zahl derjenigen, denen es gut ging. James Truslow Adams’ Buch The Epic of America (1931), in dem das Leben der in bescheidensten Verhältnissen lebenden Amerikaner im Mittelpunkt steht, wurde vom Federal Theatre of the Air dramatisiert. «Es besteht kein Mangel an ausgezeichneten einbändigen und im Erzählton vorgetragenen Darstellungen der Geschichte der Vereinigten Staaten, in denen die politischen, militärischen, diplomatischen, sozialen und wirtschaftlichen Erzählstränge geschickt miteinander verflochten worden sind», hatte Adams im Vorwort seines Buches geschrieben. The Epic of America war kein Buch dieser Art. Adams hatte vielmehr versucht, «für sich selbst und andere zu entdecken, wie der einfache Amerikaner, eine Kategorie, die auf die meisten von uns zutrifft, zu dem geworden ist, was heute seine Weltsicht, seinen Charakter und seine Meinungen ausmacht». Adams, der seinem Buch ursprünglich den Titel The American Dream hatte geben wollen – er prägte diesen Begriff –, feierte die Kämpfe der kleinen Leute in einer Sprache, die auch führende Persönlichkeiten späterer Generationen noch aufwühlen sollte, von Martin Luther King jr. bis zu Barack Obama.[51]
Ein ganz ähnlicher Geist erfüllte die Dokumentationsprojekte der WPA und anderer New-Deal-Programme, einschließlich der Fotografien von Dorothea Lange und Walker Evans, die im Namen der Farm Security Administration (FSA) auf den Weg gebracht wurden. Der Leiter des Fotografieprogramms der FSA verlangte von seinen Mitarbeitern die Lektüre von Charles Beards History of the United States – einer eloquenten und durchdringenden Sozialgeschichte, die für die Sache der Armen eintrat. Benjamin Botkin, der Folkloredirektor der WPA, wollte «die Straßen, die Viehhöfe und die Arbeitsvermittlungssysteme in Literatur» verwandeln. Aus mehr als 10.000 Interviews machte das Writers’ Project rund 800 Bücher, unter anderem A Treasury of American Folklore und einen Band mit dem Titel These Are Our Lives, der Ausschnitte aus mehr als 2000 Interviews mit Amerikanern enthielt, die einst als Sklaven gehalten worden waren.[52]
Die Depression schuf, ebenso wie der New Deal, ein neues Mitgefühl für die Armen, und sie brachte auch eine Generation von Politikern hervor, die dem Gedanken verpflichtet war, dass die Regierung die Not der Menschen lindern und regulierend in die Wirtschaft eingreifen kann. Der hoch aufgeschossene Texaner Lyndon Baines Johnson, ein ehemaliger Lehrer, wurde 1937 in den Kongress gewählt, wo er sich um finanzielle Unterstützung der Bundesregierung für seinen Wahlbezirk bemühte, um Gelder, die in Projekte wie die Errichtung von Staudämmen fließen sollten, um die Bewirtschaftung von Ackerland zu verbessern. LBJs Vater hatte seine Farm verloren, als der Sohn noch ein Junge war. Johnson war in bettelarmen Verhältnissen aufgewachsen. Die Energie des 1,90 Meter großen Burschen mit den langen Ohren schien jedoch keine Grenzen zu kennen, er reiste per Anhalter zu einer staatlichen Lehrerbildungsanstalt und unterrichtete nach seinem Abschluss dort an einer Grundschule in Cotulla, Texas, einem Städtchen 100 Kilometer nördlich der Grenze. Die Schüler waren Amerikaner mexikanischer Herkunft; es gab an dieser Schule keine Mittagspause, weil die Kinder nichts zu essen dabeihatten. Johnson organisierte ein Debattierteam und brachte dessen Mitgliedern bei, für ihre Ideen zu kämpfen. Als er für den Kongress kandidierte, ließ er Schilder herstellen, auf denen «Franklin D. und Lyndon B.» zu lesen stand. Wie schon sein Held vor ihm setzte LBJ stark auf das Radio, führte seinen Wahlkampf auch über Radiosender wie KNOW in Austin und KTSA in San Antonio und ging einmal sogar – in einem Akt inspirierter populistischer Wählerbeeinflussung – in einem Friseursalon auf Sendung.[53]
Johnsons Arbeitstage im Kongress waren üblicherweise 16 bis 18 Stunden lang. 1937 kämpfte er für den Bankhead-Jones-Act, mit dem kleinen Pachtbauern der Ankauf von Land erleichtert werden sollte. Er warb für weitere Verbesserungen und setzte sich dafür ein, dass die Elektrifizierung ländlicher Gegenden nicht in die Hände von Energieversorgungsunternehmen gelegt, sondern Farmergenossenschaften überlassen wurde. Später sagte er dann: «Wir bauten sechs Staudämme an unserem Fluss. Wir brachten die Überschwemmungen unter Kontrolle. Wir versorgten unsere Leute mit billigem Strom. … All das ergab sich aus der Machtbefugnis der Regierung, der größtmöglichen Zahl von Menschen den größten Nutzen zu bringen.»[54]
Wie groß war diese Zahl? Neue Methoden und neue Informationsquellen ermöglichten es, die Wirkung des New Deal zu beziffern, weil das Zeitalter der Quantifizierung dem Zeitalter der Statistik Platz machte. Ein italienischer Statistiker namens Corrado Gini, Lehrstuhlinhaber für Statistik an der Universität von Cagliari, entwickelte 1912 den später nach ihm benannten Gini-Koeffizienten, der wirtschaftliche Ungleichheit auf einer Skala von null bis eins einordnet.[55] Erhielte nur eine einzige Person das gesamte weltweit erzielte Einkommen, während alle anderen Erwerbstätigen nichts verdienen würden, hätte die Welt einen Gini-Koeffizienten von eins. Würden alle Menschen weltweit genau gleich viel verdienen, ergäbe das einen Gini-Koeffizienten von null. Je höher der Wert in diesem Bereich zwischen null und eins, desto größer also die Kluft zwischen den Reichen und den Armen. Legt man die ab 1913 dokumentierten Erträge der Einkommensteuer zugrunde, lässt sich der Gini-Koeffizient für die Vereinigten Staaten ermitteln. Nach den von Finanzminister Andrew Mellon gebilligten Steuersätzen verfügte 1928 das bestverdienende erste Prozent aller amerikanischen Familien über 24 Prozent des nationalen Gesamteinkommens. 1938 dann, nach den Reformen des New Deal, kam dieses erste Prozent der Einkommenspyramide nur noch auf 16 Prozent des Gesamteinkommens.[56] Genau diese Art von Umverteilung versetzte konservative Kreise in den Alarmzustand, und das in einer Zeit, in der die Amerikaner mit dem Faschismus liebäugelten. Die von Gini selbst befürwortete Art der Wirtschaftsplanung war mit undemokratisch regierten Staaten eng verbunden. Im Jahr 1925, vier Jahre nachdem er einen Aufsatz über die «Messung der Ungleichheit» geschrieben hatte, unterzeichnete Gini das «Manifest der faschistischen Intellektuellen». Seine wissenschaftliche Arbeit war mit dem faschistischen Staat so eng verbunden, dass er nach dem Sturz des Regimes als «Apologet des Faschismus» vor Gericht gestellt wurde.[57]
Auch die Amerikaner begannen die Jagd auf Apologeten des Faschismus und, ganz besonders, des Kommunismus und suchten nach umstürzlerischen Elementen im Land. Während der Depression hatten sich etwa 75.000 Menschen der Kommunistischen Partei angeschlossen. Im Mai 1938 berief Martin Dies jr., ein bulliger, 37 Jahre alter konservativer Demokrat aus Texas und ein ewiger Störfaktor für Lyndon Johnson, das «House Un-American Activities Committee» («Ausschuss für unamerikanische Umtriebe») ein, um gegen vermeintliche Kommunisten und kommunistische Organisationen zu ermitteln. Dorothy Thompson schimpfte über den Ausschuss und seine Mitglieder: «Kleine Männer – widerliche kleine Männer –, die herumlaufen und den Menschen Etiketten anheften. Der da ist ein ‹Roter›, und der da ist ein ‹Jude›. Seit wann sind die Amerikaner zu einer Rasse von Schnüfflern geworden?» Aber das Schnüffeln war schon eine ganze Zeit lang praktiziert worden. Ein großer Teil von Dies’ Arbeit war eine Fortführung der von J. Edgar Hoovers FBI geführten, von Schikanen und Einschüchterungen begleiteten Kampagne, mit der schon seit Jahren Hunderte von schwarzen Künstlern und Autoren überwacht, ihre Organisationen infiltriert und ganz besonders Persönlichkeiten der Harlem Renaissance belästigt worden waren. Richard Wright schrieb in «The FB Eye Blues»: «Everywhere I look, Lord/I see FB eyes … I’m getting sick and tired of gover’ment spies.»[58]
Bei Anhörungen im Kongress richtete Dies seinen Zorn gegen von der WPA beschäftigte Autoren und Künstler und versuchte zu beweisen, dass ihre Arbeiten – Stücke und Gedichte, Folkloresammlungen und dokumentarische Fotografien – versteckte kommunistische Botschaften enthielten. Zu einer berühmt gewordenen Anhörung bestellte Dies Hallie Flanagan ein, die Direktorin des Federal Theatre Projects. Flanagan, die aus South Dakota stammte, war eine versierte Theaterautorin und namhafte Professorin für Theaterwissenschaft in Vassar, wo sie das Experimental Theatre dieser Hochschule gegründet hatte. Als sie im Dezember 1938 der Vorladung von Dies’ Ausschuss folgte, fragte sie der Abgeordnete Joseph Starnes aus Alabama nach einem wissenschaftlichen Artikel, den sie geschrieben und in dem sie den Ausdruck «Marlowesque madness» verwendet hatte. (Das Theatre Project hatte Inszenierungen von Marlowes Tragical History of Dr. Faustus in New Orleans, Boston, Detroit, Atlanta und, unter der Regie von Orson Welles, in New York finanziert.)
«Sie zitieren da diesen Marlowe», sagte Starnes. «Ist er ein Kommunist?»
Zuhörer lachten schallend, aber Flanagan antwortete ungerührt.
«Ich zitierte Christopher Marlowe.»
«Sagen Sie uns, wer Marlowe ist», hakte Starnes nach.
«Nehmen Sie zu Protokoll», sagte Flanagan erschöpft, «dass er der größte Dramatiker der Shakespeare-Zeit war.»[59]
Flanagan war zu Recht besorgt. Das Federal Theatre Project hatte mehr als 800 Stücke auf die Bühne gebracht. Der von Dies geleitete Ausschuss erhob nur gegen eine Handvoll davon Einwände – unter anderem gegen Woman of Destiny, ein Stück, in dem eine Präsidentin im Mittelpunkt stand, und gegen Machine Age, das die Massenproduktion zum Thema hatte –, aber nur wenige Monate nach Flanagans Aussage vor dem Ausschuss wurde die Finanzierung des Federal Theatre Project und des Federal Writers’ Project eingestellt: Der Kongress hatte mit Dies eine Abmachung getroffen, die nicht viel besser ausgefallen war als Fausts Pakt mit dem Teufel.
FRANKLIN ROOSEVELTS PRÄSIDENTSCHAFT stand für den Beginn einer «New Deal Order», eines von Amerika angeführten, auf Bürgerrechten beruhenden Liberalismus, den Lyndon Johnson bis in die 1960er Jahre weiterführen sollte. Im 19. Jahrhundert bedeutete «Liberalismus» die Befürwortung des Laissez-faire-Kapitalismus. Die Bedeutung des Begriffs änderte sich während der Progressive Era, als die selbsternannten Progressives, die Anleihen beim Populismus machten, versuchten, den unregulierten Kapitalismus zu reformieren, indem sie die Werkzeuge des kollektiven Handelns und der – von Populisten übernommenen – Appelle an das Volk einsetzten; in den 1930er Jahren kamen all diese Ansätze als New-Deal-Liberalismus zusammen.[60]
Doch in diesem ganzen Zeitraum entwickelte sich auch eine neue Spielart des Konservatismus. Sie bestand nicht nur aus Geschäftsleuten, die gegen regulierende Eingriffe der Regierung in die Wirtschaft opponierten, sondern auch aus Amerikanern – vor allem auf dem Land lebenden Amerikanern –, die sich gegen jede Art von Einmischung der Regierung in ihre Lebensführung wandten. Diese beiden Ausprägungen des Konservatismus waren in den 1930er Jahren noch weitgehend voneinander getrennt, hatten sich aber bereits aufeinander zubewegt, vor allem in ihrer Feindseligkeit gegen den Paternalismus des Liberalismus.[61]
FDR war noch nicht lange im Amt, als Geschäftsleute, die ihn zuvor unterstützt hatten, sein Programm zu hinterfragen begannen. Die Gebrüder du Pont – Pierre, Irénée und Lammot – gehörten zu einer Familie, die ihr Vermögen mit Farben, Plastik und Kriegsmaterial erworben hatte. Merchants of Death, ein 1934 erschienener Bestseller, der Waffenproduzenten die Schuld am Ersten Weltkrieg gab, führte zu einer Untersuchung durch den Kongress, die vom republikanischen Senator Gerald P. Nye aus North Dakota geleitet wurde, der sich über Bedenken aus seiner Partei hinwegsetzte und Roosevelt unterstützte. In jener Zeit gab es Bedenken gegen Hersteller von Rüstungsgütern, die die Parteigrenzen überschritten, und beim inhaltlich verwandten Thema Schusswaffen verhielt es sich ebenso.
Die Amerikaner hatten seit jeher Waffen besessen, aber die Einzelstaaten hatten auch immer ihre Herstellung, ihren Besitz und ihre Aufbewahrung reguliert. Das verdeckte Tragen von Waffen verboten per Gesetz die Bundesstaaten Kentucky und Louisiana (1813), Indiana (1820), Tennessee und Virginia (1838), Alabama (1839) und Ohio (1859). Texas, Florida und Oklahoma verabschiedeten ähnlich lautende Gesetze. Die «Aufgabe der verborgenen tödlichen Waffe ist der Mord», sagte ein Gouverneur von Texas. «Dem Einhalt zu gebieten ist die Pflicht eines jeden von Selbstachtung und Gesetzestreue geleiteten Menschen.» In den Städten und auf dem Land galten unterschiedliche Bestimmungen. In den größeren und kleineren Städten des Westens sammelten Sheriffs routinemäßig die Schusswaffen von Besuchern ein, eine Art Gepäckkontrolle. Ein Schild in Wichita, Kansas, forderte 1873 auf: «Hinterlegen Sie Ihre Revolver beim Polizeipräsidium, gegen Aufbewahrungsschein.» An der nach Dodge hineinführenden Straße war auf einer Anschlagtafel zu lesen: «Das Tragen von Schusswaffen ist streng verboten.» Zur Schießerei am O. K. Corral in Tombstone, Arizona, kam es, als Wyatt Earp einen Mann zur Rede stellte, der gegen eine 1879 erlassene Verordnung der Stadt verstieß, nach der Schusswaffen im Büro des Sheriffs abzugeben waren.[62]
Die National Rifle Association (NRA) war 1871 von einem ehemaligen Reporter der New York Times als Sport- und Jagdvereinigung gegründet worden; den größten Teil ihrer Aktivitäten machte das Sponsoring von Schießsportwettbewerben aus. Die NRA opponierte nicht gegen die Regulierung des Umgangs mit Schusswaffen, sie unterstützte sie sogar, und das auch finanziell. In den 1920er und 1930er Jahren – der Ära von Nyes Munitions Committee – befürwortete die NRA die Gesetzgebung zur Kontrolle des Umgangs mit Schusswaffen und warb in diesem Zeitraum für neue Gesetze in den Bundesstaaten. Besorgnisse wegen der Kriminalität in den Städten führten in den 1930er Jahren zu einem Bundesgesetz. Eine Regulierung des Umgangs mit Schusswaffen im Interesse der öffentlichen Sicherheit war unumstritten. Die NRA unterstützte sowohl den einheitlichen National Firearms Act von 1934 – das erste von der Bundesregierung erlassene Waffengesetz – als auch den Federal Firearms Act von 1938, Gesetze, die zusammengenommen den privaten Besitz von automatischen Waffen mit abschreckend hohen Steuern belegten, für den Verkauf von Handfeuerwaffen eine Lizenz verlangten, Wartezeiten für die Käufer solcher Waffen einführten, das Tragen einer nicht sichtbaren Waffe nur mit einer Genehmigung erlaubten und ein Lizenzierungssystem für Waffenhändler schufen. Der Supreme Court bestätigte diese Maßnahmen 1939 mit dem Urteil im Verfahren U. S. v. Miller durch eine einstimmige Entscheidung, nachdem Robert H. Jackson, Roosevelts Solicitor General, vorgebracht hatte, der 2. Zusatzartikel sei «beschränkt auf den kollektiven Besitz und das Tragen von Waffen durch das Volk für dessen gemeinsame Verteidigung und Sicherheit». Der Text des Zusatzartikels, sagte Jackson, mache deutlich, dass das Recht «keines ist, das für private Zwecke genutzt werden darf, sondern nur eines, das besteht, wo Waffen bei der Miliz oder in irgendeiner anderen militärischen Organisation getragen werden, die durch ein Gesetz geschaffen wurde und dem Schutz des Staates dienen soll».[63]
Die Waffengesetze von 1934 und 1938 wurden von beiden großen Parteien unterstützt, aber die Regulierung der Herstellung von Rüstungsgütern fand größere Fürsprache durch Konservative, die Isolationisten waren. Nye, der gegen die «Händler des Todes» wetterte, leitete über einen Zeitraum von zwei Jahren hinweg die rigoroseste Untersuchung zur Waffenindustrie, die irgendein Ableger der Bundesregierung jemals geführt hat. Er setzte 93 Hearings an. Er war der Ansicht, die Möglichkeit, Waffen herzustellen, sollte allein der Regierung vorbehalten bleiben. «Die Entfernung des Profitelements aus dem Krieg würde die Gefahr weiterer Kriege materiell beseitigen», sagte er. Aus der Sicht der du Ponts aber war die Aussicht, die Herstellung von Waffen an die Regierung abtreten zu müssen, das schlimmstmögliche Beispiel für eine Ersetzung der Laissez-faire-Ökonomie durch eine Planwirtschaft. Die du Ponts waren auch besorgt wegen der zunehmenden Stärke der Gewerkschaften, der Zahl der Streiks und der Gründung der Securities Exchange Commission. Irénée du Pont schrieb: «Jetzt muss jedem denkenden Menschen klargeworden sein, dass der von der Regierung befürwortete sogenannte ‹New Deal› nicht mehr und nicht weniger ist als die mit einer neuen Bezeichnung versehene sozialistische Doktrin.»[64]
Die du Ponts suchten, um diesen Standpunkt der amerikanischen Öffentlichkeit zu vermitteln, die Unterstützung des Spitzenverbands der Industrie National Association of Manufacturers. Dessen Präsident erklärte: «Die Öffentlichkeit versteht die Industrie nicht, was weitgehend daran liegt, dass die Industrie sich nicht ernsthaft bemüht hat, ihre Geschichte zu erzählen und den Menschen dieses Landes zu zeigen, dass unser hoher Lebensstandard sich fast ausschließlich aus der Kultur ergeben hat, die durch die industrielle Tätigkeit geschaffen worden ist.» Der Verband engagierte für diese Aufgabe einen Publizisten namens Walter W. Weisenberger und ernannte ihn zum geschäftsführenden Vizepräsidenten. Weisenberger bediente sich bei seiner Tätigkeit, die sich gegen die Agitation der Arbeiterbewegung und gegen regulierende Eingriffe der Regierung wandte, des Radios und bezahlter Anzeigen, um zu verbreiten, dass Frieden und Wohlstand am besten durch eine führende Rolle von Unternehmern und einen freien Markt gesichert würden. Ein Kampagnenmotto lautete: «Wohlstand ist zu Hause, wo Harmonie herrscht.»[65] Der Verband betonte, seine Tätigkeit diene Bildungszwecken, aber eine Untersuchung des Kongresses, die von dem Progressiven Robert M. La Follette aus Wisconsin geleitet wurde, kam zu anderen Schlüssen. Der La-Follette-Ausschuss berichtete, führende Vertreter der Wirtschaft «fragten nicht, wie es um die Schwächen und Missstände in der Wirtschaftsordnung bestellt gewesen sei und wie diese korrigiert werden könnten, sondern gaben stattdessen Millionen aus, um der Öffentlichkeit zu erzählen, dass alles in Ordnung sei und in den vorgeschlagenen Abhilfen große Gefahren lauerten».[66]
Andere Unternehmenschefs verfolgten ähnliche Ziele. Die du Ponts versammelten im Juli 1934 eine Gruppe von Kollegen in den Büroräumen von General Motors in New York, wo man gemeinsam einen «Eigentümerverband» gründete, um den New Deal zu bekämpfen; im August wurde dieser Verband unter dem Namen American Liberty League registriert. In Flugblättern und Vorträgen vertrat die League die Ansicht, die Stimme der Wirtschaft werde durch den «gewaltigen Irrsinn» des New Deal erstickt. Die League-Vertreter wandten sich besonders gegen die Sozialversicherung und bezeichneten sie als «Wegnahme von Eigentum ohne Rechtsgrundlage». Der größte Teil der Geldmittel der Organisation kam von nur 30 sehr reichen Männern, die Demokraten nannten sie die «Millionärsunion».[67] Und es gab auch noch andere Namen. Bei der US-Präsidentschaftswahl 1936 unterstützte die Liberty League Alf M. Landon, den Kandidaten der Republikaner, einen Ölmanager und Gouverneur von Kansas, durch die Arbeit einer Organisation, die sich Farmers’ Independence Council nannte. Aber der Farmers’ Independence Council hatte die gleiche Postadresse wie die Liberty Legaue und eine Mitgliedschaft, die keineswegs aus Farmern bestand, sondern aus Fleischfabrikanten in Chicago. Der größte Teil des Budgets der Organisation kam von Lammot du Pont, der seine Lobbyarbeit als «Farmer» mit dem Hinweis rechtfertigte, der Besitz eines 1600-Hektar-Anwesens mache ihn zu einem solchen.[68]
In den Vereinigten Staaten koexistierten in den 1930er Jahren viele Spielarten des Konservatismus, denen keine gemeinsame Ideologie zugrundelag. Geschäftsleute, die gegen den New Deal eingestellt waren, hatten meist nur wenig gemeinsam mit konservativen Intellektuellen wie Albert Jay Nock, dem Herausgeber einer Zeitschrift namens The Freeman und Autor des Buches Our Enemy, the State (1935). Auch Nock beklagte sich über einen zentralisierten Staat, aber seine Hauptsorge galt dem Aufstieg der Massendemokratie und Massenkultur als Vorboten des Niedergangs der westlichen Zivilisation, wobei er glaubte, ein radikaler Egalitarismus habe eine Welt der Mittelmäßigkeit und Langeweile hervorgebracht. Konservative amerikanische Intellektuelle waren gegen den Sozialismus; sie waren Isolationisten; viele von ihnen neigten zum Antisemitismus. Nock schrieb 1941 einen Essay für Atlantic Monthly unter dem Titel «The Jewish Problem in America».[69]
Die konservative Bewegung sollte erst nach dem Krieg Basis und Richtung finden. Der Linkstrend in der amerikanischen Politik wurde unterdessen von den neuen Geschäftszweigen des politischen Consulting und der Meinungsforschung in Schach gehalten, den beiden wichtigsten Kräften in der amerikanischen Demokratie seit dem Aufstieg des Parteiensystems.
CAMPAIGNS, INC., das erste politische Beratungsunternehmen der Weltgeschichte, wurde von Clem Whitaker und Leone Baxter 1933 in Kalifornien gegründet. Kritiker bezeichneten das Unternehmen als «Lie Factory», «Lügenfabrik».
Das politische Consulting stand anfangs mit einem Bein in der Werbung, mit dem anderen im Journalismus. Politikberatung wird oft für ein Produkt der Werbeindustrie gehalten, aber das Gegenteil davon kommt der Wahrheit näher. Als die moderne Werbung in den 1920er Jahren ihren Anfang nahm, waren die großen Kunden dieser neuen Branche an der Förderung eines politischen Programms genauso – wenn nicht noch stärker – interessiert wie an der Verstärkung einer geschäftlichen Botschaft. Investigative Journalisten, die Muckraker, und Untersuchungsausschüsse des Kongresses ließen Standard Oil gierig und Du Pont, wegen der Rüstungsproduktion, finster und unheilvoll aussehen. Große Unternehmen engagierten Werbefirmen, um in der Öffentlichkeit ein besseres Bild abzugeben und eine wirtschaftsfreundliche Gesetzgebung zu fördern.[70]
Die Ursprünge des politischen Consultings im Journalismus liegen in der Nähe von William Randolph Hearst. Der 34-jährige Whitaker hatte seine Laufbahn einst als Zeitungsmann oder, in Wirklichkeit, als Zeitungsjunge begonnen; bereits im Alter von 13 Jahren arbeitete er als Reporter. Mit 19 war er Stadtredakteur bei der Sacramento Union, zwei Jahre später dann politischer Autor für den San Francisco Examiner, eine Hearst-Zeitung. In den 1930er Jahren bezog jeder vierte Amerikaner seine Nachrichten über Hearst, dem 28 Zeitungen in 19 Städten gehörten. Hearsts Zeitungen waren alle gleich: draufgängerisch, mit großen Überschriften. Gleich die erste Seite sollte einem Leser ein «Gee whiz!» («Donnerwetter!») entlocken. Die zweite Seite: «Holy Moses!» («Heiliger Strohsack!»). Die dritte Seite: «God Almighty!» («Allmächtiger Gott!»). Hearst benutzte seine Zeitungen zur Unterstützung seiner politischen Ziele. 1934 wies er seine Chefredakteure an, Reporter, die sich als Studenten ausgeben sollten, mit dem Auftrag an Colleges zu schicken, linke Hochschullehrer ausfindig zu machen. Menschen, die Hearst selbst für Kommunisten hielt, dachten nicht selten, Hearst sei ein Faschist; schließlich hatte er seine Bewunderung für Hitler und Mussolini öffentlich bekannt. Hearst war diese Einordnung gleichgültig; er brachte seine Kritiker zum Schweigen, indem er sie unablässig und heftig attackierte. Einige der Angegriffenen wehrten sich. «Nur Feiglinge pflegen einen engen Umgang mit Hearst», sagte Charles Beard. Im Februar 1935 sprach Beard in Atlantic City vor einem Publikum von 1000 Lehrerinnen und Lehrern und sagte bei diesem Auftritt über Hearst: «Kein Mensch von intellektueller Ehrlichkeit oder moralischer Integrität wird ihn auch nur mit einer drei Meter langen Stange berühren.» Das Publikum zollte Beard nach diesen Worten stehenden Beifall.[71]
Hearst wirkt in der amerikanischen Kultur in Citizen Kane fort, einem Film von Orson Welles, der 1941 in die Kinos kam. Der Film hatte eine so frappierende Ähnlichkeit mit Imperial Hearst, einer 1936 – mit einem Vorwort von Beard – erschienenen Hearst-Biografie, dass der Biograf die Macher des Films verklagte. «Ich hatte das Buch Imperial Hearst noch nie gesehen oder auch nur von ihm gehört», beteuerte Welles in seiner Aussage zu einem Fall, der schließlich außergerichtlich beigelegt wurde. Welles erklärte, sein Citizen Kane sei keine konkrete Person; er sei ein Typus: ein amerikanischer «Sultan» oder Nabob. (Der ursprüngliche Titel des Films lautete American.) Wenn Kane wie Hearst ein Zeitungszar sei, der sich der Politik zugewandt habe, sei es so gekommen, weil, so Welles, «solche Männer wie Kane immer zum Zeitungs- und Unterhaltungsgeschäft neigen», obwohl sie das von ihnen ersehnte Publikum hassen und dabei «ein krankhaftes Beschäftigtsein mit der Öffentlichkeit mit einer verheerenden Einschätzung der Mentalität und moralischen Eigenschaften der Öffentlichkeit» verbinden. Welles sagte, ein Mann wie Kane glaube, dass «Politik als Kommunikationsmittel und in der Tat die Nation selbst nur zu seinem persönlichen Vergnügen da sind».[72] Hearst sollte nicht der letzte amerikanische Sultan sein.
Clem Whitaker, der bei einer Hearst-Zeitung ausgebildet worden war, verließ den San Francisco Examiner, um eine Nachrichtenagentur für Zeitungen zu gründen, das Capitol News Bureau, das Geschichten an über 80 Zeitungen verkaufte. Sheridan Downey, ein aus Wyoming stammender progressiver Rechtsanwalt in Kalifornien, engagierte Whitaker 1933, weil dieser ihm helfen sollte, ein vom Versorgungsunternehmen Pacific Gas and Electric gesponsertes Referendum abzuschmettern. Downey verpflichtete außerdem noch Leone Baxter, eine 26 Jahre alte Witwe, die für den Portland Oregonian geschrieben hatte, und schlug ihr vor, sich mit Whitaker zusammenzutun. Als Whitaker und Baxter dafür sorgten, dass das Referendum scheiterte, war Pacific Gas and Electric so beeindruckt, dass das Unternehmen die beiden mit einem Honorarvorschuss engagierte. Whitaker und Baxter, die später heirateten, gründeten unter dem Namen Campaigns, Inc., ein eigenes Unternehmen.[73]
Campaigns, Inc., spezialisierte sich auf das Führen politischer Kampagnen für Unternehmen, insbesondere für Monopole wie Standard Oil und Pacific Telephone and Telegraph. Die Arbeit für den Linken Downey war nur eine Verirrung gewesen. Ein Freund sagte über die beiden, sie würden gerne «auf der rechten Straßenseite arbeiten». Upton Sinclair, ein exzentrischer und schwindelerregend produktiver Schriftsteller, dessen bis heute bekanntestes Buch der Enthüllungsroman The Jungle (1906) ist, eine Anklage gegen die Fleischindustrie, beschloss 1933 – ermutigt durch Roosevelts Einzug ins Weiße Haus –, für das Amt des Gouverneurs von Kalifornien zu kandidieren. Sinclair, seit langem Sozialist, ließ sich als Demokrat registrieren, weil er eine Nominierung als Kandidat der Demokratischen Partei anstrebte, mit einem Wahlprogramm unter der Abkürzung EPIC: End Poverty in California. Nach seiner überraschenden Nominierung entschied er sich für Downey als Mitkandidaten. (Ihr Ticket wurde «Uppie and Downey» genannt.) Sinclair sah die amerikanische Geschichte als Schlacht zwischen der Wirtschaft und der Demokratie, und er schrieb: «Das Big Business hat bis jetzt noch jedes Gefecht gewonnen.»[74]
Whitaker und Baxter waren, wie die meisten Republikaner in Kalifornien, entsetzt über die Aussicht auf einen Gouverneur Sinclair.[75] Zwei Monate vor der Wahl begannen sie mit ihrer Arbeit für George Hatfield, einen Kandidaten für das Amt des Vizegouverneurs auf dem republikanischen Ticket, das vom Amtsinhaber, Gouverneur Frank Merriam, angeführt wurde. Die beiden schlossen sich drei Tage lang mit allem, was Sinclair bisher veröffentlicht hatte, ein. «Upton wurde besiegt, weil er Bücher geschrieben hatte», sagte Whitaker später.[76] Die Los Angeles Times begann mit der täglichen Veröffentlichung eines Textkastens auf der ersten Seite, der jeweils ein Zitat von Upton Sinclair enthielt, eine Praxis, die das Blatt sechs Wochen lang fortsetzte, bis zum Wahltag. Ein Beispiel:
SINCLAIR ÜBER DIE EHE:
DIE HEILIGKEIT DER EHE …. ICH HATTE EINEN
SO STARKEN GLAUBEN …
ICH HABE IHN NICHT MEHR.[77]
Die Passage war, wie Sinclair in seinem Buch I, Candidate for Governor: And How I Got Licked (Und wie ich in die Pfanne gehauen wurde) erklärte, seinem Roman Love’s Pilgrimage entnommen, in dem eine fiktive Romanfigur einem Mann, der eine Affäre mit seiner Frau hat, einen Brief schreibt.[78] «Als ich Tag für Tag diesen Kasten las, wurde mir klar, dass die Wahlschlacht verloren war», schrieb Sinclair.[79]
Die Gründung der Nation erfolgte unter Berufung auf selbstverständliche Wahrheiten. Aber die Wählerschaft wurde jetzt, wie Sinclair behauptete, von einer Lügenfabrik gelenkt. «Man sagte mir, dass ein Dutzend Männer in den Bibliotheken damit beschäftigt war, jede Zeile durchzulesen, die ich je geschrieben hatte», hielt er fest. Sie fanden Zeilen, die er geschrieben hatte, Reden fiktiver Personen in Romanen, und setzten sie in die Zeitung, als hätte Sinclair selbst es gesagt. «Ganz besonders glücklich waren sie über The Profits of Religion», sagte Sinclair und bezog sich dabei auf seine 1917 erschienene Polemik zum Thema institutionalisierte Religion. «Ich bekam viele Briefe von aufgebrachten alten Damen und Herren zum Thema meiner Gotteslästerung. ‹Glauben Sie an Gott?›, stand in einem davon.» Sinclair konnte nur sehr wenig gegen diese Vorgehensweise tun. «Man ließ so einen Stab politischer Chemiker Gifte bereiten, die an einhundert Morgen nacheinander in die Atmosphäre von Kalifornien gelassen wurden.»[80]
«Natürlich waren diese Zitate irrelevant», sagte Baxter später. «Aber wir hatten ein Ziel: zu verhindern, dass er Gouverneur wird.» Die beiden hatten Erfolg. Das Wahlergebnis lautete: Merriam 1.138.000 Stimmen; Sinclair 879.000 Stimmen.[81] Keine andere Entwicklung veränderte die Funktionsweise der amerikanischen Demokratie so gründlich wie die von Whitaker und Baxter begründete Branche. «Jeder Wähler ein Konsument, jeder Konsument ein Wähler», wurde ihr Mantra.[82] Den größten Erfolg hatten sie, wenn ihr Wirken am wenigsten auffiel. Progressive Reformer entmachteten die Parteiapparate. Aber die New Dealers bemerkten es kaum, dass Politikberater die Parteibosse in der Rolle der Figuren ablösten, deren Macht nicht auf Wählerstimmen, sondern auf Geld zurückging.
Whitaker und Baxter gewannen fast jeden Wahlkampf, den sie führten.[83] Die Wahlkämpfe, die sie übernahmen, und der Stil, für den sie sich dabei entschieden, prägten die Geschichte Kaliforniens und des ganzen Landes. Sie dachten sich die Regeln aus, nach denen Wahlkämpfe noch Jahrzehnte später geführt werden sollten. Wenn sie einen Wahlkampf übernahmen, begaben sie sich als Erstes in einen einwöchigen «Winterschlaf», um einen Wahlkampfplan zu entwickeln. Und dann schrieben sie einen Plan der Gegenseite, um die Schritte vorwegzunehmen, die sich gegen sie richten würden. Jeder Wahlkampf braucht ein Thema.[84] Wähle einfache Worte. Reime sind gut («For Jimmy and me, vote ‹yes› on 3»). Erkläre niemals irgendetwas. «Je mehr man erklären muss, desto schwieriger wird es, Unterstützung zu gewinnen.» Sag immer das Gleiche, immer und immer wieder. «Wir gehen davon aus, dass wir die Aufmerksamkeit eines Wählers sieben Mal bekommen müssen, um etwas zu verkaufen», sagte Whitaker. Subtilität ist ein Feind. «Worte, die sich nur an das Denken anlehnen, sind nutzlos», meinte Baxter. «Sie müssen Wirkung zeigen.» Vereinfachen, vereinfachen, vereinfachen. «Wenn man versucht, Herrn und Frau Durchschnittsbürger zum Arbeiten oder Denken zu bewegen, baut sich eine Mauer auf», warnte Whitaker.[85]
Setzen Sie auf die Person, rieten Whitaker und Baxter immer, Kandidaten sind leichter zu verkaufen als Themen. Wenn es keine Opposition gegen Ihre Position gibt oder Ihr Kandidat keinen Gegner hat: Denken Sie sich etwas oder jemanden aus. Als sie einmal gegen den Versuch kämpften, den Bürgermeister von San Francisco abzusetzen, führten Whitaker und Baxter eine Kampagne gegen den «Faceless Man», den «Mann ohne Gesicht» – die Idee kam von Baxter –, der dem Amtsinhaber nachfolgen könnte. Baxter zeichnete auf einem Tischtuch das Bild eines dicken Mannes, dessen Gesicht verborgen bleibt, nur die Zigarrenspitze schaut unter dem Hutrand hervor. Dann ließen die beiden dieses Bild in der ganzen Stadt plakatieren, verbunden mit der Frage: «Who’s Behind the Recall?» («Wer steckt hinter der Absetzung?»). Geben Sie sich als Stimme des Volkes aus. Whitaker und Baxter buchten Radiowerbespots, die vom «Citizens Committee Against the Recall» bezahlt wurden und in denen eine unheilvolle Stimme sagte: «Das wahre Problem ist, ob das Rathaus mit allem Drum und Dran an eine unheilige Allianz übergeben werden soll, hinter der sich ein Mann ohne Gesicht verbirgt.» (Die Absetzung wurde abgeschmettert.) Angreifen, angreifen, angreifen. Whitaker sagte: «Man kann mit einem defensiv geführten Wahlkampf nicht gewinnen!» Man unterschätze niemals die Gegenseite.[86]
Schrecken Sie niemals vor einer Auseinandersetzung zurück, rieten die beiden; gewinnen Sie lieber diese Auseinandersetzung. Whitaker schrieb: «Der Durchschnittsamerikaner will nicht unterrichtet werden; er will sein Wissen nicht erweitern; er will nicht einmal bewusst daran arbeiten, ein guter Bürger zu sein. Aber es gibt zwei Möglichkeiten, ihn für einen Wahlkampf zu interessieren, und nur zwei, die wir jemals für erfolgreich befanden.» Man kann den Kampf suchen («er mag einen heißen Kampf mit vollem Einsatz») oder man kann eine Show abziehen («er mag das Kino, er mag Geheimnisse; er mag Feuerwerke und Paraden»): «Wenn Sie also nicht kämpfen können, dann ZIEHEN SIE EINE SHOW AB! Und wenn Sie eine gute Show bieten, werden Mr. und Mrs. America kommen, um sie sich anzusehen.»[87]
Whitaker und Baxter gingen das Problem der Massendemokratie – effektiver als jeder Politiker – mit einer eleganten Lösung an: Sie machten die Politik zu einem Geschäft. Aber ihr eigener Erfolg hing teilweise vom Aufstieg eines anderen politischen Geschäftszweigs ab: von den Meinungsumfragen.
DAS DEMOSKOPISCHE GEWERBE AMERIKAS begann als Antwort der Demokratie auf faschistische Propaganda. Joseph Goebbels hatte bis zum Jahresende 1933 in seinem Propagandaministerium eine Rundfunkabteilung aufgebaut und die Produktion eines billigen Radioapparats auf den Weg gebracht, des «Volksempfängers». Damit wollte er sicherstellen, dass die Regierung jeden Haushalt im Land mit einer sozialen Technik erreichen konnte, die er gerne als «den Hörer bombardieren» und «Durchtränkung des Volkes mit den geistigen Inhalten unserer Zeit» bezeichnete.[88]
Faschisten sagten den Menschen, was sie glauben sollten; Demokraten fragten nach. Aber die wissenschaftliche Ermittlung der öffentlichen Meinung würde sich bald auf die Fähigkeit stützen, das Ergebnis landesweiter Wahlen präzise vorauszusagen. Die Branche sollte sich von Anfang an ein Paradox zu eigen machen. Das Ergebnis einer Wahl öffentlich und verlässlich vorherzusagen wirkte wie ein Untergraben der Demokratie, nicht wie deren Förderung. Meinungsumfragen fanden dennoch statt, dem Paradox zum Trotz.
Tageszeitungen hatten schon seit Jahrzehnten Vorhersagen für lokale Wahlen abgegeben, aber für Vorhersagen landesweiter Wahlen bedurfte es eines Netzwerks von Tageszeitungen. Im Jahr 1904 wagten sich der New York Herald, der Cincinnati Enquirer, der Chicago Record-Herald und die St. Louis Republic mit vereinten Kräften an eine Wahlvorhersage und zählten die Ergebnisse ihrer Probeabstimmungen zusammen. Der Herald organisierte 1916 eine Gruppe von Zeitungen in 36 Bundesstaaten. In jenem Jahr begann der Literary Digest, eine landesweit verbreitete Zeitschrift, mit dem Versand von Stimmzetteln als Werbegag. Der Digest benutzte seine Abstimmung als Mittel zur Abonnentenwerbung; die Absicht war, mehr Stimmzettel einzusammeln als alle anderen Blätter. Der Digest verschickte 1920 elf Millionen Stimmzettel, vier Jahre später waren es bereits mehr als 16 Millionen.[89] Die einzige ernsthafte Konkurrenz des Blattes in Sachen Reichweite war die Zeitungsgruppe von William Randolph Hearst, die über Umfrageergebnisse in 43 Bundesstaaten berichten konnte. Der Literary Digest lag zwar bei der Vorhersage der Verteilung der Wählerstimmen manchmal falsch, sagte aber die Mehrheiten im Wahlmännergremium immer richtig voraus. Im Jahr 1924 war die Digest-Vorhersage für alle Bundesstaaten bis auf zwei Ausnahmen korrekt, 1928 gab es vier Ausnahmen.
Ein Zeitungsmann namens Emil Hurja fand heraus, dass diese Methode dennoch zum Scheitern verurteilt war, weil es, wie er erkannte, nicht auf den Umfang einer Probeabstimmung ankam, sondern auf ihre qualifizierte Bandbreite. Hurja versuchte das Democratic National Committee davon zu überzeugen, die eigenen Probeabstimmungen nach der Stichprobenmethode vorzunehmen. «Im Bergbau entnimmt man der Oberfläche der Erzschicht verschiedene Proben, pulverisiert sie und bestimmt dann den zu erwartenden Durchschnittsertrag pro Tonne», erklärte Hurja. «In der Politik zieht man Teile der Wählerschaft heran, vergleicht neue Trends mit früheren Ergebnissen, ermittelt die Prozentverschiebung innerhalb verschiedener Wählerschichten, ergänzt diese Informationen durch kompetente Beobachter in diesem Bereich und kann so ein Wahlergebnis exakt vorhersagen.» Das DNC tat Hurja 1928 noch als Spinner ab, aber 1932 leitete er Roosevelts Wahlkampf.[90] Die Postvertriebsliste des Literary Digest war bis 1932 auf mehr als 20 Millionen Adressen angewachsen. Die meisten dieser Namen waren Telefonbüchern und Zulassungslisten für Automobile entnommen worden. Hurja war einer der wenigen Experten, die erkannten, dass der Digest den Rückhalt FDRs in der Wählerschaft beharrlich unterschätzt hatte, weil seine Stichprobe – wiewohl sehr groß – nicht besonders repräsentativ war: Bei Menschen, die FDR unterstützten, war die Wahrscheinlichkeit, dass sie ein Telefon oder ein Auto besaßen, sehr viel geringer als bei der übrigen Bevölkerung.[91]
Hurja bediente sich hier der Erkenntnisse der Sozialwissenschaften. Aber die wahre Innovation bei der Ermittlung der öffentlichen Meinung war eine von Sozialwissenschaftlern in den 1920er Jahren entwickelte Methode, nämlich der Einsatz der Statistik zur Einschätzung der Ansichten einer riesigen Bevölkerung durch die Analyse einer statistisch repräsentativen Stichprobe.
Die politische Meinungsforschung ist die Hochzeit von Journalismus und Sozialwissenschaft, eine Hochzeit, die von George Gallup herbeigeführt wurde. «Als ich ans College ging, wollte ich Journalismus studieren und danach als Zeitungsredakteur arbeiten» erinnerte sich Gallup an seine Studienzeit an der University of Iowa in den 1920er Jahren, aber «zu meiner Zeit konnte ich noch keinen akademischen Grad in Journalismus erwerben, also entschied ich mich für die Psychologie». Gallup machte 1923 sein Examen, schrieb sich anschließend für ein weiterführendes Studium in einem neuen Fachgebiet ein, Angewandte Psychologie, in dem alle über Walter Lippmanns 1922 erschienenes Buch Public Opinion sprachen, und entwickelte ein Interesse für die Frage, wie sich die öffentliche Meinung messen ließ. Seine erste Idee war, mit der Stichprobenanalyse zu untersuchen, wie die Menschen Nachrichten lasen. In seiner 1928 veröffentlichten Dissertation mit dem Titel «An Objective Method for Determining Reader Interest in the Content of a Newspaper» erklärte er, dass «die Presse einst als wichtigste Institution für die Unterrichtung und Information der Masse der Bevölkerung diente», aber das Wachstum des öffentlichen Schulwesens habe dazu geführt, dass die Zeitungen diese Aufgabe nicht mehr erfüllten und stattdessen «ein größeres Bedürfnis an Unterhaltung» bedienen sollten. Deshalb habe er eine Messmethode für die Bestimmung des «Leserinteresses» entwickelt, eine Möglichkeit, festzustellen, welche Teile ihres Blattes die Leserschaft als unterhaltsam empfand. Er bezeichnete sie als die «Iowa-Methode»: «Sie besteht in erster Linie daraus, eine Zeitung mit einem ihrer Leser durchzugehen, Spalte für Spalte.» Der Interviewer markierte anschließend die Zeitung, um hervorzuheben, welche Teile dem Leser gefallen hatten. «Die Iowa-Methode gibt dem Chefredakteur einer Zeitung ein wissenschaftliches Mittel an die Hand, mit dem er sein Blatt auf seine Lesergemeinde zuschneiden kann», schrieb Gallup. Er könne dann einen Fachmann für Messmethoden mit einer Studie beauftragen, die herausfinden solle, welche Beiträge und Autoren seinen Lesern am besten gefielen, und dann die langweiligen Teile künftig weglassen.[92]
Gallup lehrte 1932 als Professor für Journalismus an der Northwestern University, als seine Schwiegermutter Ola Babcock Miller für das Amt des Vizegouverneurs von Iowa kandidierte. Ihr Ehemann war während seiner Amtszeit verstorben; ihre Nominierung erfolgte in erster Linie ehrenhalber, und niemand rechnete damit, dass sie gewinnen werde. Gallup beschloss, seine Ideen zur Ermittlung von Leserinteresse auf eine Einschätzung ihrer Chancen anzuwenden. Danach zog er nach New York um, wo er, neben einer Lehrtätigkeit an der Columbia University, im Auftrag einer Werbeagentur eine Methode zur Messung der Größe eines Radiopublikums perfektionierte. In den Jahren 1933 und 1934 versuchte er anhand einiger Experimente festzustellen, wie sich Wahlergebnisse zugunsten von Zeitungen und Zeitschriften besser vorhersagen ließen, und gründete eine Firma, der er den Namen Editors’ Research Bureau gab. Gallup bezeichnete die quantitative Messung der öffentlichen Meinung gerne als «neues Arbeitsgebiet des Journalismus». Aber er kam zu dem Schluss, dass seine Arbeit eine wissenschaftliche Grundlage benötigte. 1935 benannte er das Editors’ Research Bureau in American Institute of Public Opinion um und ließ sich in Princeton, New Jersey, nieder, was den akademischen Beiklang verstärkte.[93]
Gallups Methode bestand darin, die öffentliche Meinung zu erforschen, indem er einer sorgfältig ausgewählten Stichprobe der Bevölkerung, die für die Gesamtheit stehen sollte, Fragen stellte. Er sagte, er messe den «Puls der Demokratie». (Ein skeptischer E. B. White schrieb dazu: «Man kann einer Nation durchaus den Puls fühlen, kann dabei aber nicht sicher sein, ob die Nation nicht eben erst eine Treppe hinaufgerannt ist.») Die Washington Post ließ 1935, als Ankündigung einer neuen, wöchentlich erscheinenden Gallup-Kolumne, ein Kleinluftschiff über der Hauptstadt der Nation aufsteigen, das mit dem Spruchband warb «America Speaks!»[94]
Gallups Absicht war, einer demokratischen Regierung mit der Messung der öffentlichen Meinung ein Werkzeug an die Hand zu geben, ein Werkzeug, gedacht für das genaue Gegenteil dessen, was die Politikberatung damit tat. Die Politikberatung ist das Geschäft, die Ansichten der Massen zu lenken. Meinungsforschung ist das Geschäft, die Ansichten der Massen herauszufinden. Politikberater sagen den Wählern, was sie denken sollen; Meinungsforscher fragen sie, was sie denken. Aber keine dieser Branchen hält sehr viel von dem Gedanken, dass Wähler unabhängige Entscheidungen treffen sollten oder dass sie dies können.
Neue Branchen, neue Technologien und die Art der Kriegführung steigerten seit langem bestehende Besorgnisse hinsichtlich der Macht der Propaganda. Joseph Goebbels, der 1921 promoviert hatte, war stark von Edward Bernays beeinflusst worden und bediente sich der Methoden der amerikanischen Public Relations bei der Verbreitung von Nachrichten über Printmedien, Radiosendungen, Filme und bei Umzügen, und damit die deutsche Bevölkerung regierungsamtliche Sendungen auch anhörte, organisierte er ein System von Aufpassern. Der Zweck faschistischer Propaganda ist die Kontrolle über die Ansichten der Massen und deren Einsatz im Dienst des Staates. Die Deutschen hatten versucht, Bernays selbst zu engagieren; er weigerte sich, aber andere amerikanische Public-Relations-Firmen akzeptierten Aufträge für die Produktion von NS-freundlicher Propaganda in den Vereinigten Staaten. Goebbels hoffte, in den Vereinigten Staaten Zwietracht säen zu können, was unter anderem über einen Kurzwellenradiosender erfolgen sollte, den «Weltrundfunksender», die «weit reichende Propagandaartillerie» seines Ministeriums. Der Sender verbreitete ab 1934 Propaganda für Deutschland in Englisch und anderen Fremdsprachen auch nach Afrika, Lateinamerika, in den Fernen Osten, nach Südostasien, Indonesien und Australien, wobei der Umfang der für Nordamerika bestimmten Sendungen den aller anderen Programme bei weitem übertraf. In die Vereinigten Staaten, für die in «amerikanischem Englisch» gesendet wurde, schickte der Weltrundfunksender Falsch-«Nachrichten», die in erster Linie mit Behauptungen über eine «jüdisch-kommunistische Weltverschwörung» zu tun hatten.[95]
Tageszeitungen verwendeten für solche Dinge den Ausdruck «fake news».[96] Aber manche Amerikaner sorgten sich, dass die «fake news» gar nicht so sehr viel von der Arbeit der «Lie Factory» Whitakers und Baxters oder gar von den Formen politischer Überredungskunst unterschied, die das Weiße Haus einsetzte. Roosevelts Kritiker beschuldigten ihn der Übernahme des Radios zu Propagandazwecken. Der Geschäftsführer des Democratic National Committee sprach über die Wählerschaft auf eine ganz ähnliche Art wie Whitaker und Baxter: «Der Durchschnittsamerikaner ist ein schlichter Denker, und es ist nicht schwer, ihn auf der Linie des Präsidenten zu halten, wenn es uns gelingt, ihn angemessen über das Geschehen in Washington zu informieren, über das, was der Präsident zu tun gedenkt, und die besonderen Ziele, die er anstrebt.» Das lasse sich am besten «mit einer vertrauenswürdigen Quelle wie dem Radio» erreichen. Doch anders als in Europa war das Radio weder im Besitz der Regierung noch wurde es von ihr kontrolliert.[97] Und nichts in FDRs Arsenal der Überredung kam der Täuschung der Wähler, wie sie von den ersten Politikberatern der Nation praktiziert wurde, auch nur nahe.
Dennoch waren selbst Roosevelts engste Verbündete besorgt. Felix Frankfurter, ein Berater des Präsidenten und langjähriger Freund von Walter Lippmann – sie hatten zusammen im House of Truth gewohnt –, warnte Roosevelt, riet ihm, sich von Public-Relations-Profis fernzuhalten, und bezeichnete Männer wie Bernays als «professionelle Vergifter des öffentlichen Denkens, Ausbeuter der Torheit, des Fanatismus und des Eigennutzes».[98] FDR neigte allerdings nicht zu Bernays’, sondern zu Gallups Vorgehensweise. Er setzte seine Segel nach der täglichen Wählerpost und mehr und mehr nach den wöchentlichen Meinungsumfragen. Roosevelt war bereit, zur Verwirklichung seines Programms umfangreiche Machtbefugnisse der Exekutive einzusetzen, aber nicht ohne breite Unterstützung der Öffentlichkeit. Mit ihm hielten Meinungsumfragen Einzug in das Weiße Haus und in den politischen Prozess in Amerika. Und dort blieben sie auch.
AM 27. JUNI 1936 nahm Roosevelt auf dem Franklin Field der University of Pennsylvania vor 100.000 Zuschauern die erneute Nominierung durch seine Partei an. «Diese Generation von Amerikanern hat eine Verabredung mit dem Schicksal», sagte er. Die Vereinigten Staaten kämpften jetzt für die Rettung der Demokratie, «für uns selbst und für die Welt».[99] Für die Rettung der Demokratie im eigenen Land hätte man allerdings die Jim-Crow-Gesetze abschaffen müssen. Das tat Roosevelt nicht.
Die Rassentrennung definierte die Politik des New Deal. Aufgrund von physischer Gewalt, Kopfsteuern, an deren Entrichtung das Wahlrecht gekoppelt war, Tests zur Lese- und Schreibfähigkeit und anderen Formen der Entrechtung wurden weniger als vier Prozent der Afroamerikaner in die Wählerlisten aufgenommen. Dennoch «besteht die Rache des Sklaven darin, seine Herren in einer solchen Abhängigkeit zu halten, dass sie keine Entscheidung zu politischen, sozialen, wirtschaftlichen oder ethischen Fragen treffen können, ohne sich auf ihn zu beziehen», schrieb Anne O’Hare McCormick im Jahr 1930. «Ohne Wahlrecht dominiert er die Politik.»[100]
Roosevelts Abhängigkeit von Meinungsumfragen verschlimmerte das Problem noch. Gallups frühe Methode ist als «Quotenstichprobe» («quota sampling») bekannt. Mit seinen Analysen wollte er ermitteln, wie groß der Anteil der Männer, Frauen, Schwarzen, Weißen, Jungen und Alten unter den Wählenden war. Die Personen, die seine Untersuchungen ausführten, mussten eine Quote erfüllen, damit die Teilnehmer der Umfrage eine exakt proportionale Miniwählerschaft darstellten. Aber was Gallup der amerikanischen Öffentlichkeit als «öffentliche Meinung» präsentierte, war die Meinung von Amerikanern, unter denen die Wohlhabenden, die Weißen und die Männer überproportional vertreten waren. Im ganzen Land machten die Schwarzen in den 1930er und 1940er Jahren etwa zehn Prozent der Bevölkerung aus, in Gallups Untersuchungsgruppe stellten sie jedoch weniger als zwei Prozent. Weil Schwarze im Süden im Allgemeinen nicht wählen durften, ordnete Gallup diesen Staaten keine «Negerquote» zu.[101] Anstatt die öffentliche Meinung zu repräsentieren, brachten die Meinungsumfragen die Stimmen der Afroamerikaner im Wesentlichen zum Schweigen.
Roosevelts Wahlbündnis zog die Afroamerikaner von der Republikanischen Partei ab; er traf sich mit einer informellen Gruppe von Beratern, die als sein «schwarzes Kabinett» bezeichnet wurde; und er ernannte den ersten afroamerikanischen Richter an einem Bundesgericht. Aber New-Deal-Programme folgten meist dem Grundsatz der Rassentrennung, und Roosevelt unternahm nichts gegen die Praxis der Lynchmorde. Nach 23 Lynchmorden im Jahr 1933 wurde im Kongress ein Gesetz gegen das Lynchen eingebracht. Im darauffolgenden Jahr wurde ein Mann namens Claude Neal, der des Mordes und der Vergewaltigung beschuldigt wurde, aus einem Gefängnis in Alabama geholt und nach Florida gebracht, wo er gefoltert, verstümmelt und vor 4000 Zuschauern hingerichtet wurde. Demokratische Abgeordnete aus dem Süden wandten sich mit Dauerreden zur Verzögerung einer Abstimmung gegen das Anti-Lynching-Gesetz.[102] «Wenn ich mich jetzt für das Anti-Lynching-Gesetz stark mache, werden sie jedes Gesetz blockieren, das ich dem Kongress zur Verabschiedung vorlege, um Amerika vor dem Zusammenbruch zu retten», sagte Roosevelt zu Walter White, dem Vertreter der National Association for the Advancement of Colored People (NAACP). «Südstaatler haben aufgrund ihrer längeren Dienstzeit den Vorsitz oder besetzen strategisch wichtige Posten in den meisten Ausschüssen des Senats oder des Repräsentantenhauses.» Aus dem Anti-Lynching-Gesetz wurde nichts.[103]
Unterdessen wuchs Gallups Einfluss. In der New York Herald Tribune sagte er 1936 voraus, der Literary Digest werde einen Erdrutschwahlsieg von Alf Landon gegen FDR prognostizieren und sich damit irren. Gallup lag in beiden Punkten richtig.[104] Das war jedoch erst der Anfang dessen, was Gallup vorhatte. «Ich hatte die Idee, zu jedem großen Thema eine Meinungsumfrage zu veranstalten», erklärte er. Während die Welt ins Taumeln geriet und das Ende der liberalen Demokratie bereits zum Greifen nahe schien, erklärte Gallup, die Ermittlung der öffentlichen Meinung sei von entscheidender Bedeutung für den Kampf gegen den Faschismus und die Lösung des Problems der Massendemokratie. In der sich schnell verändernden Welt «müssen wir zu jeder Zeit den Willen des Volkes kennen». Wahlen gebe es nur alle zwei Jahre, aber indem man die Ansichten der Öffentlichkeit zu bestimmten Fragen fast augenblicklich ermittle, könnten gewählte Vertreter ihre Wählerschaft besser vertreten – effizienter und auch demokratischer. Gallup glaubte, seine Methode habe die amerikanische Demokratie vor der politischen Maschinerie gerettet und die amerikanische Idylle wiederhergestellt: «Heute ist die Idee des Town Meeting in Neuengland in einem gewissen Sinn wiederhergestellt worden.» Mit dieser Einschätzung war er nicht allein. Elmer Roper, ein anderer früher Meinungsforscher, bezeichnete die Meinungsumfrage als «größten Beitrag zur Demokratie seit der Einführung der geheimen Abstimmung».[105]
Die Zeitschrift Time prägte 1939 das Wort «pollsters», Meinungsforscher, und im öffentlichen Bewusstsein stand das Wort «polls» schließlich für zwei verschiedene Dinge: für Umfragen zur öffentlichen Meinung und für Prognosen zum Ausgang von Wahlen. Als Gallup mit seiner Arbeit begann, machte er nur deshalb Vorhersagen, um die Genauigkeit seiner Erhebungen zu belegen, eine andere Möglichkeit, das zu tun, gab es nicht.[106] Davon einmal abgesehen, waren die Vorhersagen selbst mit keinem besonderen Zweck verbunden.
Der Kongress forderte eine Untersuchung. «Diese Umfragen sind ein Schwindel, und ihre Methoden sollten der Öffentlichkeit enthüllt werden», schrieb Walter Pierce, ein Abgeordneter der Demokraten im Repräsentantenhaus, im Jahr 1939. (Pierce selbst war, wie auch viele andere Kritiker der Meinungsumfragen, die tendenziell eine Befürwortung des Kriegseintritts durch die Amerikaner belegten, ein Isolationist.) Einen Teil der Besorgnisse machte die Annahme aus, dass Meinungsumfragen betrügerisch seien. Eine andere Sorge war, dass sie den ordentlichen Ablauf der Wahlen und der Regierungsarbeit beeinträchtigten. Ein Kongressabgeordneter schrieb, Meinungsumfragen repräsentierten nicht das Volk, der Kongress tue das: «Meinungsumfragen stehen im Widerspruch zu einer repräsentativen Regierung.»[107]
Ein wirksames Gegenmittel gegen den Faschismus – und eine Methode zur Stärkung der repräsentativen Regierung – war die Förderung einer offenen und aufrichtigen öffentlichen Debattenkultur. America’s Town Meeting of the Air debütierte 1935 im NBC Radio, und jede Episode wurde mit dem folgenden Ruf eingeläutet: «Oyez! Oyez! Kommt ins alte Rathaus und besprecht es!» America’s Town Meeting of the Air zielte darauf ab, die Radiohörer aus ihren politischen Blasen zu befreien. «Wenn wir dabei bleiben, dass Republikaner nur republikanische Zeitungen lesen, im Radio nur Republikanerreden hören, nur zu den politischen Kundgebungen der Republikaner gehen und gesellschaftlichen Verkehr nur mit Menschen pflegen, die ihre Ansichten teilen», warnte der Moderator, «und wenn die Demokraten … es genauso halten, dann säen wir die Saat der Zerstörung unserer Demokratie.» Jede Episode hatte die Form einer förmlichen Debatte über eine politische Frage, zum Beispiel: «Braucht Amerika eine Krankenversicherungspflicht?» Die Sendung legte bis zum Erreichen ihres Zieles einen weiten Weg zurück: Sie sorgte für die Gründung von mehr als 1000 Diskussionsklubs, in denen die Menschen erst gemeinsam zuhörten und dann, nach der Sendung, ihre eigenen Debatten von Angesicht zu Angesicht veranstalteten.[108]
FDR selbst weigerte sich bezeichnenderweise, im Radio zu diskutieren. Kandidaten für lokale, bundesstaatliche, ja sogar für nationale Ämter hatten bereits seit den frühen 1920er Jahren im Radio debattiert, aber Roosevelt wies alle Herausforderer mit dem – nicht überzeugenden – Argument ab, dass kein Präsident live im Radio diskutieren sollte, weil er dabei versehentlich ein Staatsgeheimnis verraten könnte. Frustrierte Republikaner fügten Versatzstücke aus seinen Reden und aus anderen Ansprachen in eine Gegenrede ein, die der republikanische Senator Arthur Vandenberg vortrug, und übergaben das Gesamtergebnis als sendefähige «Debatte» an Radiosender weiter. Ursprünglich sollten 66 Sender den Beitrag ausstrahlen; 21 davon weigerten sich, als sie erfuhren, dass die Debatte eine Fälschung war.[109]
Manchen Beobachtern fielen die mit dem Radio verbundenen Gefahren auf – es schien das perfekte Instrument für Propagandisten zu sein –, doch genauso groß war die Zahl derer, bei denen das Radio ebenso viel Begeisterung auslöste wie die Fotografie bei Frederick Douglass oder das Internet viele Jahre später bei seinen Lobrednern. In den Jahren von 1930 bis 1935 verdoppelte sich die Zahl der Radiogeräte in den Vereinigten Staaten. «Unterscheidungen zwischen ländlichen und städtischen Gemeinschaften, Männern und Frauen, Alt und Jung, zwischen sozialen Schichten, Glaubensbekenntnissen, Staaten und Nationen sind abgebaut», schrieben die Psychologen Hadley Cantril und Gordon W. Allport im Jahr 1935. «Wie durch Zauberkraft verschwinden die Schranken der sozialen Schichtung, und an ihre Stelle tritt ein Bewusstsein von Gleichheit und einer Interessengemeinschaft.»[110] Einiges davon wurde zweifellos Wirklichkeit. Aber das Radio schuf und stärkte neue wie alte Formen von Verbundenheit – und Spaltung.
Das Radio machte den religiösen Fundamentalismus zu einer nationalen Bewegung. Paul Rader, der Direktor des Chicago Gospel Tabernacle, begann 1925 mit der Ausstrahlung von The National Radio Chapel. In den härtesten Jahren der Depression wüteten Geistliche der Erweckungsbewegung gegen die Moderne und das Leid, das sie aus ihrer Sicht verursacht hatte, und forderten ihre Zuhörer auf, zu Gott zurückzukehren. Die Radio Bible Class, gesendet aus Grand Rapids, Michigan, brachte die Tradition des sonntäglichen und sommerlichen Bibelstudiums zu Gemeinden, die so weit verstreut waren, wie das Signal des Senders reichte. Die Calvary Baptist Church in New York und das Bible Institute of Los Angeles zählten zu den Kirchen, die über eigene Radiosender verfügten. Fundamentalisten gründeten in jenen Jahren auch neue Colleges und warben per Radio um Studenten: Das Bob Jones College wurde 1926 in Florida gegründet und zog 1933 nach Cleveland in Tennessee um; die William Jennings Bryan University wurde 1930 in Dayton, Tennessee, gegründet. Das Wheaton College in Illinois – das «Harvard des Bible Belts» – hatte 1926.400 Studenten, 1941 waren es 1100; dazu zählte auch Billy Graham. Die von Los Angeles aus über das Mutual-Sendernetz verbreitete Old Fashioned Revival Hour erreichte 1939 ein Publikum von bis zu 20 Millionen Menschen.[111]
Das Radio stärkte auch den Populismus. Charles Coughlin, ein katholischer Priester, strahlte ab 1926 mit Hilfe eines Radiosenders in Michigan eine Sonntagsmesse aus, und der Sender CBS beschloss 1930, die Sendung The Golden Hour of the Little Flower über sein nationales Sendernetz zu verbreiten. Mit einem Schwenk von der Religion zur Politik und unterschwelligem Antisemitismus prangerte Coughlin «Wall-Street-Finanziers» an und erwog 1934, obwohl er zunächst ein eifriger Anhänger Roosevelts gewesen war, eine eigene Kandidatur für das Weiße Haus. Im Mai 1935 sprach er im Madison Square Garden vor einem Publikum von 30.000 leidenschaftlichen Anhängern, und einige davon hielten Plakate hoch, auf denen «Unser nächster Präsident» geschrieben stand.[112]
Auch der Senator Huey Long aus Louisiana, ein wild dreinschauender Mann, der gern mit der Faust auf den Tisch hieb, versammelte seine Anhänger am Radio. Long, Jahrgang 1893, hatte sein Juraexamen bestanden, während er noch als Handlungsreisender arbeitete, und war 1928 zum Gouverneur von Louisiana gewählt worden, im gleichen Jahr, in dem Roosevelt die Gouverneurswahl in New York gewann. Als temperamentvoller Populist hatte er sich rücksichtslos eine politische Machtbasis in Louisiana verschafft, bevor er eine nationale politische Bewegung aufbaute, die Share Our Wealth Society. Im Spätjahr 1933 brach Long mit FDR, bezeichnete ihn als Diktator und griff ihn bald darauf in Radiosendungen an. Er kaufte sich Sendezeit in Radionetzen, über die er ein Publikum im ganzen Land erreichte. «Ich möchte gern, während ich hier spreche, dass Sie fünf ihrer Freunde anrufen und ihnen sagen, dass Huey auf Sendung ist», pflegte er einleitend zu sagen. Dann plauderte er ein paar Minuten lang und wartete darauf, dass sein Publikum sich vergrößerte. Als gefährlicher Demagoge bezeichnet, stand er im September 1935 auf dem Höhepunkt seiner Macht, als er in Baton Rouge vom Schwiegersohn eines seiner erbittertsten politischen Gegner niedergeschossen wurde. «Every Man a King» war Huey Longs Motto gewesen. Er starb auf eine lächerliche Art den Tod von Polonius. Coughlin, der darauf hoffte, Longs Anhänger für sich gewinnen zu können, fusionierte seine eigene Organisation mit Longs Share Our Wealth Society, bildete daraus die Union Party und trat als Präsidentschaftskandidat gegen den Mann an, den er mittlerweile gewohnheitsmäßig Franklin Double-Crossing («den Täuscher») Roosevelt nannte.[113] Er bekam weniger als eine Million Wählerstimmen.
Roosevelt erreichte im November 1936 eine Wiederwahl mit einem weiteren, bis dahin unerreichten Erdrutschsieg von 523 zu 8 Wahlmännerstimmen und einem Wählerstimmenanteil von mehr als 60 Prozent. Seine Machtbefugnisse falsch einschätzend, beschloss er, seine Reformvorhaben energisch weiter voranzutreiben, und zu diesem Plan gehörte auch eine Auseinandersetzung mit dem Supreme Court.
NOCH VOR SEINEM AMTSANTRITT 1933 hatte FDR damit begonnen, sich juristische Unterstützung für sein gesetzgeberisches Programm zu verschaffen, und sich mit Oliver Wendell Holmes, bis 1932 Richter am Obersten Gerichtshof, getroffen, der ihm sagte: «Sie befinden sich in einem Krieg, Mr. President, und in einem Krieg gibt es nur eine Regel: ‹Machen Sie Ihr Bataillon gefechtsbereit und kämpfen Sie!›» Nach den ersten hundert Tagen seiner Amtszeit hatte Roosevelt die Verabschiedung von 15 gesetzgeberischen Bestandteilen seines New Deal erreicht. Alle hatten mit der Rolle der Bundesregierung bei der Lenkung der Wirtschaft zu tun und deshalb mit der Handelsklausel in Artikel I, Abschnitt 8 der Verfassung, wo es heißt: «Der Kongress hat das Recht, … den Handel mit anderen Nationen, zwischen den Einzelstaaten und mit den Indianerstämmen zu regeln.» Die Entscheidung darüber, ob der New Deal unter diese Machtbefugnis fiel oder nicht, sollte dem Supreme Court zufallen.
Der New Deal erweiterte und intensivierte die seit langem geführte Debatte über das Wesen der Verfassung. «Ich glaube nicht daran, dass eine Generation entscheiden darf, was die anderen tun sollen», schrieb ein Philosophieprofessor im Jahr 1931. «Unsere Vorväter wussten noch nichts von einem Land mit 120 Millionen Menschen, mit Automobilen, Zügen und Radios.» Wie konnte ein Volk, das der Idee des Fortschritts verpflichtet war, sich an die Vergangenheit ketten? «Hoffnungsvolle Menschen schwenken heute die Flagge», sagte Thurman Arnold, Roosevelts stellvertretender Justizminister, «ängstliche Leute winken mit der Verfassung.»[114]
Unterdessen wurde der Oberste Gerichtshof mit neuen Insignien der Macht ausgestattet. Hoover hatte 1933, kurz vor seinem Ausscheiden aus dem Amt, den Grundstein eines neuen Gebäudes für das Gericht gelegt. Die Baumaterialien wurden aus aller Welt herbeigeschafft: Marmor aus Spanien, Italien und Afrika, Mahagoni aus Honduras. Der Bauplan sah vor, mit einem Budget von zehn Millionen Dollar das größte Marmorgebäude der Welt zu errichten. Nachdem Hoover bei der Zeremonie eine Maurerkelle voll Erde umgewendet hatte, hielt der Oberste Richter Charles Evans Hughes eine Ansprache, in der er an die langen Wanderjahre des Gerichts erinnerte, das eineinhalb Jahrhunderte lang von einem Regierungsgebäude ins nächste geschoben worden war. «Das Gericht nahm seine Arbeit als heimatlose Abteilung der Regierung auf», sagte Hughes, aber «über dem Grundstein, den wir heute legen, wird sich ein Ehrenmal erheben, das erhabener ist als Denkmale, die dem Krieg gewidmet sind».[115]
Hughes, ein Reformer, war zweimal an das Gericht berufen worden; zwischendurch hatte er fürs Präsidentenamt kandidiert. Bei seiner Kandidatur für das Amt des Gouverneurs von New York gegen William Randolph Hearst hatte Hughes 619 Dollar ausgegeben, Hearst dagegen 500.000 Dollar – und Hughes hatte gewonnen.[116] Als Gouverneur brachte Hughes dann ein Gesetz für saubere Wahlen durch das Parlament des Bundesstaates, mit dem die Ausgaben begrenzt wurden, die den Kandidaten für einen Wahlkampf gestattet waren. Präsident Taft nominierte Hughes dann als Richter für den Supreme Court, wo er sich als Fürsprecher bürgerlicher Freiheiten bei von der Mehrheitsmeinung abweichenden Voten oft mit Holmes zusammentat. Hughes trat von seinem Richteramt zurück, als er 1916 für das Präsidentenamt kandidierte; er verlor die Wahl knapp gegen Wilson. Den Präsidenten Harding und Coolidge diente er als Außenminister, bevor er, von Hoover nominiert, an den Supreme Court zurückkehrte. An Hughes’ Gericht hatten vier konservative Richter, bekannt unter der Bezeichnung «Four Horsemen» (eine Anspielung auf die vier apokalyptischen Reiter), konsequent für die Vertragsfreiheit votiert, d.h., die weitgehende Autonomie der Wirtschaft, während die drei Liberalen – Louis Brandeis, Benjamin Cardozo und Harlan Stone – im Allgemeinen regulierende Eingriffe durch die Regierung und gesetzgeberische Vorstöße wie etwa eine Mindestlohnvorschrift für verfassungskonform befanden. So fielen die entscheidenden Stimmen Hughes und Owen Roberts zu. Bei den ersten Entscheidungen zur New-Deal-Gesetzgebung bestätigte das Gericht Roosevelts Programm mit einer Mehrheit von 5:4, da Hughes und Roberts sich den Liberalen anschlossen. «Ein Notstand schafft zwar keine Macht, aber ein Notstand kann die Gelegenheit für die Ausübung von Macht bieten», sagte Hughes.[117]
Bei der Sitzung vom Januar 1935 hörte das Gericht Argumente zu einer weiteren Reihe von Anfechtungen der New-Deal-Gesetzgebung. In der Annahme, dass das Gericht gegen seine Sache entscheiden würde, hatte Roosevelt eine Rede vorbereitet. («Zur Verwendung, falls benötigt!», hatte er sie überschrieben.) Aber im Februar 1935 bestätigte das Gericht mit 5:4 Stimmen erneut sein Programm, was einen der Horsemen zu dem Ausruf veranlasste: «Die Verfassung ist verloren!»[118] Im Frühling sollte Roosevelt seinen Redetext dann benötigen. Am 27. Mai 1935 trat das Gericht zum letzten Mal in der Old Senate Chamber zusammen. An jenem Tag versetzten die Richter dem New Deal mit drei einstimmigen Entscheidungen schwere Schläge. Die wichtigste davon betraf die National Recovery Administration – Roosevelt hatte in dem Zusammenhang von «dem wichtigsten und weitreichendsten Gesetz in der Geschichte des amerikanischen Kongresses» gesprochen – und erklärte diese Behörde für verfassungswidrig, weil der Kongress damit die Machtbefugnisse überschritten habe, die ihm nach der Handelsklausel zustünden. «Die Folgen dieser Entscheidung», sagte FDR, «sind sehr viel bedeutender als jede andere Entscheidung vielleicht seit dem Fall Dred Scott.» Dann wetterte er wegen der dürftigen Machtbefugnisse, die dem Kongress zur Verfügung stünden, um eine strauchelnde Volkswirtschaft zu unterstützen: «Wir sind auf eine vorsintflutliche Definition des Handels zwischen den Bundesstaaten verwiesen worden.»[119] Aber in den vorsintflutlichen Zeiten hatte das Gericht nicht einmal halb so viel Macht gehabt, wie es 1935 für sich in Anspruch nahm.
Als das Gericht sechs Monate später seine Sitzungstätigkeit wieder aufnahm, trat es in seinem neuen, opulent ausgestatteten Amtsgebäude zusammen, das ein Reporter als Eisschrank bezeichnete, der von einem verrückten Polsterer ausgestattet worden sei. Und dann legte das Hughes-Gericht los und schmetterte in weniger als achtzehn Monaten mehr als ein Dutzend Bundesgesetze ab. Der Kongress verabschiedete sie unbeirrt; das Gericht wies sie nacheinander ab. Einmal fiel Roosevelts Solicitor General im Gerichtssaal in Ohnmacht. «Noch nie zuvor in der Geschichte unseres Landes ist der Supreme Court zur Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit so vieler vom Kongress verabschiedeter Gesetze aufgerufen worden, die das Leben aller Amerikaner auf so entscheidende Art betrafen, wie im Zeitraum von 1933 bis 1936», schrieb ein einstiger Professor für Verfassungsrecht in einem von Dutzenden von Traktaten, die veröffentlicht wurden, um der Wählerschaft diese Serie von Rechtsfällen zu erklären. «Acht Gesetze oder Teile von Gesetzen wurden für verfassungswidrig erklärt, zwei für verfassungsgemäß befunden, und in vier Fällen wurden Handlungen von Regierungsbeamten oder Kommissionen als außerhalb des Geltungsbereichs der Verfassung liegend festgestellt.»[120]
Der Präsident begann daraufhin über Vorschläge für Gegenmaßnahmen nachzudenken. Ein Senator hatte eine Idee. «Man braucht zwölf Männer, um einen Angeklagten des Mordes für schuldig zu befinden», sagte er. «Ich sehe nicht ein, warum nicht eine einstimmige Gerichtsentscheidung nötig sein sollte, um ein Gesetz für verfassungswidrig zu erklären.» Dazu wiederum hätte es eines Verfassungszusatzes bedurft, eines Vorgangs, der bekanntermaßen korrumpierbar ist. «Besorgen Sie mir zehn Millionen Dollar», sagte Roosevelt, «und ich kann verhindern, dass jeder beliebige Zusatzartikel zur Verfassung von der dafür notwendigen Zahl von Bundesstaaten ratifiziert wird.»[121] Er wartete auf den geeigneten Zeitpunkt.
Im November 1936, eine Woche vor dem Wahltag, erschien The Nine Old Men, ein Buch, das in den Zeitungen des Landes auch als Serie gedruckt wurde. Es war eine Polemik, die den Supreme Court unter Hughes als schwach und töricht darstellte und zum Bestseller wurde.[122] Roosevelt wurde am 20. Januar 1937 in seine zweite Amtszeit eingeführt – der Tag der Amtseinführung, bis dahin der 4. März, war vorverlegt worden – und begann sofort, die Judikative infrage zu stellen. Am 5. Februar kündigte er einen Plan zur Neustrukturierung des Obersten Gerichtshofs an. Im Hochgefühl nach seinem Wahlsieg und mit der Zuversicht, dass Hughes’ Macht im Schwinden sei, brachte Roosevelt seinen Plan auf den Weg. Er behauptete, die Richter seien altersschwach und nicht mehr in der Lage, die anstehenden Aufgaben zu erfüllen, und kündigte an, er werde für jeden noch amtierenden Richter über 70 Jahre einen zusätzlichen Richter nominieren, was sechs der Amtsinhaber betraf. Der Oberste Richter war 74.
Dass Roosevelt sich hier übernahm, lag unter anderem daran, dass er die wirtschaftliche Erholung überschätzte. Im Glauben, die Krise sei fast vorbei, kürzte er die Ausgaben der Bundesregierung, insbesondere die Mittel für die Works Progress Administration. Eine Rezession setzte ein. «Die Rezession ist ausgeprägter als die Depression», berichtete Time und verwies dabei auf eine Abnahme der Industrieproduktion um 35 Prozent im Vergleich zum vorhergehenden Sommer, den «schnellsten Rückgang in der Geschichte der US-Wirtschaft und der Finanzbranche». Dem Braintrust gingen die Ideen aus. «Wir haben alle Kaninchen aus dem Hut gezogen, dort gibt es jetzt keine Kaninchen mehr», sagte ein Demokrat im Repräsentantenhaus.[123] Und Roosevelt drängte unbeirrt auf weitere Maßnahmen.
Bei einer Kaminplauderei am 9. März 1937 verglich Roosevelt die Gerichtskrise mit der Bankenkrise, dem Thema seines ersten Kamingesprächs. Er behauptete, jetzt sei der Zeitpunkt gekommen, «an dem man die Verfassung vor dem Gericht und das Gericht vor sich selbst bewahren muss». Diesmal funktionierte der Radiozauber nicht. Der Zustimmungswert für die Arbeit des Präsidenten war von 65 auf 51 Prozent gesunken. Und Hughes brachte die Sache schon bald mit einem geschickten Schachzug praktisch zum Stillstand. «Der Supreme Court ist mit seiner Arbeit vollständig auf dem Laufenden», berichtete er am 22. März in einem überzeugenden Brief an den Justizausschuss des Senats. Sollte Effizienz gegenwärtig ein Grund zur Besorgnis sein, gebe es zahlreiche Belege dafür, dass mehr Richter die Arbeitsabläufe nur verzögern würden.[124]
Mit West Coast Hotel Co. v. Parrish, einer 5:4-Entscheidung vom 29. März 1937, die eine Vorschrift zum Mindestlohn für Frauen bestätigte, unterstützte der Supreme Court erstmals wieder den New Deal. Hughes hatte die schriftliche Begründung verfasst, Owen Roberts die Seiten gewechselt. Es war ein Wechsel, so plötzlich und für den Fortbestand des Gerichts so entscheidend, dass er als «the switch in time that saved nine» («der Wechsel beizeit’ rettete neun Leut’») bezeichnet wurde. Das Manöver wirkte rein politisch. «Selbst ein Blinder müsste sehen, dass das Gericht Politik macht», schrieb Felix Frankfurter an Roosevelt, «und verstehen, wie die Verfassung ‹richterlich konstruiert wird›. Es ist ein gründlicher Anschauungsunterricht – eine intensive Demonstration – des Bezugs von Menschen zur ‹Bedeutung› der Verfassung.»[125]
Der Justizausschuss des Senats stimmte am 18. Mai 1937 gegen die Weiterleitung des Vorschlags des Präsidenten. Der Plan zur Aufstockung des Gerichts war erledigt. Sechs Tage später bestätigte der Supreme Court die Bestimmungen des Social Security Act zur Altersversicherung. Der Präsident und sein Deal hatten gewonnen. Sollte der Umschwung doch mehr mit dem Gesetz als mit Einflussnahme zu tun gehabt haben, vermittelte er jedenfalls nicht diesen Eindruck, und er ging auf Kosten des Vertrauens vonseiten der Öffentlichkeit. H. L. Mencken veröffentlichte eine satirische «Verfassung für den New Deal», die so begann: «Alle Machtbefugnisse der Regierung, welcher Art auch immer, sollen einem Präsidenten der Vereinigten Staaten übertragen werden.»[126]
Im Jahr 1938 legte Roosevelt einen fünf Milliarden Dollar umfassenden Ausgabenplan vor, der Keynes’ Argument folgte, Ausgaben der öffentlichen Hand seien die beste Methode zur Bekämpfung von wirtschaftlichem Niedergang und Stagnation. Aber Keynes selbst war besorgt. Im Februar schrieb er dem Präsidenten: «Ich fürchte mich sehr davor, dass die progressiven Anliegen in allen demokratischen Ländern Schaden nehmen könnten, weil Sie das Risiko für deren Prestige zu leicht genommen haben, das Risiko, dass ein Scheitern festgestellt wird, weil der Aufschwung nicht sofort einsetzt.» Der Kongress lehnte im April mit einer Mehrheit von 204 Stimmen (darunter 108 Demokraten) einen Plan FDRs ab, der eine Reorganisation des Regierungsapparats, die Einstellung weiterer Mitarbeiter für das Weiße Haus und die Verlegung der Zuständigkeit für den Haushalt vom Finanzministerium in das Weiße Haus vorsah. Das Gesetz sollte bei einer späteren Sitzung dann doch noch verabschiedet werden, aber der Spielraum, den man Roosevelt 1933 noch zugestanden hatte, war inzwischen verlorengegangen. Ein Kritiker FDRs schrieb: «In Europa haben wir eben erst erlebt, was geschieht, wenn einem Mann zu viel Macht zugestanden wird.»[127] Niemand wollte das im eigenen Land erleben.
ADOLF HITLER VERKÜNDETE am 15. März 1938 auf dem Wiener Heldenplatz vor einer Hakenkreuzfähnchen schwenkenden 200.000 Personen zählenden Menschenmenge den «Anschluss», die Vereinigung von Deutschland und Österreich. Goebbels sorgte dafür, dass sein Propagandaministerium das österreichische Rundfunksystem übernahm.[128] Nachdem Hitler bereits 1933 alle Regierungsgewalt an sich gerissen und die politische Opposition zerschlagen hatte, verweigerte er den Juden ab 1935 auf der Grundlage der «Nürnberger Gesetze» das «Reichsbürgerrecht».
Er hatte eine Luftwaffe aufgebaut, die Wehrpflicht wieder eingeführt und eine neue Armee ausgerüstet. 1936 hatte er 35.000 Mann der Wehrmacht in das nach den Bestimmungen des Versailler Vertrags entmilitarisierte Rheinland einrücken lassen, ohne dabei auf bewaffneten Widerstand zu treffen. Noch im gleichen Jahr schloss er mit Italien das Bündnis der «Achse» und mit Japan den «Antikominternpakt». Im Streben nach einem «Großdeutschland» hatte Hitler den österreichischen Bundeskanzler Kurt Schuschnigg zur Absage einer von ihm kurzfristig für den 13. März 1938 angesetzten Volksabstimmung über die Unabhängigkeit Österreichs und zum Rücktritt gezwungen und war in das Land einmarschiert, das einst sein Heimatland gewesen war. Die österreichischen Truppen hatten keinen Widerstand geleistet. Ebenso hielt es ein großer Teil Europas, obwohl Deutschland damit den Versailler Vertrag verletzt hatte.
Die Live-Berichterstattung vom Schauplatz des Geschehens nahm mit jener Krise ihren Anfang, ebenso wie die aktuelle Eilmeldung, eine Unterbrechung des regulären Programms. Amerikanische Radiosender unterbrachen während der gesamten Krise in Österreich immer wieder die vorgesehene Sendefolge, um Nachrichten und Einschätzungen aus Rom, Paris, London und Berlin anzubieten, die oft per Kurzwellensender übertragen wurden. Reporter interviewten Augenzeugen an Ort und Stelle, ihre Mikrofone fingen die Geräusche der Straße ein, das Geklapper von Pferdehufen, das Heulen von Sirenen. Als Hitler im September versuchte, das Sudetenland an sich zu reißen, und Europa am Rand eines Krieges stand, verlasen Radiosprecher Stunde um Stunde aktualisierte Krisenmeldungen. Der Sender NBC unterbrach sein Programm während der 18 Tage andauernden «Sudetenkrise» 440-mal. Die Nachrichten waren so eilig und dringend, dass CBS die Ausstrahlung von Werbebeiträgen stoppte. Der CBS-Reporter H. V. Kaltenborn, der niemals von einem Manuskript ablas, brachte es in diesen 18 Tagen auf 102 Sendungen aus New York, bei denen er die Originalbeiträge von den aktuellen Schauplätzen zusammenfügte. Er schlief in dieser Zeit – wenn er überhaupt zum Schlafen kam – im CBS-Studio 9 auf einem Army-Feldbett, neben seinem Bett lag ein Mikrofon.[129]
«Der Premierminister hat dem deutschen Führer und Reichskanzler … die folgende Nachricht übersandt», meldete die BBC am 14. September, und ein Sprecher verlas die Nachricht von Neville Chamberlain an Hitler: «‹Angesichts der zunehmend kritischen Situation beabsichtige ich sofort herüberzukommen, um Sie zu sprechen, mit dem Ziel, zu versuchen, eine friedliche Lösung zu finden.›» Chamberlain bereitete sich schon auf seinen Flug nach München vor, als tschechische Radiosprecher unbeirrt versuchten, der NS-Propaganda etwas entgegenzusetzen. «Ein weiteres Mal müssen wir heute Abend der unangenehmen Aufgabe nachkommen, weitere erfundene Berichte zurückzuweisen, die von den deutschen Radiosendern verbreitet wurden», sagte ein tschechischer Nachrichtenmoderator am 18. September. «Der ungarische Radiosender versucht offenbar, bei der Verbreitung von Falschmeldungen mit den Deutschen zu konkurrieren.»
«Hallo Amerika», sagte der NBC-Korrespondent Fred Bates am 27. September. «Hier ist London.» Bates, dessen Stimme durch die Anspannung belegt klang, verlas die wichtigsten Leitartikel aus den Londoner Zeitungen. Sie machten deutlich, dass in Europa die Zukunft der Zivilisation selbst in Zweifel gezogen worden war. «Ich spreche heute vom Flughafen der Stadt München aus zu Ihnen», berichtete der NBC-Journalist Max Jordan zwei Tage später, nachdem er in die bayerische Hauptstadt entsandt worden war, um von dort über das Treffen Hitlers, Mussolinis, Chamberlains und des französischen Ministerpräsidenten Daladier zu berichten.[130] Im später so bezeichneten Münchener Abkommen kamen Italien, Großbritannien und Frankreich überein, Deutschland die Besetzung von Teilen der Tschechoslowakei zu gestatten. «Was am Freitag geschah, wird als ‹Frieden› bezeichnet», sagte Dorothy Thompson in ihrer Radiosendung am darauffolgenden Tag. «In Wirklichkeit ist das ein internationaler faschistischer Staatsstreich.» Sie sagte, das Abkommen sei innerhalb von vier Stunden von vier Männern ausgehandelt worden, von denen kein einziger bisher auch nur einen Fuß auf tschechischen Boden gesetzt habe, in ein Land, das Hitler zerstören und dessen politische Minderheiten er entweder ermorden oder ins Exil treiben werde. Der Pakt, sagte Thompson, bedeute «die offene Installierung des Terrors.»
Der nach London zurückkehrende Chamberlain verkündete, dass «ganz Europa Frieden finden kann», und verlas in einer Live-Radiosendung das mit Hitler geschlossene Abkommen, auch wenn ihn sein schärfster Kritiker Winston Churchill wegen seiner Beschwichtigungspolitik gegenüber Hitler verurteilte, die von der letztlich törichten Hoffnung geleitet sei, den Krieg vermeiden zu können. «Man ließ Ihnen die Wahl zwischen Krieg und Unehre. Sie wählten die Unehre und werden den Krieg bekommen.»[131]
Der Krieg, den Europa erleben sollte, der Krieg, den die Welt erleben sollte, er sollte der erste Krieg des Radiozeitalters sein, ein Krieg auch im Äther. Die Kämpfe sollten die Gewalten der Brutalität und der Barbarei freisetzen. Und die Radioberichterstattung über den Krieg sollte zeigen, zu was für einer furchterregenden Waffe der Tyrannen die «Fake News» geworden waren. Nichts veranschaulichte diese Gefahren besser als eine Radiosendung, die vier Wochen nach der Sudetenkrise von Orson Welles inszeniert wurde.
CBS Radio begann am Abend des 30. Oktober 1938 kurz nach 20 Uhr mit der programmgemäßen Ausstrahlung von Welles’ Mercury Theatre on the Air, einer einstündigen Hörspielproduktion, die der Sender als Teil seines der Öffentlichkeit verpflichteten Programms ausstrahlte. Der 23-jährige Welles hatte in jenem Sommer Hörspielbearbeitungen von Dracula, Der Graf von Monte Christo und den Abenteuern von Sherlock Holmes produziert. Das Theaterwunderkind hatte auch ein besonderes Händchen für die Regie, war von Geräuscheffekten fasziniert und verfügte außerdem über eine besondere Begabung in der Kunst, den Menschen Schrecken einzujagen.
«Das Columbia Broadcasting System und die angeschlossenen Sender präsentieren Ihnen Orson Welles und das Mercury Theatre of the Air!», begann die Sendung regelmäßig, und anschließend sollte Welles in die aktuelle Geschichte einführen. Aber an jenem Abend bekam der Teil des Publikums, der die kurze Einführung durch den Regisseur zufällig verpasst hatte, etwas zu hören, was wie der allabendliche Wetterbericht klang, gefolgt von einem Musikprogramm, das ein Nachrichtensprecher mit einer dringenden Meldung unterbrach:
Meine Damen und Herren, wir unterbrechen unser Tanzmusikprogramm für eine Sondermeldung der Intercontinental Radio News. Um 20 Minuten vor acht, Central Time, berichtet Professor Farrell vom Mount-Jennings-Observatorium in Chicago, Illinois, über die Beobachtung mehrerer Explosionen eines weißglühenden Gases, die sich in regelmäßigen Zeitabständen auf dem Planeten Mars ereignen.
Auf den nächsten Musikbeitrag folgte eine weitere Unterbrechung durch die Stimme eines Reporters namens Carl Phillips, der einen Astronomen der Princeton University interviewte. Nach einer weiteren Pause kehrte ein hörbar erschütterter Phillips zurück:
Meine Damen und Herren, hier ist wieder Carl Phillips, hier draußen auf der Wilmuth Farm in Grovers Mill, New Jersey. … Ich weiß nicht so recht, wo ich anfangen soll, um Ihnen einen bildhaften Eindruck von der seltsamen Szene zu geben, die ich vor Augen habe, das sieht aus wie eine Episode aus einer modernen Fassung von Tausendundeine Nacht. … Ich nehme an, das ist es… es sieht nicht wie ein Meteor aus.
Die allgemeine Spannung und Anspannung steigerte sich zur Panik, der Radiosender beendete sein Tanzmusikprogramm zugunsten einer atemlosen Berichterstattung über eine Invasion vom Mars und das Chaos auf den Straßen, als die Amerikaner versuchten, sich in Sicherheit zu bringen. Der US-Innenminister richtete das Wort an die «Bürger der Nation» in der Hoffnung, ihr Widerstand könne zur «Erhaltung der Herrschaft des Menschen auf dieser Erde» beitragen. Das Ziel der Außerirdischen sei der gesamte Planet. Eine andere Stimme sagte: «Ihr offensichtliches Ziel ist es, jeden Widerstand zu brechen, die Kommunikation lahmzulegen und die menschliche Gesellschaft funktionsunfähig zu machen.»
Das Militär übernahm die Kontrolle über die Radiosender. Die amerikanischen Städte, auch New York, brannten bis auf die Grundmauern nieder. «Dies könnte die letzte Sendung sein», verkündete eine verzweifelte Stimme. «Wir bleiben bis zum Ende hier. …» Die Stimme bricht ab, das Geräusch eines zu Boden stürzenden Körpers ist zu hören. Man hört nur noch etwas, was wie eine Durchsage eines Kurzwellenfunkers klingt:
«2X2 L ruft CQ … New York.
Ist dort noch irgendjemand auf Empfang?»
Erst jetzt – aber, wie den Zeitungsberichten am darauffolgenden Tag zu entnehmen war, eben erst nachdem Hörer im ganzen Land in Panik geraten waren, die Polizei angerufen und ihren Gemeindepfarrer aufgesucht hatten, um eine letzte Beichte abzulegen, und schreiend aus ihren Häusern gerannt waren – unterbrach ein Ansager die Handlung mit einer Senderkennung und teilte der Hörerschaft mit, dass sie «eine Originaldramatisierung von The War of the Worlds» zu hören bekommen habe.[132]
Ein Jahrzehnt der Public Relations zusammen mit der Autorität des Mediums Radio hatte die Amerikaner in Ungewissheit versetzt, was denn nun wahr sei. Ein zerknirschter Sender CBS ließ verlauten, man werde nie wieder «die Technik einer simulierten Nachrichtensendung» verwenden. Die Federal Communications Commission (FCC) entschied sich gegen eine Bestrafung. Aber Kommentatoren im ganzen Land fragten sich, was das Radio hier ausgelöst hatte. Waren die Massen zu passiv geworden, zu empfänglich für vorgefertigte Inhalte und Meinungen?
Dorothy Thompson war dankbar. «Die größten Organisatoren von Massenhysterien und Täuschungen der Massen sind heute Staaten, die sich des Radios bedienen, um Furcht und Schrecken auszulösen, zum Hass aufzustacheln, die Massen in Erregung zu versetzen, massenhafte Unterstützung für ihre Politik zu mobilisieren, für Götzenverehrung zu sorgen, die Vernunft abzuschaffen und sich selbst an der Macht zu halten.» Nach jahrelanger Überzeugungsarbeit, mit der sie versucht hatte, die Amerikaner vor der anrollenden Welle des Faschismus zu warnen, kam sie zu dem Schluss: «Welles hat einen größeren Beitrag zum Verständnis des Hitlerismus, Mussolinismus, Stalinismus und aller anderen Terrorismen unserer Zeit geleistet, als alle Worte bewirken werden, die darüber geschrieben worden sind.»[133]
In den Jahren 1938 und 1939, als es für CBS in Gerichtsverfahren wegen War of the Worlds um Forderungen in Höhe von 12 Millionen Dollar ging, betonte Welles, er habe zu keinem Zeitpunkt auch nur eine Ahnung von den Wirkungen der Sendung gehabt und ganz gewiss niemandem schaden wollen.[134] Aber später gab er zu, dass Hörer bereits nach 15 Minuten in Panik geraten seien und beim Sender angerufen hätten. Ein New Yorker Polizist habe sogar versucht, sich Zutritt zum Studio zu verschaffen: «Was geht da drin vor?» Ein Supervisor des Senders hatte Welles gebeten, die Sendung zu stoppen oder zumindest zu unterbrechen, um die Hörer zu beruhigen.
«Um Gottes Willen, Sie erschrecken die Leute zu Tode», sagte er. «Bitte unterbrechen Sie und sagen Sie ihnen, dass es nur ein Hörspiel ist.»
«Warum wollen Sie unterbrechen?», donnerte Welles. «Die Leute haben Angst? Gut, das sollen sie auch haben. Lassen Sie mich es jetzt zu Ende bringen.»
Welles betonte später, ihm sei es die ganze Zeit nur darauf angekommen, das Bewusstsein der Amerikaner für die mit dem Radio verbundenen Gefahren zu schärfen, die in einem Zeitalter der Propaganda bestehen. «Die Menschen zweifeln an dem, was sie in der Zeitung lesen», sagte er, aber «als das Radio aufkam, … wurde alles geglaubt, was aus dem neuen Gerät zu hören war.»[135] Das endete auch nicht mit The War of the Worlds, der Sendung, die es den Amerikanern nur noch schwerer machte, einzuschätzen, was sie glauben sollten. Allerdings wussten sie jetzt zumindest so viel: Etwas Böses war auf die Welt losgelassen worden.
Am 9. November 1938, keine zwei Wochen nach der Sendung von War of the Worlds, brannten Nationalsozialisten in Deutschland, Österreich und im Sudetenland mehr als 7000 jüdische Geschäfte und mehr als 1000 Synagogen nieder. Sie ermordeten Ladenbesitzer und verhafteten mehr als 30.000 Juden an einem Abend, der als «Reichskristallnacht» in die Geschichte einging, nach dem zertrümmerten Glas, das auf den Straßen lag. «Das ist keine jüdische Krise», schrieb Dorothy Thompson. «Es ist eine menschliche Krise.»[136] Es war, als wäre der Himmel selbst zertrümmert worden.
Roosevelt ließ aus dem Weißen Haus verlauten, dass er «kaum glauben könne, dass solche Dinge in einer Kultur des 20. Jahrhunderts geschehen konnten».[137] Es war tatsächlich kaum zu glauben. Aber ein Krieg der Welten hatte begonnen.