GALBRAITH WAR NICHT GLÜCKLICH über die Wohlstandsgesellschaft. Er hielt sie für selbstgefällig und blasiert und für allzu bereit, Armut als unvermeidlich hinzunehmen. Die wohlhabende Gesellschaft war eine ziellose Gesellschaft, dachte er. Er forderte höhere Steuern für den Bau besserer Krankenhäuser, Schulen und Straßen, um so den öffentlichen Sektor zu reparieren. Die Amerikaner zuckten mit den Schultern und schalteten ihre Fernsehgeräte ein. Doch unter dem fröhlichen Gurgeln der laufenden Kaffeemaschine war ein dumpfes Dröhnen der Verzweiflung zu hören. Es begann mit der Furcht vor den Gefahren des Wohlstands: Trägheit, Geschmacklosigkeit und Ziellosigkeit. «Wir sind unglaublich wohlhabend geworden und handeln gedankenlos in einem Stumpfsinn aus Fett», klagte der Historiker Eric Goldman. Ein Journalist bezeichnete die 1950er Jahre als «das Zeitalter des Schlampers». Es war auch das Zeitalter des Snobs. Dwight Macdonald beklagte auf eine denkwürdige Art den Aufstieg der abgepackten, kartonierten und mit Preisschildern versehenen Massenkultur für den Durchschnittsgeschmack – «Massenkult», nannte er es, als würde es sich um einen Softdrink handeln –, vor allem in Form von anspruchslosen Taschenbuchromanen und billigen Fernsehshows, die von Medienunternehmen für die zahlreicher werdende Mittelschicht in den Vorstädten produziert wurden und nicht nach Kriterien des Geschmacks, sondern nach Verkaufszahlen und Ratings bewertet wurden. Kunst ist die Schöpfung von Einzelpersonen im Rahmen von Gemeinschaften, sagte Macdonald; die Kultur für den Durchschnittsgeschmack sei ein Produkt, das für die Massen hergestellt und verpackt werde. «Massenkultur ist auf eine neue Art schlecht», schrieb Macdonald. «Sie hat nicht einmal die theoretische Möglichkeit, gut zu sein.»[13]
Nach Nixons Rückkehr aus Moskau gab die Regierung Eisenhower einen neuen Entschluss bekannt: einen nationalen Daseinszweck ausfindig zu machen. «Das Jahr 1960 war eine Zeit, als die Amerikaner ihren nationalen Daseinszweck nicht mehr als gegeben ansahen und an ihm zu arbeiten begannen», berichtete Life. Eisenhower ernannte zehn herausragende Männer – Politiker und Zeitungsherausgeber, führende Vertreter aus der Wirtschaft und den Gewerkschaften sowie Präsidenten von Universitäten und Wohltätigkeitsorganisationen – zu Mitgliedern einer Commission on National Goals (Kommission zur Bestimmung nationaler Ziele) und bat diese Kommission um die Formulierung einer Reihe von Zehnjahreszielen für die Vereinigten Staaten. Eine verblüffende Messgröße für die künstliche Natur des liberalen Konsenses jener Zeit: Die Kommission bestand ausnahmslos aus weißen Männern, die älter als 45 Jahre waren.[14] Doch die von der Kommission formulierten Ziele sollten vor allem von schwarzen Collegestudenten gelenkt werden, die ab 1960 – und ohne ein Expertenkomitee von herausragenden Männern – die Bürgerrechte zum Daseinszweck der Nation machten.
Am Montag, dem 1. Februar 1960, zwei Tage bevor Eisenhower die Namen der Mitglieder seiner Commission on National Goals bekanntgab, weigerten sich vier Erstsemesterstudenten des North Carolina A&T College in Greensboro, North Carolina, von ihren Stühlen an der Imbisstheke eines die Rassentrennung praktizierenden Restaurants in einer Woolworth-Filiale aufzustehen. Ihr Sit-in war nicht das erste – allein in den vergangenen drei Jahren hatte es Sit-ins in 16 Städten gegeben –, aber es war das erste, das nationale Aufmerksamkeit erregte. Die vier Studenten riefen an jenem Abend den NAACP-Rechtsanwalt Floyd McKissick an, der bei der Verbreitung der Nachricht half. Am nächsten Tag gingen sie, begleitet von Freunden, wieder zu Woolworth; am Tag darauf kamen noch mehr Menschen. Sie wechselten sich ab, saßen in Schichten auf Stühlen aus Plastik und Chrom. Sie richteten eine Kommandozentrale ein und hielten sich auf dem Laufenden über Pläne für Solidaritäts-Sit-ins, die in Durham und Raleigh vorbereitet wurden. Allein am Sit-in in Greensboro beteiligten sich am Ende der Woche mehr als 400 Studenten. Die Bewegung breitete sich auf Tennessee und anschließend über den ganzen Süden aus, nach Georgia, West Virginia, Texas und Arkansas. Im März erreichte sie 40 weitere Städte. Innerhalb weniger Monate hatten sich ihr 50.000 Studenten angeschlossen. Hunderte von ihnen wurden in Nashville verhaftet. In South Carolina ging die Polizei mit Tränengas und Wasser aus Feuerwehrschläuchen gegen die Demonstranten vor und verhaftete fast 400 Menschen. Selbst Studenten, die an der Philosophie des gewaltfreien Protests zweifelten, erkannten jetzt allmählich seine Macht, wenn Fotografen pöbelnde Weiße im Bild festhielten, die ruhig an der Imbisstheke sitzende Collegestudenten mit Milch übergossen und Ketchupflaschen über ihren Köpfen ausdrückten, oder wütende Polizisten in Schutzmontur, die die Demonstranten mit Knüppeln schlugen oder sie über Bürgersteige schleiften. Der Protest der Studenten fand sogar die Bewunderung einiger hartgesottener Verfechter der Rassentrennung unter den Zeitungsredakteuren im Süden, zu denen auch der Chefredakteur des Richmond News Leader gehörte:
Hier waren die farbigen Studenten, in Mänteln, weißen Hemden, Krawatten, einer von ihnen las Goethe, und einer machte sich Notizen zu einem Biologietext. Und hier draußen auf dem Bürgersteig stand eine Bande von weißen Burschen, die gekommen waren, um dazwischenzurufen, ein bunt zusammengewürfelter Mob, mit offenem Mund und schwarzen Jacken, grinsend und zum Töten bereit, und einige von ihnen, mit Verlaub zu sagen, schwenkten die stolze und ehrenhafte Fahne der Südstaaten im letzten Krieg, der von Gentlemen ausgetragen wurde. Eheu! Das lässt einen innehalten.
Ella Baker, amtierende Direktorin der SCLC, lud die Führer der Studenten zu einem Koordinationstreffen ein, das am Osterwochenende im April stattfand. Baker, 1903 in Virginia geboren, hatte lange Zeit für die NAACP gearbeitet, als Field Secretary ab 1938 und anschließend, in den 1940er Jahren, als Direktorin von Ortsgruppen im ganzen Süden, wo sie, neben vielen anderen Projekten, auch an der Kampagne für gleiche Bezahlung für schwarze Lehrer mitwirkte. Sie wechselte dann 1958 zur SCLC, für die sie in Atlanta eine Kampagne zur Eintragung in die Wählerlisten leitete, die als Crusade for Citizenship bekannt wurde, doch die relativ geringe Beachtung, die Prediger im Süden der Wahlrechtsfrage schenkten, hatte sie frustriert, und sie empfand Martin Luther King jr. als «zu ichbezogen und vorsichtig». Als die SCLC Baker 1960 dazu bewegen wollte, die Studenten zu umwerben, damit sie der Organisation als Nachwuchsabteilung beitraten, weigerte sie sich und drängte die Studenten stattdessen, ihre eigene Organisation zu gründen. «Sie sagte nicht ‹Lasst euch nicht von Martin Luther King vorschreiben, was zu tun ist›», berichtete Julian Bond später, «aber man bekam wirklich das Gefühl, dass sie das meinte.» Die Studenten distanzierten sich sowohl von der NAACP als auch von der SCLC, die viele von ihnen insgesamt als zu konservativ empfanden, und gründeten das Student Nonviolent Coordinating Committee (SNCC). Sie stellten eine Armee auf; ihre Waffe war die gewaltfreie direkte Aktion. Baker verließ die SCLC, um sich ihnen anzuschließen.[15]
Als Eisenhowers zehn prominente Kommissionsmitglieder im Spätjahr 1960 ihren Bericht ablieferten, war darin zu lesen, dass «Diskriminierung aufgrund von Rassenzugehörigkeit als moralisch falsch, wirtschaftlich verschwenderisch und in vielerlei Hinsicht als gefährlich betrachtet werden muss»; die Kommission forderte ein aktives Handeln der Bundesregierung zur Stärkung des Wahlrechts; sie verlangte ein Ende jeglicher Subventionen für Arbeitgeber, die auf der Grundlage von Rassenzugehörigkeit diskriminierten; und sie bestand darauf, dass die Rassentrennung im Bildungswesen dringend beendet werden müsse.[16] Der Abschlussbericht wurde zwar erst nach der Präsidentschaftswahl im November veröffentlicht, doch die wichtigsten Ergebnisse wurden vorab publik gemacht, und mehr als nur ein Beobachter stellte fest, dass der Bericht zwar im Auftrag des von Republikanern geführten Weißen Hauses erarbeitet worden war, aber sehr gut zu den Wahlkampfversprechen von John F. Kennedy passte, dem Präsidentschaftskandidaten der Demokraten. «Lägen nicht zahllose Beweise dafür vor, dass Senator Kennedy in letzter Zeit vollauf mit anderen Dingen beschäftigt war, würde man schwören, dass er das Dokument verfasst hat», kommentierte der CBS-Journalist Howard K. Smith.[17]
Bis zu jenem Herbst hatte es für den Präsidentschaftskandidaten Kennedy, den forschen irischen Katholiken aus Boston, nicht besonders rosig ausgesehen. Die Liberalen misstrauten ihm wegen seines Schweigens zum McCarthyismus, und nur wenige hatten großes Vertrauen zu ihm. Der 43 Jahre alte Kennedy war jung und unerfahren. Lyndon Johnson nannte ihn «den Jungen».
Doch Kennedy setzte sich durch, nicht zuletzt deshalb, weil er der erste geschickt verpackte, am Markt getestete Präsident war, Liberalismus für den Massenkonsum. Das Democratic National Committee, um eine Einschätzung der möglichen Präsidentschaftskandidaten wie auch des eigenen Wahlprogramms bemüht, aber im Umgang mit der Bürgerrechtsfrage unsicher, wandte sich einem neuen Arbeitsgebiet zu, der sogenannten «Datenwissenschaft» («data science», der Begriff wurde 1960 geprägt). Von ihr erhoffte man sich eine Vorhersage der Konsequenzen verschiedener Herangehensweisen an das Problem durch Computersimulationen von Wahlen. Zu diesem Zweck hatte das DNC 1959 die Simulmatics Corporation engagiert, ein von Ithiel de Sola Pool, einem Politologen am MIT, gegründetes Unternehmen. Pool und sein Team beschafften sich alte Lochkarten aus den Archiven George Gallups und des Meinungsforschers Elmo Roper, die Rohdaten von mehr als 60 Meinungsumfragen, die während der Wahlkämpfe von 1952, 1954, 1956, 1958 und 1960 vorgenommen worden waren, und fütterten damit den UNIVAC. Mit Hochgeschwindigkeitsdatenverarbeitung und «einem aus historischen Daten entwickelten Simulationsmodell» wollte Pool das Messen der öffentlichen Meinung und die Vorhersage von Wahlergebnissen voranbringen sowie beschleunigen. «Diese Art von Forschung wäre vor zehn Jahren noch nicht möglich gewesen», teilten Pool und seine Kollegen mit.
Poole teilte die Wählerschaft in 480 mögliche Typen ein und erklärte dazu: «Ein einzelner Wählertyp könnte sein: ‹Östlich, Metropolenbewohnerin, niedriges Einkommen, weiß, katholisch, weibliche Demokraten›. Ein anderer könnte sein: ‹Grenzstaat, ländliches Umfeld, gehobenes Einkommen, weiß, protestantisch, männliche Independents.›» Er teilte Themen und Streitfragen in 52 Cluster auf: «Die meisten davon waren politische Fragen, zum Beispiel Auslandshilfe, die Einstellung zu den Vereinten Nationen und der McCarthyismus», erklärte er. «Zu den anderen sogenannten ‹Themen-Clustern› gehörten so vertraute Indikatoren der öffentlichen Meinung wie ‹Welche Partei passt besser zu Menschen wie Ihnen?›»[18]
Die Arbeit von Simulmatics, die in den 1960er Jahren fortgesetzt wurde, markierte den Beginn einer neuen Branche, deren Folgen für die amerikanische Demokratie mindestens einen von Pools Kollegen alarmierte, den Politikwissenschaftler und Romanautor Eugene Burdick. Burdick war durch den gemeinsam mit William Lederer verfassten, 1958 erschienenen Bestseller The Ugly American und den 1962 veröffentlichten Roman Fail-safe (Co-Autor war hier Harvey Wheeler, Sidney Lumet verfilmte das Buch ein Jahr später) berühmt geworden. Burdick brachte einen weiteren Roman heraus, The 480, der die Arbeit von Simulmatics zum Thema hatte, eine fiktionale Darstellung des Geschehens, das der Autor als «eine Unterwelt, die es gut mit uns meint», bezeichnete:
Es ist nicht die Unterwelt der zigarrenkauenden, dickbäuchigen Funktionäre, die auf undurchsichtige Weise «den Apparat kontrollieren». Zwar trifft man gelegentlich noch auf Leute dieser Sorte, aber ihre Macht schwindet dahin. Sie sind zum Aussterben verurteilt – auch wenn sie das selber noch nicht gemerkt haben. Die neue Unterwelt rekrutiert sich aus Leuten mit reinem Gewissen und den lautersten Absichten. Bei ihrer Arbeit hantieren sie mit Rechenschiebern und Rechenmaschinen; sie bedienen sich der Hilfe von Computern, die eine fast grenzenlose Zahl von Daten nicht bloß zu speichern, sondern auch zu ordnen und in ein System zu bringen vermögen und danach in der Lage sind, jede gewünschte Information auf einen einfachen Knopfdruck hin wieder auszuspeien. Die meisten dieser Leute haben eine hervorragende Ausbildung genossen, nicht wenige sind promovierte Fachgelehrte, und von denen, die ich kenne, plant kein einziger irgendeinen böswilligen politischen Anschlag auf das amerikanische Volk. Nichtsdestoweniger werden sie vielleicht einen radikalen Wandel im politischen System der Vereinigten Staaten herbeiführen, einen neuen politischen Stil kreieren und selbst altehrwürdige, geheiligte amerikanische Institutionen nicht unverändert lassen – Zukunftsaussichten, von denen keine Ahnung ihre heitere Seelenruhe trübt. Sie sind Techniker, schöpferische Umgestalter; aber alle wehren sie sich verzweifelt dagegen, etwas anderes zu sein als Wissenschaftler.[19]
Wie Burdick nur allzu deutlich erkannte, lautete die Prämisse der Arbeit von Simulmatics: Wenn sich die Wählerschaft nicht zu Ideologien bekannte, wenn sie von der Bedeutung der Begriffe «liberal» und «konservativ» keine Ahnung hatte, konnte sie dennoch in ideologische Gruppen aufgeteilt werden, und zwar auf der Grundlage ihrer Identitäten – nach Rasse, ethnischer Herkunft, Heimatort, Religion, Alter und Einkommen. Der erste Auftrag von Simulmatics, abgeschlossen unmittelbar vor dem Nationalkonvent der Demokraten, war im Sommer 1960 eine Studie über «das Wahlverhalten der Neger im Norden» (im Süden konnten so wenige schwarze Wählerinnen und Wähler abstimmen, dass sich nach Pools Einschätzung eine Wahlsimulation für diesen Bereich nicht lohnte). Pool berichtete über eine Entdeckung für den Zeitraum von 1954 bis 1956: «Unter den Negern im Norden kam es zu einer kleinen, aber bedeutsamen Verschiebung zugunsten der Republikaner, die die Demokraten etwa ein Prozent der Gesamtstimmenzahl in acht wahlentscheidenden Staaten kostete.» Das DNC, das zweifellos von den emotional sehr wirkungsvollen studentischen Sit-ins beeinflusst worden war, nahm den Simulmatics-Bericht auf und beschloss beim Parteikonvent in Los Angeles im Juli 1960, dem Wahlprogramm der Demokraten Passagen zu den Bürgerrechten hinzuzufügen.[20]
Bürgerrechte hatten nicht zu den Prioritäten des Senators Kennedy gehört. Doch die Proteste und die Vorhersagen veranlassten ihn zu einer Kursänderung. Da Kennedy die Stimmen der Schwarzen im Norden und die der Weißen im Süden für sich gewinnen musste, beschloss er, sich als Kandidat zu präsentieren, der sich für Bürgerrechte einsetzte, um die Nordstaatler zu umwerben, und entschied sich für Lyndon Johnson als Running Mate in der Hoffnung, dass der Texaner mit den Südstaatlern umgehen konnte.
Das DNC fand den ersten Simulmatics-Bericht so erhellend, dass es nach dem Konvent drei weitere Berichte bei Pool in Auftrag gab: zu Kennedys Image, zu Nixons Image und zur Außenpolitik als Wahlkampfthema. Simulmatics spielte auch Simulationen zu verschiedenen Varianten durch, wie Kennedy über seinen Katholizismus sprechen könnte. Das Unternehmen riet, er solle «Offenheit und Direktheit und kein Vermeidungsverhalten» praktizieren.[21] Kennedy hielt deshalb am 12. September 1960 in Houston eine Rede der offenen und direkten Art: «Ich glaube an ein Amerika, in dem die Trennung von Kirche und Staat absolut ist – in dem kein katholischer Prälat dem Präsidenten (sollte er Katholik sein) sagt, was zu tun ist, und kein protestantischer Geistlicher seine Gemeindeglieder anweist, für wen sie stimmen sollen.»[22]
Nixon sicherte sich unterdessen, ohne viel Unterstützung durch Eisenhower, der ihn brüskierte, die Nominierung bei den Republikanern. Campaigns, Inc., organisierte seinen Wahlkampf in Kalifornien. «Wichtig ist vor allem, in die Offensive zu gehen und anzugreifen», hieß es im Wahlkampfplan des Unternehmens, das Nixon empfahl, «die liberalen Demokraten» außer Acht zu lassen, «die auch dann nicht für Nixon stimmen würden, wenn er bei einer Séance mit Eleanor Roosevelt die gemeinsame persönliche Unterstützung von Jesus Christus und Karl Marx erhalten würde». Nixon willigte ein, mit einem solchen Angriffsgeist in eine Reihe von geplanten Fernsehdiskussionen mit Kennedy zu gehen. 1959 hatte Adlai Stevenson darauf gedrängt, den Präsidentschaftswahlkampf «in eine große Debatte umzuwandeln, die vor aller Augen ausgetragen wird». Doch es war Kennedy – ein Mann, der von einem angesehenen Kolumnisten als «Stevenson mit Schneid» bezeichnet wurde –, der das in die Tat umsetzte.[23]
Nixon und Kennedy trafen am 26. September 1960 in einem kahlen CBS-Studio in Chicago zusammen, ohne Publikum; das Ereignis wurde von CBS, NBC und ABC live übertragen. Zu diesem Zeitpunkt besaßen knapp neun von zehn amerikanischen Haushalten ein Fernsehgerät. Nixon war krank; er hatte zwölf Tage im Krankenhaus gelegen. Er hatte Schmerzen. Und er war unvorbereitet. Er war ein geschickter Debattenredner, der aus seinen bisherigen Fernsehauftritten durchweg politischen Nutzen gezogen hatte, vor kurzem auch noch aus der Moskauer Küchendebatte, aber auf seinen Auftritt mit Kennedy hatte man ihn kaum vorbereitet.[24]
Die Regeln für dieses Zusammentreffen waren das Ergebnis mühsamer Verhandlungen. Allein schon der Termin verlangte dem Kongress die befristete Aussetzung einer FCC-Bestimmung ab, nach der allen Präsidentschaftskandidaten (es gab Hunderte) gleich viel Sendezeit zustand. Über vermeintliche Kleinigkeiten wurde ausgiebig verhandelt. Nixon wollte keine Bilder, die Reaktionen zeigten, er wollte, dass die Zuschauer nur den jeweils Redenden zu sehen bekamen, nicht aber sein Gegenüber. Kennedy hingegen wollte das, und Kennedy setzte sich durch, mit diesem Zugeständnis: Er stimmte Nixons Vorschlag zu, dass keiner der Männer gezeigt werden sollte, wie er sich den Schweiß aus dem Gesicht wischte. Und dann gab es noch bedeutsamere Fragen. Jeder Kandidat erhielt acht Minuten Zeit für eine Stellungnahme zum Auftakt und drei Minuten für ein Schlusswort. Die Sender wollten, dass Nixon und Kennedy sich gegenseitig Fragen stellten; beide Männer weigerten sich und bestanden darauf, nur Fragen eines Teams von Reportern entgegenzunehmen, für das jeder Sender eine Person abstellte, sie wählten also ein Verfahren, das auch als «parallele Pressekonferenz» bezeichnet wird. Der Sender ABC weigerte sich, das, was an jenem Abend über die Bühne ging, als «Debatte» zu bezeichnen, und sprach stattdessen von einem «gemeinsamen Auftritt». Alle anderen Beteiligten nannten es eine Debatte, 66 Millionen Amerikaner sahen Nixons finstere Miene, und die unzutreffende Bezeichnung blieb hängen.[25]
Am 19. Oktober, zwei Tage vor der letzten von vier geplanten Fernsehdebatten der Kandidaten, wurde Martin Luther King jr. in Atlanta bei einem Sit-in an einer Imbisstheke verhaftet. Er hatte lange abgewartet, bis er sich an den Sit-ins beteiligte. Aber jetzt war er dabei und wurde zu vier Monaten Zwangsarbeit verurteilt. Kennedy rief Kings Frau Coretta Scott King an. Sein Bruder Robert intervenierte, und King wurde aus dem Gefängnis entlassen. Nixon, der bis dahin in der Bürgerrechtsfrage viel aktiver gewesen war als Kennedy, unternahm nichts. Er gelangte später zu der Überzeugung, dass ihn dies bei einem der knappsten Wahlausgänge der amerikanischen Geschichte den Sieg gekostet hatte. Kennedy gewann um Haaresbreite, mit 34.221.000 gegen 34.108.000 Stimmen.
Nixon war außerdem der Überzeugung, dass das Ergebnis manipuliert worden war, und er könnte sogar Recht gehabt haben: In Illinois und Texas scheint es zu Wahlbetrug vonseiten der Demokraten gekommen zu sein. Die 13-jährige Young Republican Hillary Rodham meldete sich damals freiwillig für die Suche nach Beweisen für Betrug in Chicago. «Wir haben gewonnen, aber sie haben uns den Sieg gestohlen», sagte Nixon.[26]
Nixon gab den Demokraten die Schuld. Er gab den schwarzen Wählern die Schuld. Vor allem aber gab er der Presse die Schuld.
DER JÜNGSTE MANN, der jemals zum Präsidenten gewählt wurde, John F. Kennedy, folgte auf den bis dahin ältesten Amtsinhaber. Mit der Hand auf einer Bibel, die von seinen irischen Vorfahren über den Ozean mitgebracht worden war, ähnelte er eher einem Hollywoodstar als irgendeinem der bisherigen Männer im Oval Office. Er trug keinen Mantel, und in der Eiseskälte war jeder seiner Atemzüge sichtbar, als er am 20. Januar 1961 in seiner Inaugurationsrede den Beginn eines neuen Zeitalters ankündigte: «Die Fackel ist an eine neue Generation von Amerikanern übergeben worden – geboren in diesem Jahrhundert, geläutert durch Krieg, geformt durch einen kalten und bitteren Frieden, stolz auf unser überkommenes Erbe.»[27]
Kennedy hatte diese Fackel von Eisenhower übernommen. Drei Tage vor Kennedys Amtseinführung hatte Eisenhower eine Abschiedsrede gehalten, die auch eine unheilvolle Warnung zum Rüstungswettlauf zwischen den USA und der Sowjetunion enthielt: «Unsere Regierungsstellen müssen vor jedem übermäßigen gewollten oder unbeabsichtigten Einfluss vonseiten des militärisch-industriellen Komplexes auf der Hut sein», sagte er. «Nur eine wachsame und aufgeklärte Bürgerschaft kann die richtige Verknüpfung einer riesigen industriellen und militärischen Verteidigungsmaschinerie mit unseren friedlichen Methoden und Zielen erzwingen, auf dass Sicherheit und Freiheit zusammen gedeihen können.» Kennedy nahm in seiner Inaugurationsrede diesen Gedanken seines Vorgängers auf: «Zwei große und mächtige Gruppen können in ihrem gegenwärtigen Kurs keine Beruhigung und Befriedigung finden, da beide Seiten durch die Kosten moderner Waffen überlastet sind, da beide zu Recht über die stetige Ausbreitung des tödlichen Atoms beunruhigt sind und doch beide danach trachten, dieses schwankende Gleichgewicht des Schreckens zu ändern, das den Zeiger des letzten Krieges der Menschheit aufhält.»[28]
Eine der ersten Amtshandlungen der Regierung Kennedy war die Gründung des Peace Corps im März 1961. Doch im Verlauf einer Amtszeit, die mit Hoffnungen begann und mit einer Tragödie endete, führte Kennedy die Nation nicht auf einen Weg zum Frieden, sondern in den Krieg. Kennedy war entschlossen, im weltweiten Kampf zwischen Kommunismus und Kapitalismus die noch verbliebenen Länder der Dritten Welt für die eigene Seite zu gewinnen, selbst wenn dies nur nominell, ohne Überzeugung geschah.[29]
Kennedy war 1951, damals bereits mit der Perspektive, für den Senat zu kandidieren, zusammen mit seinem Bruder Bobby sieben Wochen lang durch Asien und den Nahen und Mittleren Osten gereist, und dabei hatten sie auch in Vietnam Station gemacht. Vietnam, das lange unter französischer Kolonialherrschaft gestanden hatte und ab 1940 von Japan besetzt worden war, hatte unter der Führung des kommunistischen Revolutionärs Ho Chi Minh – des Mannes, der sich 1919 bei der Friedenskonferenz von Paris um ein Treffen mit Präsident Wilson bemüht hatte – am Ende des Zweiten Weltkriegs seine Unabhängigkeit erklärt, doch Frankreich hatte mit einem Feldzug zur Wiederherstellung seiner Kolonialherrschaft reagiert. Die Vereinigten Staaten beobachteten die Ausbreitung des Kommunismus in Südostasien mit großer Sorge, in erster Linie aus ideologischen Gründen, aber auch geopolitische und wirtschaftliche Faktoren spielten dabei eine Rolle. China und die UdSSR befanden sich einfach in der besten Ausgangsposition, wenn es darum ging, in Südostasien, wo 170 Millionen Menschen lebten, den eigenen Einfluss geltend zu machen, aber jedes südostasiatische Land, das zu einem Teil des kommunistischen Machtblocks wurde, bedeutete einen Verlust an Handelsvolumen für Japan, das bereits seine Handelsbeziehungen zum ehemals größten Handelspartner China verloren hatte. Die Vereinigten Staaten lenkten im Bemühen, in diesem Teil der Welt selbst Einfluss auszuüben, ihre Auslandshilfe von Europa nach Asien und Afrika um. Von 1949 bis 1952 flossen drei Viertel der amerikanischen Auslandshilfe nach Europa; von 1953 bis 1957 gingen drei Viertel in die Dritte Welt, 1962 stieg dieser Anteil auf neun Zehntel. Als Indochina sich daranmachte, die französische Kolonialherrschaft zu stürzen, unterstützten die Vereinigten Staaten Frankreich. In der Nachkriegszeit waren die Vereinigten Staaten wegen Roosevelts energischer Gegnerschaft zum Kolonialismus noch sehr bewundert worden; ihre Unterstützung für Frankreich führte zu einem wachsenden Antiamerikanismus. Frankreich verlor 1954 den Krieg. Ein Waffenstillstandsabkommen teilte das unabhängige Vietnam entlang des 17. Breitengrads. Ho Chi Minh und die Kommunistische Partei kamen im Norden des Landes an die Macht, der von den USA unterstützte katholische Nationalist Ngo Dinh Diem im Süden. Südvietnam wurde ab 1955 zum Schauplatz des weltgrößten Experiments zum Aufbau eines Staates, eine Polizeitruppe und Mitarbeiter des Verwaltungs- und Staatsapparats wurden ausgebildet, Brücken, Straßen und Krankenhäuser gebaut, alles unter Beratung durch die Vietnam Advisory Group der Michigan State University.[30]
Kennedy gehörte zu der Gruppe von Senatoren, die 1958 allen Kolleginnen und Kollegen ein Exemplar von Burdicks und Lederers Roman The Ugly American zukommen ließen; er erzählte die Geschichte der im fiktiven asiatischen Land Sarkhan stationierten amerikanischen Diplomaten und Militärs, die sich in einem Morast aus Missverständnissen und Scheitern verirrten. In einem «dokumentarischen Epilog» berichteten Lederer und Burdick von einer «anschwellenden Flut des Antiamerikanismus» und vertraten die Ansicht, dass die Vereinigten Staaten kaum darauf hoffen konnten, politischen Einfluss auszuüben, wenn die amerikanischen Botschafter in Asien nicht einmal die jeweilige Landessprache beherrschten. «In der gesamten arabischen Welt – in neun verschiedenen Nationen – verfügen nur zwei Botschafter über Sprachkenntnisse des jeweiligen Landes. In Japan, Korea, Burma, Thailand, Vietnam, Indonesien und anderswo müssen unsere Botschafter ihre Gespräche mit Dolmetschern führen.»[31]
Burdicks und Lederers Warnung zum Trotz erhöhte die US-Regierung ihr Engagement, als Ende der 1950er Jahre in Südvietnam ein kommunistischer Aufstand begann. Viele Menschen in Vietnam sahen die 1500 amerikanischen Wissenschaftler und Berater in Südvietnam als frühes Signal dafür, dass die Vereinigten Staaten anstrebten, Vietnam unter ihre eigene Kolonialherrschaft zu bringen, auch wenn die amerikanische Militärpräsenz im Jahr 1960 aus lediglich 685 amerikanischen Soldaten bestand.[32]
Kennedy sah Vietnam durch die Brille von Modernisierungsplänen, wie sie von Intellektuellen und ganz besonders vom MIT-Professor Walt Rostow favorisiert wurden, dessen Buch Stages of Economic Growth (1960) mithalf, Kennedy davon zu überzeugen, mehr Ressourcen für Vietnam aufzubieten. Rostows MIT-Freund und -Kollege Ithiel de Sola Pool, der zu Kennedys Wahlerfolg beigetragen hatte, wandte sich jetzt dem Projekt zu, die Simulmatics-Instrumente für die Modernisierung Südvietnams einzusetzen. Pool war überzeugt, dass ein mit genügend Datenmaterial gefütterter Computer ein gesellschaftliches und politisches System vollständig simulieren konnte, und sollte sich schließlich einen von der ARPA vergebenen 24-Millionen-Dollar-Vertrag für ein auf viele Jahre angelegtes Forschungsprojekt in Vietnam sichern.[33] Mit der «Modernisierung» Südvietnams war der Bau von Straßen und Flugplätzen gemeint. Aber um die Sicherheit dieser Straßen und Flugplätze zu garantieren, mussten Soldaten ausgebildet und entsandt werden, weil die Südvietnamesen in einen Krieg mit Nordvietnam verstrickt waren. Ende 1963, nach der Ermordung Ngo Dinh Diems bei einem von den USA gebilligten Staatsstreich, zu dem es nur drei Wochen vor Kennedys Ermordung kam, waren bereits 16.000 amerikanische Soldaten in Vietnam stationiert. Der Auftrag dieser Männer lautete jetzt, den Krieg zu gewinnen.[34]
Die Kennedy-Regierung geriet unterdessen bei einer sich fast zur Katastrophe ausweitenden Konfrontation mit Kuba an den Rand eines Atomwaffeneinsatzes. Eisenhowers Regierung hatte einen Plan entwickelt, mit dem die Vereinigten Staaten eine Invasion von Castro-Gegnern auf Kuba unterstützen wollten. Kennedy billigte diesen Plan, doch Castros Armee stoppte diese in der Schweinebucht auf Kuba gelandete Streitmacht im April 1961. Im darauffolgenden Sommer entdeckten amerikanische U2-Flugzeuge, die Kuba überflogen, ballistische Raketen, mit denen Ziele in den Vereinigten Staaten erreicht werden konnten. Chruschtschow hatte sie geschickt, es war sein jüngster Schachzug im weltweit ausgetragenen Spiel des Kalten Krieges. Kennedy enthüllte am 22. Oktober 1962 in einer Fernsehansprache die Existenz dieser Raketen und plädierte für Gegenmaßnahmen. «Die 1930er Jahre haben uns eine eindeutige Lehre erteilt», sagte er, «aggressives Verhalten führt, wenn es nicht gestoppt und wenn ihm nicht entgegengetreten wird, letztlich zum Krieg.» Die US-Marine werde eine Seeblockade gegen Kuba errichten. «Es wird die Politik dieser Nation sein, jeden Angriff mit Atomraketen, der von Kuba aus gegen irgendein Land der westlichen Welt unternommen wird, als einen Angriff der Sowjetunion auf die Vereinigten Staaten zu betrachten, der einen umfassenden Vergeltungsangriff auf die Sowjetunion nach sich zieht.» Zwei Tage später machten 16 von 19 sowjetischen Schiffen, die Kurs auf den amerikanischen Seeblockadering genommen hatten, wieder kehrt. Der sowjetische Regierungschef sandte daraufhin dem Weißen Haus zwei völlig verschiedene Nachrichten: Die eine sagte den Abzug der Raketen aus Kuba zu, falls die Vereinigten Staaten die Blockade beendeten; die andere sagte etwas Ernsteres. Kennedy, den seine Berater drängten, die zweite Nachricht zu ignorieren, antwortete auf die erste Nachricht. Chruschtschow sagte den Abzug der Raketen zu.[35]
Konfrontationen, für die der Kalte Krieg im Ausland sorgte, bildeten wie immer den Hintergrund für die Auseinandersetzungen um die Bürgerrechte im eigenen Land. Der Congress on Racial Equality (CORE) wollte die Garantie der US-Regierung für eine Aufhebung der Rassentrennung im Transitverkehr zwischen den Bundesstaaten überprüfen und schickte 13 geschulte Freiwillige, sieben Schwarze und sechs Weiße – die Freedom Riders –, mit zwei Bussen in und quer durch den Deep South. Die Freiwilligen waren mehrheitlich Studenten, wie John Lewis, ein Theologiestudent, der zwar entschlossen war, seine Ausbildung zu beenden, andererseits aber bekannte, dass «die Menschenwürde zu diesem Zeitpunkt das wichtigste Anliegen in meinem Leben ist». Sie verließen Washington, DC, am 4. Mai 1961. Zwei Tage später hielt der 35 Jahre alte Robert Kennedy, der Bruder des Präsidenten, an der University of Georgia seine erste öffentliche Rede im Amt des Justizministers und warf den Befürwortern der Rassentrennung den Fehdehandschuh hin. «Wir werden handeln. … Sie werden vielleicht fragen, ob wir die Bürgerrechtsgesetze durchsetzen werden. Die Antwort lautet: ‹Ja, das werden wir.›»[36]
Dieses Versprechen wurde schon bald auf die Probe gestellt. Acht Tage später attackierte ein weißer Mob in Anniston, Alabama, den Greyhound-Bus, mit dem eine Gruppe der Freedom Riders unterwegs gewesen war, zertrümmerte die Fenster, schlitzte die Reifen auf und zündete das Fahrzeug schließlich an. «Wir verbrennen sie bei lebendigem Leib», brüllte der Mob. Die Buspassagiere kamen nur knapp mit dem Leben davon. Eine Ku-Klux-Klan-Meute erwartete den zweiten Bus bei dessen Ankunft an einem Trailways-Busbahnhof in Birmingham. Robert Kennedy ordnete an, die Riders, die schwer misshandelt worden waren, zu evakuieren. Doch CORE beschloss, noch mehr Freiwillige zu entsenden – Studenten aus Nashville. Eugene «Bull» Connor, der Chef der Polizeibehörde von Birmingham, hielt seine Leute bereit, als die Riders am Busbahnhof eintrafen, und ließ sie verhaften und ins Gefängnis sperren, bevor sie in den Bus einsteigen konnten – dort wurden sie ohne Anklage festgehalten –, während der Bundesstaat Alabama die Bundesregierung zum Handeln herausforderte.
«Wie du weißt, verschlechtert sich die Lage in Alabama», berichtete der Justizminister dem Präsidenten. Er brachte den Präsidenten dazu, den Gouverneur von Alabama anzurufen, den Demokraten John Patterson, der JFK 1960 im Wahlkampf unterstützt hatte. Doch Patterson verweigerte in einem schockierenden Akt der Widersetzlichkeit die Annahme des Gesprächs. Patterson hatte, bevor er Gouverneur wurde, als Justizminister des Bundesstaates versucht, die Tätigkeit der NAACP zu blockieren; ins Amt des Gouverneurs war er 1958 mit Unterstützung des Ku-Klux-Klans gelangt. Robert Kennedy schickte einen Bevollmächtigten nach Montgomery, der mit dem Gouverneur sprechen sollte. «Niemand im ganzen Land hat das Rückgrat, den verdammten Niggern die Stirn zu bieten, niemand außer mir», sagte Patterson zu dem Mann vom US-Justizministerium. Als dieser ihm ankündigte, der Präsident werde Bundestruppen schicken, wenn der Staat Alabama die Freedom Riders nicht schütze, sagte der Gouverneur widerwillig eine Polizeieskorte für die Fahrt des Busses von Birmingham nach Montgomery zu. Doch als der Bus am Busbahnhof von Montgomery ankam, wartete dort bereits ein weiterer Mob. John Lewis, der erste Passagier, der den Bus verließ, begann zu den zahlreichen anwesenden Reportern und Fotografen zu sprechen, hielt aber sofort inne. «Das sieht nicht gut aus», flüsterte er einem Mitfahrer zu. Bürgerwehrleute, die sich im Busbahnhof verborgen gehalten hatten, tauchten plötzlich auf, begannen auf die Journalisten einzuschlagen und stürzten sich auf die Riders, griffen sie mit Eisenrohren und bloßen Fäusten an und schlugen ihnen ihre eigenen Koffer auf den Kopf. Als die schwer misshandelten und provisorisch medizinisch versorgten Freedom Riders und 1500 Schwarze sich in der First Baptist Church in unmittelbarer Nähe des Alabama State Capitols versammelten, um dort zu beraten, was als nächstes zu tun sei, umzingelten 3000 Weiße die Kirche, die schließlich von der Nationalgarde Alabamas vertrieben wurden. Die Freedom Riders beschlossen, weiterzumachen, und fuhren den ganzen Sommer umher.[37]
CORE, das SNCC und Kings Southern Christian Leadership Council drängten weiterhin auf Integration und hielten an der Strategie der Gewaltlosigkeit fest – auch als 400 Freedom Riders in Mississippi verhaftet wurden und Schulkinder im ganzen Süden vor den Türen von Grundschulen geschlagen wurden –, aber sie mussten sich den immer drängenderen Fragen von Aktivisten stellen, die für die Trennung der Rassen waren und die Anwendung von Gewalt befürworteten. Elijah Muhammad, der Gründer und Prophet der Nation of Islam, einer in den 1930er Jahren in Detroit entstandenen muslimischen Bewegung, hatte einen Staat für die Schwarzen gefordert. Malcolm X, sein eloquentester Anhänger, hatte King bereits seit Mitte der 1950er Jahre kritisiert. Er gewann bald darauf ein neues Publikum für sich.
Malcolm Little hatte 1941 ein Kinderheim in Michigan verlassen, um zu seiner Halbschwester nach Boston zu ziehen, und war 1945, im Alter von 20 Jahren, wegen bewaffneten Raubes verurteilt worden. Während seiner sechsjährigen Gefängnishaft konvertierte er zum Islam, beschäftigte sich mit Griechisch und Latein und lernte, wie man debattiert. «Sobald ich mich etwas eingeübt hatte, war ich vom Debattieren begeistert», sagte er.[38] Nach der Haftentlassung auf Bewährung 1952 hatte er in einem Kaufhaus in Detroit gearbeitet und sich zu einem der begabtesten und engagiertesten Anhänger Elijah Muhammads entwickelt. Bei öffentlichen Vorträgen in Detroit hatte er bis zu 4000 Menschen angelockt und, unter Missachtung einer Direktive der Nation of Islam, sich nicht zur Tagespolitik zu äußern (oder sich auch nur in die Wählerliste eintragen zu lassen), die Frage gestellt: «Was wäre die Rolle und die Position des Negers, wenn er ein vollständiges Wahlrecht hätte?» Er hatte auch die Aufmerksamkeit der Presse auf sich gelenkt, nachdem er 1959 in The Hate That Hate Produced, einer fünfteiligen Fernsehdokumentation, in der der CBS-Nachrichtenmann Mike Wallace als Erzähler und der afroamerikanische Fernsehjournalist Louis Lomax als Reporter fungierten, eine prominente Rolle gespielt hatte. (Malcolm X war entsetzt über die Dokumentation, die er als Täuschung in einem Ausmaß empfand, das seiner Ansicht nach geeignet war, Hysterie zu erzeugen, so dass er sie mit Orson Welles’ 1938 gesendeter Bearbeitung von War of the Worlds verglich.) Zu Beginn der 1960er Jahre hatte sich Malcolm X bei einer Reihe von durch Colleges unterstützten Veranstaltungen mit Befürwortern der Rassenintegration auseinandergesetzt. In seiner Eigenschaft als nationaler Sprecher der Nation of Islam diskutierte er 1961 an der Howard University mit Bayard Ruskin und an der Cornell University mit James Farmer, dem Vorsitzenden von CORE. Farmer, der während der Freedom-Rider-Kampagne 40 Tage im Gefängnis gesessen hatte, hob die Bedeutung des gewaltfreien Kampfes hervor. Doch Malcolm X konnte mit dem SNCC und dem CORE nur wenig, am allerwenigsten aber mit der SCLC anfangen. «Jeder Mensch kann sitzen», sagte er gerne. «Zum Stehen braucht es einen Mann.»[39]
Ein nationales Publikum erreichte er erstmals 1962, nachdem Polizisten in Los Angeles sieben Black Muslims erschossen hatten, Mitglieder der Moschee Nr. 27 – einer Moschee, die Malcolm X in den 1950er Jahren ins Leben gerufen hatte –, die Kleidungsstücke aus einer chemischen Reinigung in ein Auto luden. Ronald X Stokes, ein Veteran des Koreakrieges, wurde mit erhobenen Händen erschossen. Malcolm X ordnete als Redner bei einer Kundgebung die Tötungen als rassistisch und nicht religiös begründet ein. «Es ist kein Kampf der Muslime. Es ist ein Kampf des schwarzen Mannes», sagte er.[40]
Viele Stimmen in der schwarzen Gemeinschaft riefen jetzt nach bewaffneter Selbstverteidigung, ein Argument, das im 1962 erschienenen Buch Negroes with Guns vertreten wurde. King, der das Christentum und eine heilige, unverletzliche Demokratie predigte, beklagte, dass die Black Muslims «den Glauben an Amerika verloren» hätten. Gemäßigte Weiße drängten unterdessen SNCC, CORE und SCLC, das Tempo zu drosseln. Bei einer Meinungsumfrage stimmten 74 Prozent der Weißen, aber nur drei Prozent der Schwarzen der Feststellung «Negroes are moving too fast» zu.[41]
Im April 1963 führte King eine Protestaktion in Birmingham an, die Teil einer langfristig geplanten Kampagne in der gewalttätigsten Stadt des Südens war. Seit 1948 hatte es in den Südstaaten mehr als 200 Bombenanschläge auf von Schwarzen genutzte und bewohnte Kirchen und Häuser gegeben, und in keiner anderen Stadt des Südens waren so viele Bomben explodiert wie in Birmingham. King war nach Birmingham gegangen, um sich dort verhaften zu lassen, stellte aber fest, dass die Unterstützung für seinen geplanten Protest nachgelassen hatte. Nachdem führende weiße liberale Geistliche ihn in der Zeitung Birmingham News kritisiert und die Proteste als «verfrüht» («untimely») bezeichnet hatten, schrieb ihnen King aus der Einzelhaft einen Brief. Er begann den Brief auf den Rändern von Zeitungsseiten und setzte ihn auf Zetteln fort, die von Besuchern eingeschmuggelt wurden. Schließlich wuchs er zu einem 20 Seiten umfassenden Text an, einem sehr erfolgreichen Stück amerikanischer politischer Rhetorik und einem Testament für die Dringlichkeit einer Sache.
«Vielleicht ist es für die, die den quälenden Stachel der Rassentrennung nie gespürt haben, leicht, ‹warte› zu sagen», räumte er ein, «aber wenn Sie erlebt haben, wie der brutale Mob Ihre Väter und Mütter, Ihre Brüder und Schwestern nach Laune lyncht und ertränkt; wenn Sie gesehen haben, wie hasserfüllte Polizisten ungestraft Ihre schwarzen Brüder und Schwestern beschimpfen, mit Füßen treten, misshandeln und sogar töten; wenn Sie sehen müssen, wie der weitaus größte Teil ihrer 20 Millionen schwarzen Brüder inmitten einer im Überfluss lebenden Gesellschaft in einem luftdicht abgeschlossenen Käfig der Armut erstickt … – dann werden Sie verstehen, warum es uns so schwer fällt zu warten.»[42]
George Wallace, Alabamas neuer Gouverneur, antwortete sinngemäß, King werde so lange warten müssen, bis die Hölle zufriere. Im Juni 1963 sagte Wallace, er werde persönlich die Tür versperren, falls schwarze Studenten versuchen sollten, den Campus der State University in Tuscaloosa zu betreten.
Der 43 Jahre alte Wallace nahm die Politik mit dem Frühstück, Mittagessen und Abendbrot zu sich; er schlief, atmete und rauchte politisch. Im Alter von 16 Jahren hatte er 1935 als Saaldiener im Senat des Staates gearbeitet. An der University of Alabama war er ein erfolgreicher Boxer und Präsident seines Jahrgangs gewesen. Nach dem Jurastudium hatte er im Krieg im Pazifik bei der Luftwaffe gedient. Er hatte 1946 für den Kongress des Staates kandidiert, im gleichen Jahr, in dem Nixon und Kennedy sich einen Sitz im US-Repräsentantenhaus sicherten. Er war ein loyaler Südstaatler, aber niemals als besonders eifriger Verfechter der Rassentrennung aufgetreten. Als Ersatzdelegierter beim Konvent der Demokraten hatte er sich 1948 dem Protest und Auszug der übrigen Dixiecrats verweigert. Er hatte Stevenson unterstützt. Doch als er 1958 für das Amt des Gouverneurs kandierte, unter dem Motto «Win with Wallace» und von Fahnen der Konföderation flankiert, hatte er die Vorwahl bei den Demokraten gegen Patterson verloren, der sich der Aufhebung der Rassentrennung vehementer widersetzte; angeblich soll Wallace seinen Anhängern daraufhin versprochen haben: «Kein anderer Hurensohn wird mich in der Niggerfrage jemals wieder abhängen». 1962 gewann Wallace dann, mit einem Redenschreiber, der zugleich als Funktionär des Ku-Klux-Klans aktiv war, die Gouverneurswahl mit 96 Prozent der Stimmen. Bei seiner Rede zur Amtseinführung in Montgomery, die zwei Jahre nach Kennedys Amtsantritt in Washington stattfand, stand Wallace im Schatten einer Statue des Präsidenten der Konföderation, der an genau dieser Stelle vereidigt worden war. «Heute habe ich da gestanden, wo einst Jefferson Davis stand, und einen Eid auf mein Volk geschworen», rief Wallace aus. «Und ich sage: Rassentrennung heute, Rassentrennung morgen, Rassentrennung für immer.» Danach traf er sich mit führenden Vertretern des Bildungswesens im Bundesstaat und sagte ihnen: «Wenn Sie der Rassenintegration an Ihren Schulen zustimmen, wird es nicht genug Staatspolizisten geben, um Sie zu schützen.» Als Kennedy im Mai seinen Geburtstag feierte, schenkten ihm seine Mitarbeiter ein paar Boxhandschuhe für den bevorstehenden Kampf mit dem Schwergewichtler aus Alabama.[43] Als jedoch der Tag der Entscheidung kam, der 11. Juni, lenkte Wallace nur drei Stunden nach dem Eintreffen der Nationalgarde ein.
Am Nachmittag jenes Tages telegrafierte King an Kennedy, dass «die Duldsamkeit des Negers möglicherweise an ihre Grenzen stößt». Kennedy, der monatelang nachgedacht hatte, ging in den Kongress, um sich dort mit Abgeordneten zu beraten. Er beschloss, dass die Zeit für eine öffentliche Stellungnahme gekommen war. Am Abend sprach er im Fernsehen zur Nation: «Wenn ein Amerikaner, weil er eine dunkle Hautfarbe hat, nicht in einem öffentlich zugänglichen Restaurant zu Mittag essen kann; wenn er seine Kinder nicht in die besten öffentlichen Schulen schicken kann; wenn er die Bewerber für öffentliche Ämter, die ihn repräsentieren werden, nicht wählen kann; wenn er, kurz gesagt, nicht das erfüllte und freie Leben, das wir uns alle wünschen, genießen kann – wer von uns wäre dann damit zufrieden, die eigene Hautfarbe zu ändern und seinen Platz einzunehmen?» Er sprach über den Militärdienst. «Wenn Amerikaner nach Vietnam oder West-Berlin geschickt werden, fragen wir nicht nur nach Weißen.» Er beschwor die Geschichte. «Einhundert Jahre des Aufschiebens sind vergangen, seit Präsident Lincoln die Sklaven befreit hat, doch ihre Erben, ihre Enkelkinder, sind immer noch nicht vollkommen frei.» Und er bat den Kongress um ein neues Bürgerrechtsgesetz.[44] Einhundert Jahre waren lang genug gewesen. Kennedy würde nicht länger zur Geduld raten.
Bayard Rustin war mit der Planung eines für den August 1963 vorgesehenen Marsches auf Washington beauftragt worden, mit dem an den 100. Jahrestag der Erklärung zur Sklavenbefreiung erinnert werden sollte. Die Kennedy-Regierung hielt, aus Sorge wegen möglicher Gewalt, Soldaten in Alarmbereitschaft. Der District of Columbia hatte zwei Baseballspiele der Washington Senators abgesagt. Rund 300.000 Menschen – die größte Menschenmenge, die jemals zwischen dem Lincoln Memorial und dem Washington Monument zusammenkam – versammelten sich an einem wolkenlosen Sommertag in «diesem drückend heißen Sommer der legitimen Unzufriedenheit des Negers», wie King es ausdrückte. Sie kamen mit dem Bus und mit dem Zug und mit der U-Bahn. Ein junger Mann reiste auf Rollschuhen von Chicago aus an und trug eine Schärpe mit der Aufschrift «Freedom». Aber Rustin hatte den Marsch perfekt organisiert, und als die Veranstaltung zu Ende ging, war es bis dahin nur zu vier Verhaftungen im Umfeld des Marsches gekommen; alle Verhafteten waren Weiße.[45]
Der SNCC-Vorsitzende John Lewis, ein ernster, erst 23 Jahre alter Mann, trat auf der provisorischen Bühne auf den Stufen des Lincoln Memorial ans Mikrofon. Er sagte, er unterstütze die Vorlage für ein Bürgerrechtsgesetz mit großen Vorbehalten, weil es so viele Dinge gebe, die die Bundesregierung bei jeder sich bietenden Gelegenheit versäumt habe. Die Menge geriet jedes Mal in Aufruhr, wenn er den Refrain seiner Rede wiederholte: «Was hat die Bundesregierung getan?»
Fernsehsender, die vorhergehende Reden ausgelassen hatten, klinkten sich wieder in die Berichterstattung ein, als Martin Luther King die Bühne betrat. Es war für die meisten Amerikaner das erste Mal, dass sie eine vollständige Rede Kings hörten. Es war das erste Mal, dass Präsident Kennedy eine vollständige Rede Kings zu hören bekam.[46]
Er begann mit der Begrüßung «der größten Freiheitsdemonstration, die unsere Nation je erlebt hat», ehrte Lincoln und die Emancipation Proclamation und verurteilte «die Fesseln der Rassentrennung und die Ketten der Diskriminierung», die die schwarzen Amerikaner einhundert Jahre später immer noch banden. Er sprach langsam, feierlich und förmlich. Die Unabhängigkeitserklärung und die Verfassung seien Schuldscheine, sagte er, ein Versprechen, dass allen Menschen die ihnen zustehenden Rechte garantiert würden. «Heute ist es offensichtlich, dass Amerika diese Schuld nicht bezahlt hat.» Es war das bekannte Repertoire, streng und sorgenvoll vorgetragen. King warnte die Bewegung vor den Gefahren des «wunderbaren neuen kämpferischen Geistes», dem Verlust der Unterstützung durch die Weißen. Er zählte Missstände auf. Er hatte jetzt zehn Minuten gesprochen, und seine Stimme wurde lauter, als er sagte: «Wir sind nicht zufrieden, und wir werden nicht zufrieden sein, bis das Recht offenbart wird wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein starker Strom.» Er schaute auf die schwerfälligen nächsten Zeilen seines Redetextes – «Und so lasst uns heute in unsere Gemeinden zurückgehen als Mitglieder der internationalen Vereinigung für die Förderung der schöpferischen Unzufriedenheit» – und ließ sie ungesagt. Stattdessen begann er zu predigen. Mahalia Jackson, die hinter ihm auf der Bühne stand, rief: «Erzähl uns von dem Traum, Martin.» Er hielt einen kurzen Augenblick lang inne. «Ich habe immer noch einen Traum», sagte er dann. «Dieser Traum wurzelt tief im Amerikanischen Traum. Ich habe einen Traum, dass diese Nation eines Tages aufstehen und nach dem echten Sinn ihres Glaubensbekenntnisses leben wird: ‹Wir halten es für eine selbstverständliche Wahrheit, dass alle Menschen gleich geschaffen sind.›» Er fand seinen Rhythmus und die Tiefe seiner Stimme und den Geist der Schrift. «I have a dream today», sagte er und schüttelte den Kopf. «Ich habe einen Traum, dass eines Tages alle Täler erhöht werden sollen.» Die Menge erhob sich, die Menschen neigten die Köpfe und weinten. «Lasst die Freiheit erschallen!», rief er.[47] Es war, als hätte jede Glocke in jedem Turm in jeder Stadt und jedem Dorf geläutet: ein Läuten der Gerechtigkeit.
DREI MONATE SPÄTER wurde Kennedy in Dallas ermordet. Keine fünf Jahre danach sollte King selbst in Memphis niedergeschossen und getötet werden. Bis dahin waren die Träume amerikanischer Liberaler durch einen Kugelhagel und eine Spur von Napalmbomben, die von den Straßen Newarks und Detroits bis zu den Reisfeldern Südvietnams auf die Welt herabregneten, niedergestreckt worden.
Der weite Bogen des amerikanischen Liberalismus, der mit der Amtseinführung von FDR 1933 begann, erreichte seinen Höhepunkt – und begann seinen Niedergang – während der Regierungszeit von LBJ. Roosevelt verfolgte einen New Deal; Truman versprach einen Fair Deal; Johnson redete über einen Better Deal, bis er zu dem Schluss kam, dass ihn dies wie eine Fußnote klingen ließ. Er strebte nichts Geringeres als eine Great Society an. Eine Great Society war mehr als eine Wohlstandsgesellschaft; sie war zugleich eine gute Gesellschaft, «ein Ort, an dem Menschen sich mehr Gedanken um die Qualität ihrer Ziele als um die Menge ihrer Besitztümer machen». Der Präsident sagte: «Die Great Society beruht auf Wohlstand und Freiheit für alle. Sie verlangt ein Ende von Armut und Ungerechtigkeit im Umgang zwischen den Rassen, wofür wir uns in unserer Zeit uneingeschränkt einsetzen.»[48]
Am Tag nach Kennedys Ermordung traf sich Johnson mit Walter Heller, dem Vorsitzenden des Council of Economic Advisers, und sagte ihm, er stehe zwar im Ruf, ein Konservativer zu sein, sei aber keiner. «Wenn Sie sich meinen Werdegang ansehen, dann wissen Sie, dass ich ein Roosevelt-New-Dealer bin. John F. Kennedy war, ehrlich gesagt und um der Wahrheit die Ehre zu geben, ein bisschen zu konservativ für meinen Geschmack.» In seiner ersten Rede vor dem Kongress drängte er am 27. November 1963 auf politisches Handeln in der Bürgerrechtsfrage. «Wir haben in diesem Land lange genug über Gleichberechtigung geredet», sagte er. «Wir haben einhundert Jahre lang oder noch länger geredet. Es ist jetzt an der Zeit, das nächste Kapitel zu schreiben und es in die Gesetzbücher hineinzuschreiben.» Johnson sagte immer, sein Wahlspruch sei «He gets things done». Er wollte Kennedys Programm weiterführen, und er hatte sein eigenes Programm, einen «bedingungslosen Krieg gegen die Armut», den er in seiner ersten Rede zur Lage der Nation im Januar 1964 ankündigte.[49]
Johnson sagte einmal zu Reportern: «Als ich jung war, war die Armut so weit verbreitet, dass wir gar nicht wussten, dass es ein Wort dafür gab.» Aber die Armut war, wie Galbraith in The Affluent Society gezeigt hatte, nicht beseitigt, sie war nur vergessen worden. «Wenn man die Entwicklung der modernen Sozialgeschichte verfolgt, zeigt sich ganz deutlich, wie sehr das Interesse an der Ungleichheit – diese als wirtschaftliche Streitfrage betrachtet – nachgelassen hat», schrieb Galbraith. «Die Ungleichheit beherrscht die Gedanken der Menschen nicht mehr.» Ein Teil der Armen lebte weit entfernt von den großen Städten und den Vororten: Ein Viertel der Menschen, die unterhalb der «Armutsgrenze» lebten, arbeitete auf Farmen. Der Krieg gegen die Armut, den die Kennedy-Regierung führte, nahm seinen Anfang im Januar 1963, nachdem Kennedy den ausführlichen Essay «Our Invisible Poor» von Dwight Macdonald in der Zeitschrift The New Yorker gelesen hatte. Kein anderes Stück Prosa machte die Grausamkeit von Armut in einem Zeitalter des Überflusses deutlicher. Der Wohlstand, erklärte Macdonald, habe die Nation für die Not der Armen blind gemacht und Gleichgültigkeit gegenüber ihrem Leid erzeugt. «Die Ungerechtigkeiten, die die Armen zu erdulden haben, sind mit einer Monotonie verbunden, die vielleicht das mangelnde Interesse erklärt, das der Rest der Gesellschaft für sie aufbringt», schrieb Macdonald in einem vernichtenden Urteil über die Einstellung der amerikanischen Mittelschicht gegenüber weniger begüterten Mitbürgern. «Bei ihnen scheint alles schiefzugehen. Sie gewinnen nie. Es ist einfach nur langweilig.»[50]
Heller hatte Kennedy eine Kopie von Macdonalds Essay gegeben. Der vollständige Text des Artikels war im Februar 1963 in den Congressional Record aufgenommen worden. Johnson, der sich die Sympathien der Nation für den zum Märtyrer gewordenen Präsidenten zunutze machte, drängte den Kongress zu gesetzgeberischem Handeln. Im darauffolgenden Jahr unterzeichnete er den Economic Opportunity Act und den Food Stamp Act. Er glaubte, die Armut würde innerhalb eines Jahrzehnts beseitigt werden.
Und er hatte noch weitere Ambitionen. Wie eh und je ging er mit den Kongressabgeordneten wie mit einer Rinderherde um, trieb sie zum Handeln an und sorgte für die Verabschiedung des Civil Rights Act, der jede Diskriminierung aufgrund von Rasse, Hautfarbe, Religion, Geschlecht oder nationaler Herkunft verbot. Das Gesetz ermöglichte die Weitergabe von Bürgerrechtsfällen von einzelstaatlichen an Bundesgerichte und erweiterte die Befugnisse der Bürgerrechtskommission. «Keine Gedenkrede oder Eloge könnte das Andenken Präsident Kennedys beredter ehren als die frühestmögliche Verabschiedung des Bürgerrechtsgesetzes, für das er so lange gekämpft hat», sagte Johnson in einem raffinierten Stück politischer Rhetorik.[51]
Martin Luther King und Malcolm X fuhren beide nach Washington, um die Kongressdebatte über das Bürgerrechtsgesetz zu beobachten, es war eines der seltenen Zusammentreffen der beiden Männer. Malcolm X hatte sich mit der Führungsspitze der Nation of Islam überworfen. Er hatte sich über den für August 1963 geplanten Marsch auf Washington lustig gemacht, dann aber, gegen den ausdrücklichen Befehl von Elijah Muhammed, doch daran teilgenommen. Im Dezember hatte er Reportern geantwortet, die ihn um einen Kommentar zu Kennedys Ermordung baten – gegen die ausdrückliche Anweisung Muhammads, nichts zu diesem Thema zu sagen. Er sagte, die Nachricht klinge für ihn wie «Hühner, die in den Stall zurückkehren», eine Redewendung, die Schadenfreude andeutete. Bei der sich daran anschließenden Kontroverse hatte Muhammad Malcolm X jegliches öffentliche Auftreten untersagt, doch dann hielt er, der einst befürwortet hatte, dass schwarze Männer sich bewaffneten, im April 1964 in Cleveland eine Rede unter dem Titel «The Ballot or the Bullet», in der er die Ansicht vertrat, dass für die Revolution Wahlen erforderlich seien.[52] Dieser Standpunkt hatte ihn in die Räumlichkeiten des Kongresses geführt.
Die Kongressdebatten, die Malcolm X und Martin Luther King beobachteten, offenbarten Zerwürfnisse in den Reihen beider Parteien, wobei die Demokraten von ihrer südlichen Flanke her und die Republikaner von ihrem rechten Flügel her unter Druck gerieten. «Ich bin nicht gegen die Demokraten», sagte Malcolm X. «Ich bin nicht gegen die Republikaner. Ich bin gegen gar nichts. Ich stelle nur ihre Ernsthaftigkeit infrage.» Der entscheidende Punkt war für ihn, dass die Zeit für eine Abstimmung gekommen sei.[53] Die Debatten offenbarten auch das Allerschlimmste, was Amerika an politischen Winkelzügen zu bieten hatte. Demokraten aus dem Süden verschleppten die Abstimmung durch Dauerreden um 54 Tage. Strom Thurmond sagte, die «sogenannten Bürgerrechtsvorschläge, die der Präsident dem Capitol Hill zur Verabschiedung in Gesetzesform hat zukommen lassen, sind verfassungswidrig, unnötig, unklug und verlassen das Reich der Vernunft».[54] Howard Smith, ein Befürworter der Rassentrennung aus Virginia, brachte einen Zusatzantrag für die Aufnahme des Wortes «Geschlecht» in den Gesetzentwurf ein, einen Vorschlag, der so lächerlich war, dass er sich sicher war, das Gesetz damit zu Fall bringen zu können. Doch nach der engagierten Verteidigung des Zusatzes durch Margaret Chase Smith, eine Republikanerin aus Maine, wurde er beschlossen – eine folgenschwere, wenngleich ironische Errungenschaft im Kampf um die Gleichberechtigung der Frauen.[55]
Derweil schnitt George Wallace, der sich um die Nominierung als Präsidentschaftskandidat der Demokraten für 1964 bewarb, bei den ersten Vorwahlen überraschend gut ab. Auf seiner Wahlkampfreise bekam er Äußerungen weißer Wähler zu hören, deren tief verwurzelte rassistische Feindseligkeit Teil einer Gegenbewegung war, die an Stärke noch zunehmen sollte. Bei einer Wallace-Kundgebung in Milwaukee sagte ein Mann namens Bronko Gruber über die schwarze Bevölkerung der Stadt: «Sie verprügeln 83-jährige alte Damen, vergewaltigen unsere Frauen. Sie rauben Leute aus. Sie wollen nicht arbeiten. Sie leben von Sozialhilfe. Wie lange können wir das dulden? Bin ich nach Guadalcanal gegangen, um dann in solche Zustände zurückzukehren?»[56]
Wallace’ Bewerbung um die Nominierung wurde nicht durch Johnsons Popularität beendet, sondern durch den Einstieg eines konservativen Republikaners ins Kandidatenrennen. Barry Goldwater, ein weit rechts stehender konservativer Republikaner aus Arizona, stimmte gegen das Bürgerrechtsgesetz und machte dabei deutlich, dass für ihn nur verfassungsrechtliche Gründe zählten. «Wenn mir mein Votum falsch ausgelegt wird, dann ist es eben so, und ich werde die Konsequenzen tragen.»[57] Die Befürworter des Gesetzes beendeten schließlich die Verschleppung der Abstimmung, und Johnson unterzeichnete am 2. Juli 1964 den Civil Rights Act. Elf Tage später trat der Nationalkonvent der Republikaner im Cow Palace in Daly City, Kalifornien, zusammen und nominierte Barry Goldwater als Präsidentschaftskandidaten.
Goldwater hatte 1960 unter dem Titel The Conscience of a Conservative ein von einem Ghostwriter verfasstes Manifest veröffentlicht, das zum Bestseller geworden war. Seine Positionen lagen damals am äußersten Rand des politischen Spektrums in Amerika. Er forderte die Abschaffung der gestaffelten Einkommensteuer und empfahl, die Bundesregierung solle den größten Teil ihrer Tätigkeitsbereiche aufgeben, Ministerien schließen und die Zahl der Beschäftigten um zehn Prozent pro Jahr verringern. Goldwater lehnte auch das Urteil des Supreme Court im Verfahren Brown v. Board ab und pochte auf die Rechte der Einzelstaaten. Er nahm damit eine Position ein, die ihn mit Südstaatendemokraten und auch mit der John Birch Society zusammenführte, zu deren Zielen unter anderem die Amtsenthebung von Earl Warren und der Rückzug der Vereinigten Staaten aus den Vereinten Nationen gehörten. Ihr Anführer Robert Welch hatte sich sogar zu der Mutmaßung verstiegen, Eisenhower könnte ein kommunistischer Agent sein; einige Birchers hielten den Sputnik für einen Schwindel. Mit besonderem Hass begegneten die Birchers Kennedy. Der rechtsextreme Radiokommentator Tom Anderson sagte in Jackson, Mississippi: «Unsere Bedrohung ist nicht die Große Rote Armee von außen, sondern der Große Rosa Feind von innen. Unsere Bedrohung ist der KKK – Kennedy, Kennedy und Kennedy.»[58]
Verschwörungstheoretiker, die Eisenhower für einen Kommunisten hielten, schienen ein leichtes Angriffsziel zu bieten, und einige Berater Kennedys, zu denen auch Arthur Schlesinger jr. gehörte, hatten Kennedy gedrängt, die Republikanische Partei mit der John Birch Society in Verbindung zu bringen. Kennedy begann 1961 vom «rechten Flügel» der GOP zu sprechen. Daniel Bell hatte in seinem Buch The New American Right die Ansicht vertreten, der «rechte Flügel» bekämpfe nichts so intensiv wie die Modernität als solche. Auch gemäßigte Republikaner hatten Goldwater massiv angegriffen. Nelson Rockefeller, der Gouverneur von New York, warnte, ein «verrückter Rand» könnte «die gesamte Republikanische Partei unterwandern».[59] Eine Auseinandersetzung zwischen Kennedy und Goldwater wäre interessant gewesen. Kennedy, für den die Debatte mit Nixon ein großer Erfolg gewesen war, hatte offensichtlich einer Debatte mit Goldwater zugestimmt, falls dieser 1964 von den Republikanern nominiert werden sollte. Goldwater sagte später, er und Kennedy hätten vorgehabt, gemeinsam das Land zu durchqueren und bei jedem Halt zu debattieren, «ohne Madison Avenue, ohne große Aufmachung oder faulen Zauber, nur wir beide, unterwegs mit dem gleichen Flugzeug».[60]
Doch Johnson hatte keinen Grund, einer Debatte mit Goldwater zuzustimmen, dessen Chancen auf eine Nominierung gering zu sein schienen. Rockefeller, der mit Goldwater um die Nominierung wetteiferte, stellte den Rivalen als Nazi dar. (In Wirklichkeit hatte Goldwater jüdische Vorfahren.) Liberale stießen ins gleiche Horn. «Wir sehen gefährliche Anzeichen von Hitlerismus in Goldwaters Wahlkampf», sagte Martin Luther King. Beim Nationalkonvent der Republikaner weigerte sich Margaret Chase Smith, die sich selbst – als erste Frau in einer der großen Parteien – um die Nominierung bewarb, ihre Delegierten für Goldwater stimmen zu lassen, um ein einstimmiges Votum für ihn zu verhindern.[61]
Richard Nixon teilte Smiths Prinzipien nicht. Er hatte 1962 erfolglos für das Gouverneursamt in Kalifornien kandidiert und konnte sich, nach zwei Wahlniederlagen innerhalb von zwei Jahren, nicht selbst um die Nominierung bewerben. Dennoch startete er eine heimliche Wahlkampagne, deren Hauptquartier sich in einem Büroraum in Portland, Oregon, befand. Er wog seine Optionen ab. Er spielte mit dem Gedanken, anzutreten. Er spielte mit einem Einstieg bei der Stoppt-Goldwater-Kampagne gemäßigter Republikaner. Und er spielte mit einer Unterstützung von George Romney, dem Gouverneur von Michigan. Als er schließlich zu dem Ergebnis kam, dass er keine Chance hatte, Goldwater zu besiegen, beschloss er, ihn zu unterstützen. Goldwater verteidigte sich in seiner Dankesrede für die Nominierung gegen den Vorwurf eines extremistischen Sprachgebrauchs, der ihn jede eventuell noch verbliebene Unterstützung der gemäßigten Kräfte in der Partei gekostet hatte. «Extremismus bei der Verteidigung der Freiheit ist kein Laster», sagte Goldwater. Und «Mäßigung beim Üben von Gerechtigkeit ist keine Tugend». Rockefeller und Romney weigerten sich, für Goldwater Wahlkampf zu machen. Nixon, der bereits 1968 im Auge hatte, legte sich unermüdlich ins Zeug: Er hielt 156 Reden zur Unterstützung des Kandidaten der Partei.[62]
Johnson war von dieser Entwicklung sehr angetan. Goldwaters Slogan war «In Your Heart, You Know He’s Right», und Johnsons Wahlkampf reagierte darauf mit «In Your Guts, You Know He’s Nuts» (Euer Bauch sagt euch, dass er einen an der Klatsche hat) oder, in Anspielung auf Goldwaters Begeisterung für den Einsatz von Atomwaffen, mit «In Your Heart, You Know He Might». Goldwater hatte für einen Verfassungszusatz geworben, der Bibellesungen und Gebete in öffentlichen Schulen garantieren sollte, aber Johnson, der breite Unterstützung in Kreisen evangelikaler Christen genoss, sorgte dafür, dass Goldwater bei dieser Wählerschaft keinen Erfolg hatte. Wenige Tage vor der Wahl wurde Billy Graham von seinen Anhängern gedrängt, sich für Goldwater auszusprechen, sie schickten ihm mehr als eine Million Telegramme und Zehntausende von Briefen. Johnson hielt dagegen. «Billy, halt dich aus der Politik raus», sagte er bei einem Telefonat zu Graham und lud ihn dann zu einem Wochenende im Weißen Haus ein – weit weg von seiner Tagespost.[63]
Im November verlor Goldwater gegen Johnson mit einem Abstand von mehr als 16 Millionen Stimmen, er siegte lediglich in seinem Heimatstaat Arizona und in fünf Staaten im Tiefen Süden. Die Niederlage fiel so katastrophal aus, dass führende Republikaner versuchten, konservative Kräfte aus hohen Ämtern in der Partei zu entfernen. Das bedeutete die Entfernung konservativer Frauen.
Entscheidende Unterstützung hatte Goldwaters Nominierung durch Phyllis Schlafly erfahren, die einst Mitglied des Kitchen Cabinets und außerdem Präsidentin der National Federation of Republican Women war. Die 1924 in Missouri geborene Schlafly sollte zu einer der einflussreichsten Frauen in der Geschichte der amerikanischen Politik werden. Im Zweiten Weltkrieg hatte sie als Schützin gearbeitet und in einem Rüstungsbetrieb Gewehre getestet, um ihr Collegestudium zu finanzieren, dem sie später noch einen Abschluss in Politikwissenschaft am Radcliffe College folgen ließ. Die gläubige Katholikin war eine begeisterte Anhängerin McCarthys gewesen; ihr Ehemann war Präsident der World Anti-Communist League. 1952 hatte sie mit dem Slogan «A Woman’s Place Is in the House» für den Kongress kandidiert.[64]
Schlafly hatte Goldwater 1963 als Redner für eine Feier zum 25. Jahrestag der Vereinigung der Republikanischen Frauenclubs engagiert. Bei dieser Feier hatte sie auch eine Probeabstimmung veranstaltet: Von 293 anwesenden Delegierten entschieden sich 262 für Goldwater als Präsidentschaftskandidaten der Partei. Konservative Frauen hatten sich in Scharen dem «Crusade for Law and Morality» des Goldwater-Wahlkampfs und den Mothers for Moral America angeschlossen, einer Pseudo-Graswurzelorganisation, die Nancy Reagan in ihren Vorstand aufnahm. Doch während konservative Frauen Goldwater unterstützt hatten, galt das für den Mainstream der Republikanischen Partei nicht. Die Präsidentschaftswahl von 1964 war die erste, bei der ebenso viele Frauen wie Männer ihre Stimme abgaben. Die Frauen wählten außerdem anders als die Männer. Insgesamt stimmten parteiübergreifend mehr Frauen gegen Goldwater als Männer. Die Republikanerfrauen, die sich für Goldwater einsetzten, hatten wohl nicht nur das Gespür für die Stimmung in der Partei, sondern auch im ganzen Land verloren.
Nach Goldwaters schmählicher Niederlage machte es sich Elly Peterson, die Vorsitzende der Republikanischen Partei in Michigan, eine Anhängerin von Romney, zur Aufgabe, Schlafly bei der nächsten Wahl vom Amt der Präsidentin der National Federation of Republican Women fernzuhalten. Das erwies sich als schwierig, sagte Peterson, weil «der verrückte Rand wunderbar organisiert ist». Schlafly verlor knapp, doch sie focht das Ergebnis an, und die Polizei musste Frauen aus dem Versammlungssaal entfernen, als sie aufeinander losgingen. Das «dame game», so war in Time zu lesen, hatte sich ganz und gar undamenhaft entwickelt.[65]
Schlafly war nicht so leicht zu besiegen. Sie hätte sich selbst niemals als Feministin bezeichnet, war aber der Ansicht, Frauen sollten in der Führungsspitze der GOP mitwirken. «Viele Männer in der Partei wollen einfach, dass die Frauen weiterhin die untergeordneten Arbeiten erledigen, während die Auswahl von Kandidaten und die politischen Entscheidungen, die in verrauchten Sitzungssälen getroffen werden, den Männern vorbehalten bleiben», klagte sie. Das Buch, das sie über ihre Verdrängung aus dem Amt schrieb, enthält auch eine Karikatur, auf der eine Frau vor einer Tür mit der Aufschrift «Republican Party Headquarters» zu sehen ist, neben einem Schild mit der Anweisung: «Konservative und Frauen benutzen bitte den Dienstboteneingang.» Drei Monate nach ihrer Abwahl aus dem Amt der Vorsitzenden der GOP-Frauenorganisation begann sie mit der Veröffentlichung eines monatlichen Newsletters, mit dem sie ihren eigenen Kreuzzug für Recht und Moral führte.[66] Es sollte einige Jahre dauern, doch am Ende sollte sie die Republikanische Partei zurückerobern.
Der wuchtige Lyndon Johnson, jetzt ein triumphaler Wahlsieger, beschloss, seine Mehrheit von 16 Millionen Wählerstimmen für einen ganz großen Wurf zu nutzen. Er konnte sich auf eine satte demokratische Mehrheit im Kongress stützen, auf eine Konstellation, die als «fat Congress» bezeichnet wird. Er wusste, dass sein Mandat nicht von Dauer sein würde. «Einfach von der Art her, wie die Leute von Natur aus denken, und weil Barry Goldwater ihnen eine Höllenangst gemacht hat, habe ich schon etwa drei von diesen 16 Millionen verloren», sagte er im Januar 1965 zu seinen Mitarbeitern. «Nach einer Auseinandersetzung mit dem Kongress oder durch irgendeine andere Sache werde ich noch ein paar Millionen verlieren. Ich könnte in ein paar Monaten auf acht Millionen abgesackt sein.»[67]
Lyndon Johnson stand an der Spitze einer Konstellation, die Politikwissenschaftler als «unified government» bezeichnen, weil Exekutive und Legislative von derselben Partei beherrscht werden, im Gegensatz zum «divided government», bei dem eine Partei das Weiße Haus und die andere den Kongress beherrscht. Vereinte Regierungen und geteilte Regierungen haben in etwa den gleichen Umfang an gesetzgeberischer Arbeit zu bewältigen, aber vereinte Regierungen sind – wenig überraschend – produktiver: Sie bringen eine größere Zahl ihrer eigenen Gesetze durchs Parlament. Dennoch war keine andere vereinte Regierung in der Geschichte der Vereinigten Staaten so produktiv wie die LBJ-Regierung.[68]
Johnson, der seine Laufbahn in Washington 1937 begonnen hatte, verstand das Wesen politischer Macht besser als nahezu jeder andere amerikanische Präsident. Er traf sich jede Woche mit führenden Politikern des Kongresses zum Frühstück. Er rief Senatoren mitten in der Nacht an. Er schmeichelte und drohte, schloss so manchen Handel ab und traf Abmachungen. Er brachte den Kongress dazu, ein Bildungsgesetz zu verabschieden, das Millionen von Dollar für die Unterstützung von Grund- und High-School-Schülern bereitstellte. Er überzeugte den Kongress von einer Novellierung des Social Security Act zur Einführung von Medicare, einer Krankenversicherung für ältere Menschen, und Medicaid, einer Krankenversicherung für die Armen – «Fürsorge für die Kranken und heitere Gelassenheit für die Ängstlichen» – und flog dann nach Independence, Missouri, damit Truman die Unterzeichnung miterleben konnte. «Sie haben mich zu einem sehr, sehr glücklichen Mann gemacht», sagte ein tief bewegter Truman.[69]
Der Hagel von Gesetzen beschränkte sich keineswegs auf Sozialreformen. Johnson überredete den Kongress auch zur Verabschiedung eines Steuergesetzes, einer Steuersenkung, die dem Kongress noch vor Kennedys Ermordung vorgelegt worden war, der größten Steuersenkung in der amerikanischen Geschichte. Er hoffte, dass sie die Arbeitslosigkeit verringern würde. Stattdessen untergrub sie seine Reformprogramme und wirkte so, als hätte er sich selbst einen Fuß abgehackt.
«Ich möchte die Armen von Steuerempfängern in Steuerzahler verwandeln», sagte Johnson im Kongress zur Begründung seiner Steuersenkung. In dieser Formulierung waren die Empfänger von Sozialhilfeprogrammen wie Aid to Families with Dependent Children (AFDC), das 1935, sowie von Medicaid, das 1965 ins Leben gerufen wurde, die «tax eaters». Empfänger von anderen Unterstützungsleistungen der Bundesregierung (Medicare, Leistungen für Veteranen, Subventionen für Farmer) waren die Steuerzahler. Mit dieser Unterscheidung lähmten die Liberalen der 1960er Jahre den Liberalismus. Die Planer des Krieges gegen die Armut hielten es wie die New Dealers vor ihnen, sie verteidigten niemals eine auf breiter Grundlage erhobene progressive Einkommensteuer als eine dem Gemeinwohl dienende Maßnahme, die im allgemeinen Interesse war; sie konnten sie zudem nicht von der Frage der Rassenbeziehungen trennen. Sie bezeichneten auch die Sozialversicherung, die medizinische Versorgung und die Arbeitslosenversicherung niemals als «welfare», «Sozialhilfe». Johnsons Wirtschaftsberatergremium sagte dem Präsidenten, er solle, wenn er erkläre, wie die Regierung die Armut zu bekämpfen gedenke, «den Gebrauch des Begriffs ‹Ungleichheit› oder des Begriffs ‹Umverteilung› vollständig vermeiden». Die Armen sollten als «targets of opportunity» («Zielobjekte für Chancen») bezeichnet werden.[70]
Die Steuersenkung funktionierte zunächst: Die Menschen nutzten das Geld, das sie zuvor an die Steuerbehörde gezahlt hatten, für den privaten Konsum. Die Zeitschrift Time setzte Keynes 1965 auf ihre Titelseite und verkündete: «We Are All Keynesians Now.»[71] Doch Johnsons Wirtschaftsreformen wurden, wie alles andere, was er tat, durch seine Eskalation des Krieges in Vietnam zerstört.
Als Kennedy starb, hatte Robert Kennedy Johnson gedrängt, Vietnam nicht aufzugeben, wozu Johnson tendiert hatte. Im Frühjahr 1965 war Johnson zu der Überzeugung gelangt, dass er sich nicht zurückziehen konnte, ohne zu verlieren, und er wollte nicht verlieren: «Ich werde nicht der Präsident sein, der Südostasien den Weg gehen sah, den China ging.» Im März 1965 begannen die Vereinigten Staaten mit der Bombardierung Nordvietnams; in jenem Frühjahr stimmte Johnson dem Einsatz von Bodentruppen zu. Weil er aber sein innenpolitisches Programm nicht aufgeben wollte, beschloss er, die Eskalation zu verheimlichen. Er log über die amerikanische Verstrickung, und seine Regierung log über den Krieg und dessen Verlauf. Am Jahresende waren 184.000 amerikanische Soldaten in Vietnam. Collegestudenten gelang es, der Einberufung zu entgehen. Arme Weiße und Schwarze stellten einen überproportional hohen Anteil unter den in Vietnam stationierten Soldaten. Johnson vertuschte die Kosten des Krieges ganz gezielt. Zu seiner Finanzierung würden letztlich Steuererhöhungen nötig sein. Um diese unvermeidliche Maßnahme so lange wie möglich hinauszuschieben, kürzte er die Mittel für seine Sozialprogramme. «Dieser Mistkerl von einem Krieg hat die Lady umgebracht, die ich wirklich liebte – die Great Society», sagte er später. Selbst als der Präsident betonte, «das ist nicht Johnsons Krieg, das ist Amerikas Krieg», skandierten die Demonstranten: «Hey, hey, LBJ, how many kids did you kill today»?[72]
Johnson, der Erdrutschwahlsieger von 1964, sollte 1968 so unbeliebt sein, dass er beschloss, nicht für eine Wiederwahl zu kandidieren. Und der Liberalismus sollte durch Johnsons Kompromisse, durch den Aufstieg der Neuen Linken, durch Rassenunruhen, durch die Antikriegsbewegung, die weiße Gegenbewegung und durch die Forderungen rechtsgerichteter Kräfte nach Recht und Ordnung so schwer erschüttert werden, dass Nixon schließlich den Preis gewinnen sollte, den er seit seinen Tagen im Highschooldebattierteam in Whittier, Kalifornien, im Auge gehabt hatte: das Weiße Haus.
«ES SITZEN MEHR NEGER mit mir im Gefängnis, als in den Wählerlisten eingetragen sind», war in einer Anzeige der Southern Christian Leadership Conference in der New York Times zu lesen, während Martin Luther King in Selma, Alabama, im Gefängnis saß. Bürgerrechtsaktivisten hatten im Tiefen Süden jahrelang versucht, Wählerinnen und Wähler eintragen zu lassen – ohne viel Erfolg. Dennoch hatte sich der Geist des Protests weiter ausgebreitet.
Mario Savio, ein 21-jähriger Philosophiestudent der University of California, verbrachte den Sommer 1964 – den Freedom Summer – mit der Registrierung schwarzer Wähler in Mississippi. Als er im Herbst nach Berkeley zurückkehrte, führte er einen Kampf gegen eine Politik, die politische Reden auf dem Campus verbot, und argumentierte, dass eine öffentliche Universität für politische Debatten und Versammlungen ebenso offen sein sollte wie ein öffentlicher Platz. In Mississippi wie in Berkeley stehe ein und dasselbe Recht auf dem Spiel, sagte Savio, nämlich «das Recht, als Bürger an einer demokratischen Gesellschaft teilzuhaben».[73] Nachdem die Polizei fast 800 Demonstranten verhaftet hatte, ging die Universität auf die Forderungen der Studenten ein. Der Grundsatz, politische Reden auf dem Campus zu erlauben, wurde anschließend von den öffentlichen auf die privaten Universitäten ausgeweitet. Ohne dieses Prinzip wäre es den Studenten nicht möglich gewesen, sich bei Versammlungen auf dem Campus für Bürgerrechte oder gegen den Vietnamkrieg oder, damals wie seither, für oder gegen irgendetwas anderes einzusetzen.
Doch der Kampf für Gerechtigkeit spaltete die Linke. Vine Deloria, ein 1933 in South Dakota geborener Standing Rock Sioux und Ex-Marineinfanterist, wurde 1964 zum Vorsitzenden des National Congress of American Indians gewählt. Deloria und weitere Aktivisten verschafften dem jahrhundertealten Kampf um Souveränität für die indigene Bevölkerung nationale Aufmerksamkeit. «Wir verlangen nichts anderes als Gerechtigkeit, die Zustimmung der Regierten, Zeit, um das zu entwickeln, was unserer Auffassung nach auf unsere Art entwickelt werden sollte», sagte er 1965 in einem Ausschuss des Senats. Als die Bürgerrechtsbewegung ihren Schwerpunkt von der Aufhebung der Rassentrennung auf das Wahlrecht verlagerte, kam es zu Abspaltungen. Das SNCC gründete aus Protest gegen eine nur aus Weißen bestehende Delegation für den Nominierungskonvent der Demokraten eine eigene Partei, die Mississippi Freedom Democratic Party. Ella Baker leitete ihr Büro in Washington und hielt die Hauptrede beim Nominierungskonvent im Bundesstaat in Jackson. Beim Konvent der Demokratischen Partei im August 1964 in Atlantic City weigerte sich die Parteiführung, der MFDP-Delegation Sitze mit Stimmrecht einzuräumen. Stokely Carmichael beschloss, die Parteipolitik aufzugeben. Carmichael, einer der Freedom Riders von 1961, schloss 1964 sein Studium an der Howard University ab, und sein Einsatz für die Wählerregistrierung in Mississippi brachte ihm eine Nominierung für einen Senior Class Humanity Award ein. «Die liberalen Demokraten sind genauso rassistisch wie Goldwater», lautete seine Schlussfolgerung. Carmichael übernahm das Wort «black» von Malcolm X und plädierte für eine neue Militanz. «Wenn wir nicht am Tisch sitzen können», sagte ein führendes SNCC-Mitglied, «dann lasst uns die verdammten Tischbeine weghauen.» King und die SCLC befürworteten nach wie vor die Zusammenarbeit mit weißen Liberalen; das SNCC favorisierte zunehmend Black Consciousness und Black Power. Selma sollte ihre letzte gemeinsame Aktion sein.[74]
Im Januar 1965, 100 Jahre nach der Verabschiedung des 13. Zusatzartikels durch den Kongress, hielt Johnson in Washington seine Inaugurationsrede, und King ging nach Selma, wo Demonstranten ihre Absicht verkündet hatten, bis nach Montgomery zu marschieren, 90 Kilometer durch ein Land, dessen Bevölkerung zu mehr als 70 Prozent schwarz war, in dem aber seit der Einführung des Systems der Rassentrennung kaum jemals ein Afroamerikaner versucht hatte, seine Stimme abzugeben. Die Marschierer trafen am 7. März 1965 auf 500 Polizisten des Staates Alabama, die auf der gegenüberliegenden Seite der Pettus Bridge Posten bezogen und von Gouverneur George Wallace den Befehl erhalten hatten, jeden zu verhaften, der die Brücke zu überqueren versuchte.
Malcolm X, der inzwischen aus der Nation of Islam ausgeschlossen worden war, flog nach Selma. Er unterstützte mit einer Ansprache die Protestierenden, allen Sorgen der SCLC-Führung zum Trotz, er könnte zu Gewaltakten aufrufen. Nur wenige Wochen später wurde ein Brandanschlag auf das Haus seiner Familie in New York verübt, und am 21. Februar ermordeten ihn in Manhattan drei mit Pistolen und Gewehren bewaffnete Männer, Mitglieder der Nation of Islam. Er wurde zehn Mal getroffen, einmal in den Fußknöchel, zweimal ins Bein und siebenmal in die Brust.[75] «Ich teilte seine Ansichten nicht», sagte ein zutiefst erschütterter James Baldwin. «Aber wenn er auf der Straße mit den Leuten sprach, war er, wenn man seine Schlussfolgerungen ignorierte, der Einzige, der die tatsächliche Lage des amerikanischen Negers schilderte, der sie lebendig werden ließ und eine Bestandsaufnahme machte.»[76]
Das im Fernsehen übertragene Spektakel, das Staatspolizisten in Alabama boten, die auf die Köpfe von Bürgerrechtsmarschierern einschlugen, als diese mehrmals versuchten, die Brücke zu überqueren, setzte Johnson unter Druck, und am 15. März sprach er zum Kongress. «Geschichte und Schicksal treffen sich zuweilen zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort, um das Geschehen an einem Wendepunkt der ewigen Suche des Menschen nach Freiheit zu gestalten», sagte er. «So war es in Lexington und Concord. So war es vor einem Jahrhundert in Appomattox. So war es letzte Woche in Selma, Alabama.» Er rief den Kongress zur Verabschiedung eines Wahlrechtsgesetzes auf und schloss in seinem typisch texanischen Tonfall: «And we shall overcome» («Und wir werden siegen»). King, der in Alabama zusah, kamen die Tränen.[77]
In der Woche bevor Johnson dem Kongress den Voting Rights Act zuleitete, hatte der Präsident dem Parlament noch den Law Enforcement Assistance Act vorgelegt mit der Bemerkung, er wolle, dass 1965 in Erinnerung bleibe als «das Jahr, in dem dieses Land einen durchgreifenden, intelligenten und wirksamen Krieg gegen das Verbrechen begann». Die Schaffung der Law Enforcement Assistance Administration, die 80.000 Projekte zur Verbrechensbekämpfung finanzierte, erweiterte die Polizeibefugnisse der Bundesregierung enorm. «Schon seit einiger Zeit hatte ich das Gefühl, dass sich die Aufgabe der Polizeibehörden nicht so sehr von der Rolle der Streitkräfte unterscheidet, nämlich, vom Begehen eines Verbrechens abzuschrecken, bevor es dazu kommt, so wie es unser militärisches Ziel ist, Aggressoren abzuschrecken», hatte der Vorsitzende des Justizausschusses im Senat bei den Hearings zum Gesetzentwurf gesagt. Nachdem das Gesetz durch Johnsons Unterschrift in Kraft getreten war, eröffnete seine Regierung einen «Krieg gegen das Verbrechen», einen Krieg, in den die Polizei mit Befugnissen und einer Ausrüstung ging, die den Möglichkeiten einer militärischen Streitmacht vergleichbar waren, sie setzte für bestimmte Stadtviertel Hubschrauberpatrouillen ein und arbeitete bei der Prävention mit Computersimulationen. Geld, das die Städte zuvor für Maßnahmen gegen die Armut erhalten hatten, wurde jetzt für die Verbrechensbekämpfung umgewidmet. Schülerhorte, Betreuungsprogramme und Jugendzentren, die unter Johnson als Teil des Krieges gegen die Armut eingerichtet worden waren, sollten ab 1969, unter Nixon, von der Polizei übernommen und zu Teilen des Krieges gegen das Verbrechen werden. In den 20 Jahren nach der Ausrufung dieses Krieges durch LBJ sollten mehr Amerikaner ins Gefängnis wandern als im gesamten Jahrhundert davor. Schwarze und Latinos, die 25 Prozent der US-Bevölkerung ausmachten, stellten 59 Prozent der Gefängnisinsassen in einer Nation, in der der Anteil der Inhaftierten an der Gesamtbevölkerung bis zu fünfmal so hoch war wie in irgendeiner anderen Industrienation. Nixon strich die Teile von Johnsons Programm, die für Dienstleistungen zugunsten von Kindern und Jugendlichen bestimmt waren, und übernahm nur die Teile des Gesamtkonzepts, die für ihre Bestrafung bestimmt waren. Die Verwaltung der Great Society wurde zur Aufgabe der Polizei. Pauschale, nicht zweckgebundene Mittel für die Stadterneuerung wurden für den Bau von Gefängnissen umgewidmet. James Baldwin sagte, die Stadterneuerung sollte eher «Negerentfernung» genannt werden.[78]
Am 6. August 1965 unterzeichnete Johnson den Voting Rights Act. Doch die Ruhe, die Johnson daraufhin erwartet hatte, trat nicht ein. Der Ausschuss für Bildung und Arbeit des Repräsentantenhauses bat am darauffolgenden Tag im Will Rogers Park Auditorium in Los Angeles zu Hearings, um herauszufinden, warum es der Stadt nicht gelungen war, die Regierungsprogramme zur Bekämpfung der Armut umzusetzen. Einige tausend Menschen folgten der Einladung; aus den Hearings wurde eine Kundgebung. Vier Tage später brachen im Stadtteil Watts in South Central Los Angeles Unruhen aus, die ersten in einer ganzen Reihe von Unruhen, die die Nation über vier lange, heiße Sommer hinweg schockieren sollten.
King flog nach Los Angeles und predigte Gewaltlosigkeit, aber niemand hörte ihm zu. Die Bevölkerungsdichte im Stadtgebiet von Los Angeles außerhalb von Watts lag bei 2280 Einwohnern pro Quadratkilometer; in Watts betrug sie 6330 Einwohner pro Quadratkilometer. Der Aufstand dauerte sechs Tage und Nächte, und mehr als 35.000 Menschen waren daran beteiligt. 34 Menschen wurden getötet und mehr als 1000 verwundet, als die Straßen brannten. Panzer der Army und Hubschrauber verwandelten eine amerikanische Großstadt in ein Kriegsgebiet. William Parker, der Polizeichef von Los Angeles, sagte, der Kampf gegen die Menschen von Watts ähnele «sehr stark dem Kampf gegen den Vietcong».[79] Johnson fragte: «Ist die Welt verrückt geworden?»[80]
Watts, ein Stadtteil von der doppelten Größe Manhattans, verfügte über kein einziges Krankenhaus. Eine Wohlstandsgesellschaft? Watts war eine mittellose Gesellschaft. Für Außenstehende sah es so aus, als sei die Gewährung von Rechten («rights») mit Randale («riots») beantwortet worden, als würde das gesamte Projekt des Liberalismus in sich zusammenfallen.
Jede einzelne dieser Unruhen im Verlauf von vier Sommern stand für sich und hatte eine eigene Vorgeschichte, aber jede von ihnen begann mit Polizeigewalt in einem segregierten Stadtteil in einer Stadt im Norden, wo es nur sehr wenige Arbeitsplätze gab, wo die Häuser baufällig waren, wo das Wahlrecht niemandes Elend ein Ende gemacht hatte. In Newark, der größten Stadt in New Jersey, deren Bevölkerung zu 65 Prozent aus Schwarzen bestand, starben im City Hospital, einem Krankenhaus, in dem Fledermäuse hausten, innerhalb eines einzigen Jahres 18 Babys – an Durchfall. Und dennoch gab es nach Vorwürfen, die Bundesregierung habe im Umgang mit Großstädten wie Newark versagt, auch Gegenreden: Die Bundesregierung hatte für Programme zur Armutsbekämpfung in Newark pro Kopf mehr Geld ausgegeben als in jeder anderen Stadt im Norden des Landes.[81]
Gewalt erzeugte weitere Gewalt. Bei den Unruhen, die in Newark im Sommer 1967 begannen, führte das brutale Vorgehen der Polizei zu Protesten, die zu Plünderungen führten, die wiederum zu Schüssen führten. Ein 4000 Mann starkes Kontingent der Nationalgarde riegelte eine 36 Quadratkilometer große Fläche des Stadtgebiets mit Straßensperren ab. In den Szenen, die im ganzen Land über die Fernsehschirme liefen, wirkte Newark auf manche amerikanischen Zuschauer wie Vietnam, ein Chaos mit Heckenschützen und getöteten Zivilisten. Eineinhalb Wochen später wurden bei Unruhen in Detroit mehr als 7000 Menschen verhaftet und mehr als 2000 Gebäude zerstört, bevor 9600 Soldaten der 101. und 82. Fallschirmjägerdivision die öffentliche Ordnung wiederherstellten.[82] In jenem Sommer lautete eine Schlagzeile auf der Titelseite des Nachrichtenmagazins U. S. News & World Report: IS THE U. S. ABLE TO GOVERN ITSELF?[83]
Die Konservativen hatten eine Antwort parat: Sie könnten mit eisernem Willen regieren. Ronald Reagan, 55 Jahre alt und ein Bewerber für das Amt des Gouverneurs von Kalifornien, erklärte die Unruhen zu einem Ergebnis der «Philosophie, dass die Öffentlichkeit sich in jeder beliebigen Situation ratsuchend an die Regierung wenden sollte». Der Liberalismus verursachte die Unruhen, suggerierte Reagan, und nur der Konservatismus sei imstande, sie zu beenden.
Reagan, ein Mann mit Charme und Anstand und so adrett wie ein Bräutigam, wuchs in Illinois auf. Er war der Sohn eines Schuhverkäufers, der seine Familie während der Depression dank der Großzügigkeit des New Deal durchbrachte. Der junge Reagan, ein begeisterter Demokrat, lernte FDRs Reden auswendig, diese vertraut klingenden, zuversichtlichen Kaminplaudereien. Nach seinem Studienabschluss an einem christlichen College arbeitete Reagan als Radiosprecher und Sportansager. 1937 ging er zum Film. Während des Krieges dreht er Filme für das Office of War Information. Als verlässlicher B-Movie-Schauspieler, der allgemeines Vertrauen genoss, wurde er 1947 zum Vorsitzenden der Schauspielergewerkschaft (Screen Actor’s Guild) gewählt, und in dieser Rolle agierte er als antikommunistischer Kreuzzügler. Ab 1952 unterstützte er republikanische Kandidaten. 1962 ließ er sich als Republikaner registrieren und wurde ab 1964, durch seine Unterstützung für Goldwater, zum Sun-Belt-Konservativen und Konvertiten im Dienst einer neuen Sache.
Andere Politiker schimpften, Reagan umwarb und lockte. In einer halbstündigen, im Fernsehen übertragenen Unterstützerrede für Goldwater, einem Vortrag unter dem Titel «A Time for Choosing» («Eine Zeit der Entscheidung»), sickerte Reagans Versprechen als Politiker regelrecht aus dem Gerät. Für Reagan war das entscheidende Thema bei der Wahl von 1964 (wie bei jeder anderen Wahl danach) eine Neufassung der 1787 von Alexander Hamilton im Federalist Nr. 1 gestellten Frage. Reagan fragte allerdings nicht, ob ein Volk sich selbst regieren könne, durch vernünftige Überlegung und freie Entscheidung anstelle von Zufall und Gewalt, sondern «ob wir an unsere Fähigkeit zur Selbstregierung glauben oder ob wir die Amerikanische Revolution aufgeben und anerkennen, dass eine kleine intellektuelle Elite in einer weit entfernten Hauptstadt unser Leben für uns besser planen kann, als wir selbst das können».[84] Nicht Vernunft gegen Gewalt, sondern das Volk gegen die Regierung.
Konservative und gemäßigte Republikaner waren sich in nicht allzu vielen Dingen einig, aber sie stimmten darin überein, dass der Liberalismus an der Gewalt schuld sei. King hatte am Ende des Marsches von Selma nach Montgomery ausgerufen: «Wie lange? Nicht lange, weil keine Lüge ewig Bestand hat.» Der ehemalige College-Footballstar George Ford, inzwischen Chef der Republikanerfraktion im Repräsentantenhaus, drehte 1966 dieses «Wie lange?» um und fragte: «Wie lange werden wir auf Recht und Ordnung – das Rückgrat unserer Kultur – zugunsten einer nachsichtigen Gesellschaftstheorie verzichten, nach der ein Mann, der einen Ziegelstein durch Ihr Fenster oder einen Brandsatz in Ihr Auto wirft, einfach nur ein missverstandenes und unterprivilegiertes Produkt einer zerbrochenen Familie ist?» Reagan ging noch weiter: «Arbeitende Männer und Frauen sollte man nicht bitten, die zusätzliche Last eines Teils der Gesellschaft mitzutragen, der zwar für sich selbst sorgen kann, es aber vorzieht, seinen Lebensunterhalt durch die Sozialhilfe zu sichern und auf Kosten pflichtbewussterer Bürger zu schnorren.» Mit solchen Aussagen förderte er eine rassistische Feindseligkeit, die nicht als «backlash» («Gegenreaktion»), sondern als «whitelash» bezeichnet wurde.[85]
Für seinen Wahlkampf um das Gouverneursamt hatte Reagan 1966 die kalifornische Politikberatungsfirma Spencer-Roberts engagiert. Die Glanzzeit von Whitaker und Baxter war zu Ende gegangen. Whitaker starb 1961. Doch Spencer-Roberts bediente sich des Regelbuchs von Whitaker und Baxter. «Weißt du was, Stu?», sagte Reagan zu Stuart Spencer. «Die Politik ist genau wie das Showbusiness. … Man beginnt mit einer starken Eröffnung, dann lässt man es eine Zeitlang gemütlicher angehen, und dann folgt noch ein starker Schluss.»[86]
Im Wahlkampf fand Reagan ein neues Zielobjekt: Collegestudenten. Er klagte über Undergraduate-«Unzufriedene», und als der Wahltag näher rückte, war es ihm wichtig, öffentlich Einladungen anzuprangern, die Studenten der University of California in Berkeley an zwei Redner ausgesprochen hatten: an Robert Kennedy, der zum Thema Bürgerrechte sprechen sollte, und an Stokely Carmichael, der von den Students for a Democratic Society (SDS) gebeten worden war, bei einer Konferenz über Black Power die Hauptrede zu halten. «Wir können es nicht zulassen, dass der Universitätscampus als Basis für das Schüren von Aufruhr genutzt wird», warnte Reagan. Er schickte Carmichael ein Telegramm, in dem er ihn drängte, die Einladung abzulehnen, und durchblicken ließ, dass ein Auftritt des SNCC-Vorsitzenden in Berkeley «starke Emotionen hervorrufen» würde, was eine schlaue Vorgehensweise war, wenn man sicherstellen wollte, dass Carmichael tatsächlich kam.[87]
Das FBI, das Hunderte von Bürgerrechtsaktivisten, darunter auch Martin Luther King, illegal überwacht und mit Schikanen überzogen hatte, hatte bereits 1964 eine Akte zu Carmichael angelegt und das Sammeln von Informationen 1966 intensiviert, als Carmichael über Black Power und Polizeibrutalität zu sprechen begann und dabei ausdrücklich Formen des Protests befürwortete, die später von der Bewegung «Black Lives Matter» übernommen wurden. Im Monat vor Carmichaels Rede in Berkeley erschoss ein weißer Polizist in Atlanta einen schwarzen Mann. Carmichael organisierte eine Protestaktion und sprach bei einer Kundgebung, auf die zweitägige Unruhen folgten. Ein FBI-Informant in Atlanta schickte J. Edgar Hoover ein verschlüsseltes Telegramm, dessen Text lautete: «CARMICHAEL MEINTE, NEGER SOLLTEN BÜRGERWEHRGRUPPEN BILDEN, UM POLIZEI ZU BEOBACHTEN, UND SOLLTEN IRGENDWELCHE AKTE VON POLIZEIBRUTALITÄT BEOBACHTET WERDEN, SOLLTE DIE NEGERBEVÖLKERUNG EIN KOMITEE BILDEN, UM IN SOLCHEN DINGEN DRUCK AUSZUÜBEN.» Carmichael wurde wegen Anstachelung zum Aufruhr angeklagt. Hoover intensivierte die Überwachung eines Personenkreises, den er als «schwarze nationalistische hassorientierte Gruppen» bezeichnete.[88] Carmichael wurde gegen Kaution freigelassen und brach, von Reagan herausgefordert – geködert –, nach Kalifornien auf.
Reagan hatte inzwischen seine Ablehnung des Free Speech Movement zum Kernthema seines Gouverneurswahlkampfs gemacht und versprach für den Fall seiner Wahl, gegen die «lautstarke Minderheit von Kritikern» in Berkeley vorzugehen. Vom UC-Verwaltungsratsmitglied Harry R. Haldeman ermuntert, sprach Reagan täglich über Studentenunruhen, zum Entsetzen seines Wahlkampfmanagers, der ihm sagte, dass dieses Thema in den Meinungsumfragen keine Spuren hinterlassen habe. «Das wird es noch», versprach Reagan.[89] Drei Wochen vor der Wahl rieten Reagans Wahlkämpfer dem Kandidaten, seine Aussichten würden sich verbessern, «wenn die Unruhen in der öffentlichen Diskussion wieder hochkochen». Carmichaels anstehender Besuch bot Reagan die Gelegenheit, seinen Wahlkampf gegen die protestierenden Studenten mit seiner Anprangerung schwarzer Militanz zu verbinden. Reagan forderte Carmichael öffentlich auf, nicht nach Kalifornien zu kommen, und bat seinen Gegenkandidaten, den amtierenden Gouverneur Pat Brown, sich ihm anzuschließen – wohl wissend, dass Brown dies verweigern würde. Carmichael spielte Reagan vollständig in die Karten.[90]
«Dies ist eine studentische Konferenz, die, so wie es sein sollte, auf dem Campus stattfindet», sagte der 25-jährige, hagere Carmichael feierlich zu seinem Publikum aus 10.000 Berkeley-Studenten. Frederick Douglass’ «Plea for Free Speech» von 1860 aufgreifend, erklärte Carmichael, dass die Vorschriften für öffentliches Reden auf einen Kampf darum hinausliefen, «ob schwarze Menschen das Recht haben werden, die Worte zu gebrauchen, die sie gebrauchen wollen, ohne dass weiße Menschen ihre Zustimmung geben». Unter dem Einfluss Carmichaels und der Neuen Linken änderte die Bürgerrechtsbewegung ihren Kurs. «Wir haben sechs Jahre lang von Freiheit gesprochen, und wir haben nichts bekommen», sagte Carmichael in Berkeley. «Ab jetzt sprechen wir von Black Power.» Der SNCC-Mann H. Rap Brown, der LBJ als «weißen Drecksack» («white honky cracker») bezeichnete, sagte: «John Brown war der einzige weiße Mann, den ich respektieren konnte, und er ist tot. Das Black Movement hat keine Verwendung für weiße Liberale. Wir brauchen Revolutionäre. Revolutionen brauchen Revolutionäre.» Huey Newton, ein Mitbegründer der Black Panthers, zitierte den Großen Vorsitzenden Mao Tse-tung: «Die politische Macht kommt aus den Gewehrläufen.»[91]
Reagan gelang ein Erdrutschsieg, und bei den Zwischenwahlen für den Kongress verpassten 27 der 48 Demokraten, die 1964 mit LBJ ins Amt gekommen waren, ihre Wiederwahl. Die Republikaner gewannen neun von zehn zur Wahl stehenden Gouverneursämtern und sicherten sich außerdem die Mehrheit in vielen Einzelstaatsparlamenten im ganzen Land. Doch die Wahlen von 1966 waren nicht so sehr ein Sieg von Republikanern über Demokraten, sie waren ein Sieg von Konservativen über Liberale.
Goldwaters Stern sank; Reagans Stern ging auf. Reagan, der konservative Fahnenträger, war der erste Politiker von nationaler Bedeutung, der die Intensität des Kalten Krieges auf die Innenpolitik übertrug. Er absolvierte zwei Amtszeiten als Gouverneur, hielt an seinen konservativen Überzeugungen fest und wartete den richtigen Zeitpunkt ab, während seine Partei nach rechts rückte. Als politisches Programm nahm er sich nicht weniger vor als die Revision des New Deal.
Als amtierender Gouverneur von Kalifornien verzichtete Reagan weder auf die Rhetorik von Recht und Ordnung noch auf seine scharfe Ablehnung der Redefreiheit an Universitäten. Als das kalifornische Parlament im Mai 1967 über ein Waffenkontrollgesetz debattierte, spazierten 30 von Bobby Seale angeführte Black Panthers, die mit einer Magnum, Schrotflinten und Pistolen bewaffnet waren, ins California State House. «Schwarze Menschen haben gebettelt, gebetet, Bittschriften eingereicht und alles Mögliche getan, um die rassistische weiße Machtstruktur zur Beseitigung des Unrechts zu bewegen, das historisch an schwarzen Menschen verübt worden ist», sagte Seale. «Für schwarze Menschen ist die Zeit gekommen, sich gegen diesen Terror zu bewaffnen, bevor es zu spät ist.» Reagan, der das Gesetz unterzeichnete, sagte der Presse, er sehe «keinen Grund, warum ein Bürger auf der Straße heutzutage geladene Waffen bei sich tragen sollte».[92]
Johnson forderte eine nationale Beraterkommission zur Untersuchung der Unruhen. Unter dem Vorsitz von Gouverneur Otto Kerner aus Illinois erarbeitete die sogenannte Kerner-Kommission einen 426 Seiten umfassenden Bericht, forderte darin Ausgaben in Höhe von 30 Milliarden Dollar zur Unterstützung der Städte und, so deuteten es die Konservativen, wies die Schuld für die Gewalt in den schwarzen Stadtteilen im Wesentlichen den Weißen zu. Die Kommission empfahl höhere Ausgaben für den sozialen Wohnungsbau, die Einrichtung eines umfangreichen Arbeitsförderprogramms und eine Verpflichtung auf die Beseitigung der Rassentrennung in öffentlichen Bildungseinrichtungen. Kerner und seine Kollegen warnten, das Ausbleiben eines Kurswechsels «könnte gut vorstellbar zu einer Art von städtischer Apartheid mit Quasi-Kriegsrecht in vielen größeren Städten führen, zur zwangsweisen Ansiedlung von Negern in segregierten Gebieten und zu einer drastischen Verringerung der persönlichen Freiheit für alle Amerikaner, besonders für die Neger». Johnson ignorierte den Bericht, mit Ausnahme einer Empfehlung zur Ausweitung der Polizeitätigkeit in den Städten.[93]
Mit jedem weiteren Fall von Rassenunruhen, mit jeder neuen Form von öffentlichem Protest wuchs Reagans politisches Kapital. «Die Redefreiheit verlangt nicht, dem Redner ein Podium bereitzustellen», sagte er 1967. «Ich glaube nicht, dass man diesen Leuten für die Präsentation ihrer Ansichten das Prestige unserer Universitätscampusse zur Verfügung stellen sollte.»[94] Zu einem späteren Zeitpunkt in jenem Jahr protestierten schwarze Studenten am San Jose College unter der Führung eines Dashiki-Hemden tragenden Soziologieprofessors und ehemaligen Diskuswerfers namens Harry Edwards gegen Rassismus auf dem Campus und drohten damit, das Footballspiel am Eröffnungstag zu stören. Der Präsident des Colleges sagte das Spiel aus Furcht vor Unruhen ab – es war «das erste Mal, dass ein Football-Wettkampf in Amerika wegen Rassenunruhen abgesagt worden war», berichtete die New York Times. Reagan bezeichnete die Absage des Spiels als ein «Nachgeben gegenüber Rechtsbrechern», sprach Edwards die Befähigung zur Lehre ab und forderte dessen Entlassung. Edwards bezeichnete Reagan als «für ein Regierungsamt ungeeignet» und begann zwei Monate später mit der Organisastion einer landesweiten Kampagne für den Boykott der Olympischen Spiele 1968 durch schwarze Athleten – den Auftakt bildete ein Artikel in der Saturday Evening Post unter der Überschrift «Why Negroes Should Boycott Whitey’s Olympics» –, die zu dem Black-Power-Protest zweier Medaillengewinner mit hochgereckten Fäusten im schwarzen Handschuh führte (was Jahrzehnte später protestierenden NFL-Profis, die sich beim Abspielen der Nationalhymne hinknieten, als Inspiration diente).[95]
Der Aufschrei gegen den eskalierenden Krieg in Vietnam aktivierte unterdessen die Neue Linke, gab einer sprunghaft wachsenden und größtenteils unorganisierten Bewegung einen Schwerpunkt und zugleich auch Intensität, indem er die Free-Speech- und die Bürgerrechtsbewegung zusammenführte. John Lewis verkündete 1966 die Ablehnung des Vietnamkriegs durch das SNCC und dessen Unterstützung für Kriegsdienstverweigerer, die Lewis als «diejenigen Männer in diesem Land» bezeichnete, «die nicht bereit sind, einer Einberufung zum Militärdienst zu folgen, die sie zwingen würde, ihr Leben in den Dienst der Aggression der Vereinigten Staaten in Vietnam zu stellen, und das im Namen der ‹Freiheit›, die wir in diesem Land als so trügerisch empfinden». Stokely Carmichael hatte die Studenten in Berkeley dazu aufgerufen, ihre Einberufungsbescheide zu verbrennen. Muhammad Ali, der Weltmeister im Schwergewichtsboxen, weigerte sich, in Vietnam zu kämpfen, und fragte: «Warum verlangen sie von mir, eine Uniform anzuziehen und Zehntausende Meilen von zu Hause Bomben und Geschosse auf braune Menschen in Vietnam zu werfen, während die sogenannten Neger in Louisville wie Hunde behandelt werden?» Der Widerstand gegen den Krieg wurde breiter und tiefer, als Martin Luther King sich ihm 1967 anschloss und sein Bündnis mit Johnson beendete, indem er erklärte: «Wir führen einen unmoralischen Krieg.»[96]
Johnson verlor im Krieg sich selbst. Die Außenpolitik war noch nie seine Stärke gewesen. Und er stellte viel zu spät fest, dass «The Treatment» bei Ho Chi Minh nicht funktionierte. 1967 waren fast eine halbe Million amerikanische Soldaten in Vietnam stationiert. Allein in jenem Jahr starben 9000 Amerikaner in Vietnam, und der Krieg verschlang 25 Milliarden Dollar aus dem Bundeshaushalt. Um dieses Geld aufzubringen, sparte Johnson, der sich Steuererhöhungen verweigerte und den Kongress eben erst zur Verabschiedung von Steuersenkungen veranlasst hatte, an den Mitteln für die Great Society. Als er dann schließlich bereit war, um eine Steuererhöhung zu bitten, erhielt er diese nur im Gegenzug für seine Zustimmung zu weiteren Mittelkürzungen bei den Programmen für die Bekämpfung der Armut. Bis dahin hatte die Inflation stark zugelegt, was Wirtschaftstheorien, die den Konservativen zusagten, Glaubwürdigkeit verlieh. Robert McNamara, Johnsons Verteidigungsminister und ein Architekt seines Krieges, wollte 1968 nicht mehr weitermachen und trat zurück.[97]
Die Nordvietnamesen griffen im Januar 1968 während des vietnamesischen Neujahrsfestes Tet überall in Südvietnam an, auch die US-Botschaft in Saigon gehörte zu ihren Zielen. Johnson hatte zuvor behauptet, die Nordvietnamesen seien geschwächt, und der Krieg sei so gut wie gewonnen. Die Tet-Offensive offenbarte das Ausmaß dieser Lüge. James Reston, Kolumnist der New York Times, erklärte im März: «Die Hauptkrise spielt sich nicht in Vietnam oder in den großen Städten ab, sondern besteht in dem Gefühl, dass das politische System für den Umgang mit diesen Dingen nicht mehr funktioniert.»[98]
Während die Nachrichten aus Vietnam den Amerikanern schwer zusetzten, begann die Zeit der Vorwahlen für die Präsidentschaftsbewerber. LBJ gewann die Vorwahl der Demokraten in New Hampshire mit nur 49 Prozent der Stimmen. Eugene McCarthy, ein Senator aus Minnesota und Gegner des Krieges, hatte 42 Prozent der Stimmen auf sich vereinigt. Robert Kennedy, durch Johnsons knappen Sieg ermutigt, stieg jetzt ins Kandidatenrennen ein. Kennedy, der Johnson 1963 gedrängt hatte, sich nicht aus Vietnam zurückzuziehen, sprach sich jetzt gegen das aus, was er «Johnsons Krieg» nannte. Auch George Wallace meldete seine Bewerbung an. Johnson wurde von links und von rechts bedrängt, sowohl wegen der Entwicklung in den amerikanischen Städten als auch wegen der Lage in Vietnam. Die beiden Themen wurden zudem nicht besonders oft auseinandergehalten. Wallace hatte 1966 nicht für eine Wiederwahl als Gouverneur von Alabama antreten können, weil dies zur damaligen Zeit gesetzlich nicht zulässig war, weshalb seine Frau Lurleen an seiner Stelle kandidierte (und mit einer 2:1-Mehrheit gewann). Als George Wallace 1968 beschloss, sich um die Präsidentschaftskandidatur für die Demokratische Partei zu bewerben, sagte Stokely Carmichael bei einer Rede in Birmingham, falls die Army einem schwarzen Soldaten ein Gewehr in die Hand gebe und «ihm befiehlt, seinen Feind zu erschießen, … wenn er dann nicht Lurleen und George und den kleinen Junior erschießt, ist er ein Dummkopf».[99] Johnson musste sogar gegen den Geist von Barry Goldwater antreten. Auf einer Werbetafel in Chicago, auf der 1964 gestanden hatte: «In Your Heart, You Know He’s Right», war vier Jahre später zu lesen: «Now You Know He Was Right.»[100]
Angewidert und entmutigt gab Johnson am 31. März 1968 bekannt, dass er nicht für eine Wiederwahl kandidieren werde. Er hatte beschlossen, sich für die Beendigung des Krieges einzusetzen. «Ich glaube nicht, dass ich auch nur eine Stunde oder einen Tag meiner Zeit mit irgendwelchen Parteiangelegenheiten zubringen sollte, solange unsere Hoffnung und die Hoffnung der Welt auf Frieden Tag für Tag auf dem Spiel stehen», sagte er in einer Fernsehansprache. Die verblüffte New York Times erschien mit einer ungläubig-staunenden dreizeiligen Überschrift:
JOHNSON SAYS HE WON’T RUN;
HALTS NORTH VIETNAM RAIDS;
BIDS HANOI JOIN PEACE MOVES[101](Johnson sagt, er werde nicht kandidieren/Stoppt Bombenangriffe auf Nordvietnam/Bietet Hanoi Friedensgespräche an)
Doch der Friede sollte nicht kommen; noch sollte die Mäßigung von Dauer sein. Vier Tage später wurde Martin Luther King auf dem Balkon eines Hotels in Memphis von einem weißen Ex-Sträfling erschossen. Als die Nachricht sich verbreitete, kam es in 130 Städten zu Unruhen. Aus Kalifornien tönte Reagan, der sich und anderen kaum einen Augenblick der Trauer gewährte, Kings Ermordung sei ein Teil der «großen Tragödie, die einsetzte, als wir Kompromisse bei Recht und Ordnung zu machen begannen und die Menschen damit anfingen, sich auszusuchen, welche Gesetze sie brechen wollten». Stokely Carmichael verkündete, dass «das weiße Amerika Dr. King tötete» und mit dieser Tat «dem schwarzen Amerika den Krieg erklärt» habe. Einer Zuhörermenge in Washington empfahl er, «nach Hause zu gehen und zu den Waffen zu greifen».[102]
Ein erschütterter Robert Kennedy sprach in Indianapolis von der Ladefläche eines Tiefladers. «Was wir in den Vereinigten Staaten brauchen, ist nicht Spaltung», sagte er und fingerte dabei nervös an dem Papier herum, auf dem er sich hastig ein paar Notizen gemacht hatte. «Was wir in den Vereinigten Staaten brauchen, ist nicht Hass; was wir in den Vereinigten Staaten brauchen, ist nicht Gewalt und Gesetzlosigkeit, sondern Liebe und Weisheit und Mitgefühl füreinander und ein Gefühl der Gerechtigkeit gegenüber den Menschen, die in unserem Land immer noch leiden, ob sie nun weiß oder schwarz sind.» Zwei Monate später, nach seinem Sieg bei der Vorwahl in Kalifornien, wurde Kennedy erschossen, als er den Veranstaltungssaal eines Hotels in Los Angeles verließ.[103]
Die Nation trauerte wie Hiob, der in der Wüste auf die Knie sank. Was noch?
RICHARD NIXONS AUGENBLICK WAR GEKOMMEN. Er würde seinen Antikommunismus umwidmen und in die Form einer neuen politischen Rhetorik kleiden: Antiliberalismus. Er würde, wie Reagan das zwei Jahre zuvor bei seiner Kandidatur für das Amt des Gouverneurs von Kalifornien getan hatte, seinen Wahlkampf für die Nominierung als Präsidentschaftskandidat der Republikaner und, später dann, als Präsidentschaftsbewerber, fest mit dem Versprechen verbinden, Recht und Ordnung wiederherzustellen. «Wir sind ausgiebig davor gewarnt worden, dass wir uns auf die Aussicht eines heraufziehenden Krieges in der eigenen Gesellschaft gefasst machen müssen», sagte er am 7. März 1968 bei einer Radioansprache nur wenige Tage vor der Vorwahl in New Hampshire. «Wir haben den sich aufstauenden Hass gesehen, wir haben die Drohungen gehört, in denen es um Niederbrennen und Zerstören ging. In Watts und Harlem und Detroit und Newark haben wir einen Vorgeschmack darauf bekommen, was die Organisationen des Aufstands für den bevorstehenden Sommer planen.» Er versprach, er werde sich, sollte er gewählt werden, vor diesen Drohungen nicht wegducken. In New Hampshire erhielt er 79 Prozent der republikanischen Stimmen.[104]
Nixon wusste, dass seine Chancen umso besser standen, je gewalttätiger die Unruhen ausfielen und je schlimmer die aus Vietnam eintreffenden Nachrichten waren. Weil er glaubte, dass ihm ein Friedensschluss den Weg ins Weiße Haus versperren würde, sorgte er dafür, dass Anna Chennault, die in China geborene Witwe eines US-Generals, als Kontaktperson fungierte und den Verantwortlichen in Südvietnam versprach, sie würden bessere Friedensbedingungen bekommen, wenn sie bis nach der Wahl und einem Sieg Nixons abwarteten. Johnson hörte gerüchteweise von dieser Vereinbarung, rief Nixon an und konfrontierte ihn mit dem Sachverhalt. Nixon log und stritt alles ab. Johnson gelang es nicht, einen Frieden auszuhandeln; die Kämpfe sollten noch weitere fünf Jahre dauern und zahllose Leben fordern. Bis zur Einstellung der Bombardierungen 1973 hatten die Vereinigten Staaten mehr als 7,5 Millionen Tonnen Bomben auf Vietnam und die Nachbarländer Laos und Kambodscha abgeworfen, was der Sprengkraft von 100 Atombomben und der dreifachen Menge des im gesamten Zweiten Weltkrieg eingesetzten Sprengstoffs entsprach.[105]
Während King und Kennedy zur Liebe aufgerufen hatten, wusste Nixon, wie Carmichael, um die Macht des Hasses. Sein junger Politikstratege, ein Zahlenfresser namens Kevin Phillips, erklärte, wer Politik verstehen wolle, müsse begreifen, wer wen hasst: «Das ist das Geheimnis.» Phillips’ Rat an Nixon wurde als «southern strategy» bekannt, und diese Strategie stand für das Ziel, die Südstaatendemokraten zu gewinnen und dafür auf die Afroamerikaner zu verzichten, indem man die Bürgerrechte als politisches Ziel zugunsten von Recht und Ordnung aufgab. Bei der Vorbereitung auf den Nationalkonvent der Republikaner, der im August in Miami anstand, ließ sich Nixon von Phillips belehren, der ihm erklärte, die Wahl werde in der Auseinandersetzung um das «Recht-und-Ordnung/Neger-sozioökonomische Revolutionssyndrom» gewonnen oder verloren, doch es bestehe keine Notwendigkeit, so zu reden wie George Wallace. All dies lasse sich sehr viel subtiler erledigen. In seiner Dankesrede nach der Nominierung in Miami beschwor Nixon eine Apokalypse herauf. «Wenn wir uns Amerika ansehen, sehen wir Städte, die in Rauch und Flammen gehüllt sind», sagte er. «Wir hören Sirenen in der Nacht.» Aber es gebe noch ein anderes Geräusch, ein leiseres Geräusch, eine leisere Stimme – eine gedämpfte Stimme –, der die Amerikaner zuhören sollten. «Es ist die ruhige Stimme im Aufruhr und im Geschrei. Es ist die Stimme der großen Mehrheit der Amerikaner, der vergessenen Amerikaner – der Nicht-Schreier; der Nicht-Demonstranten. Sie sind weder Rassisten, noch sind sie krank; sie sind des Verbrechens nicht schuldig, das dieses Land heimsucht … Sie sind gute Menschen; sie sind anständige Menschen; sie arbeiten, sie sparen, sie zahlen ihre Steuern, und sie sorgen sich.»[106]
Die GOP nahm einen Schwerpunkt in ihr Wahlprogramm auf, in dem von Verbrechensbekämpfung die Rede war (und die Kerner-Kommission indirekt kritisiert wurde): «Wir müssen das Prinzip wieder durchsetzen, dass Menschen verantwortlich sind für das, was sie tun, dass Kriminelle für ihre Verbrechen verantwortlich sind, dass das Lebensumfeld eines Jugendlichen bei der Erklärung eines Verbrechens des erwachsenen Mannes hilfreich sein kann, aber das Verbrechen nicht entschuldigt.» Doch Nixons Berater John Dean sagte später: «Ich produzierte diesen Blödsinn über Nixons Politik gegen das Verbrechen, bevor er gewählt wurde. Und es war Blödsinn. Wir wussten das. Der Nixon-Wahlkampf forderte nichts zum Thema Verbrechensbekämpfung, was Ramsey Clark [Johnsons Justizminister] unter LBJs Verantwortung nicht schon tat. Wir machten nur mehr Lärm.»[107]
Zwei Wochen nach dem Treffen der Republikaner in Miami kam der Nationalkonvent der Demokraten in Chicago zusammen. Auch Demonstranten gegen den Krieg kamen nach Chicago, neben Mitgliedern der Students for a Democratic Society, Yippies, Anarchisten und Trittbrettfahrern. Sie trafen auf die militärische Polizeistreitmacht einer Besatzungsarmee: rund 12.000 Polizisten aus Chicago, 6000 Nationalgardisten, 6000 Soldaten der Army und 1000 verdeckt operierende Geheimdienstagenten in Zivil. Richard Daley, der Bürgermeister der Stadt, kündigte an, dass Recht und Ordnung sich durchsetzen würden.[108] Selbst in der Versammlungshalle waren bewaffnete Polizisten präsent. Die veranstaltende Partei war führungslos: Johnson war von der Kandidatur zurückgetreten, Robert Kennedy war ermordet worden. Hubert Humphrey, Johnsons Vizepräsident, der sich nicht einer einzigen Vorwahl gestellt hatte, sicherte sich die Nominierung gegen Eugene McCarthy, was den Zorn des linken Parteiflügels erregte.
Im November siegte Nixon über Humphrey, indem er diejenigen Amerikaner für sich gewann, die glaubten, er spreche für sie, die «schweigende Mehrheit». Die Parteien wurden nach ideologischen Gesichtspunkten eingeordnet. Und sie wurden nach Rassenzugehörigkeit sortiert. Bei der Präsidentenwahl 1960 hatten etwa drei von fünf Arbeitern die Demokraten gewählt; 1968 tat das nur noch jeder Dritte. 1960 hatte einer von drei Afroamerikanern für Nixon und gegen John F. Kennedy gestimmt; 1972 gab nur noch jeder zehnte Wähler aus dieser Bevölkerungsgruppe Nixon den Vorzug gegenüber dem Kandidaten der Demokratischen Partei, Senator George McGovern aus South Dakota.[109]
Eine Ära des politischen Konsenses in der Jahrhundertmitte hatte ein nahezu unbegreiflich gewalttätiges Ende gefunden. Die amerikanische Politik sollte nach 1968 abermals von Spaltung, Ressentiments und Bösartigkeit geprägt werden. Selbst Leone Baxter zeigte eine gewisse Reue. In einem Interview in den 1970er Jahren mahnte sie, die Politikberatung müsse «in den Händen der moralisch gradlinigsten, prinzipienfestesten Menschen» bleiben «oder sie wird in die Hände von Leuten geraten, denen die Welt, in der sie leben, nichts bedeutet.»[110]
Und was war mit der amerikanischen Vergangenheit? War die amerikanische Geschichte eine Lüge? Die Bürgerrechte und Vietnam lenkten die Aufmerksamkeit auf Aspekte der amerikanischen Geschichte, die in Lehrbüchern zur amerikanischen Geschichte von Anfang an weggelassen worden waren. Das 1968 gegründete American Indian Movement stellte die Geschichte von den Ursprüngen der Nation infrage. Deloria veröffentlichte 1969 Custer Died for Your Sins: An Indian Manifesto, eines der einflussreichsten Bücher des Jahrzehnts, eine brennende und suchende Anklage der mit der Eroberung verbundenen Gräueltaten und der Beseitigung der indigenen Völker aus der Erzählung der amerikanischen Geschichte. Im Erscheinungsjahr des Buches besetzten Indianer von All Tribes, vom American Indian Movement und von anderen Gruppen ein leerstehendes Gefängnis auf Alcatraz Island, verlangten die Anerkennung indigener Souveränität durch die Bundesregierung und die Umwidmung der Insel in ein Zentrum für Native American Studies. Die Besetzung der Insel sollte bis zur Jahresmitte 1971 andauern. Die Black-Power-Bewegung, die Chicano-Bewegung und eine wachsende Bewegung von Amerikanern asiatischer Herkunft stellten andere Forderungen. Der Chicano-Aktivist Rodolfo Gonzales, Gründer des Crusade for Justice, führte 1969 in Denver einen Unterrichtsboykott von Schülern mexikanischer Herkunft an, die gegen den Lehrplan zur amerikanischen Geschichte protestierten und dessen Revision verlangten, damit «in allen Schulen dieser Stadt durchgesetzt wird, dass auch die Geschichte unseres Volkes, unserer Kultur und Sprache und unserer Beiträge zu diesem Land gelehrt wird».[111] An Colleges wurden Institute für Black Studies eingerichtet – das erste 1969 am San Francisco State College –, gefolgt von Instituten für Chicano Studies und Women’s Studies – das erste am San Diego State College 1970 – und Sexuality and Gender Studies. Eine Revolution auf den Straßen sorgte für eine Revolution in der wissenschaftlichen Forschung: eine neue amerikanische Vergangenheit.
Eine neue amerikanische Geschichte – neben einer allgemeinen Erweiterung des Forschungsspektrums in den Sozial- und Geisteswissenschaften – war längst überfällig. Aber im Kontext des Krieges in Vietnam gerieten das Hinterfragen akademischer Autorität und der Verweis auf die Voreingenommenheit und Befangenheit von Experten mitunter zu einem Zynismus in Sachen Wahrheit. Ein großer Teil der Forschungskapazitäten an den Universitäten war – nicht nur in den Bereichen Ingenieurswissenschaften und Waffentechnik – für das Führen und die Unterstützung des Krieges in Vietnam eingesetzt worden, eines Krieges, den die Mehrheit der Amerikaner für verfehlt und viele Kritiker auch für unmoralisch hielten. Der Kalte Krieg hatte vielen Wissenschaftlern und Gelehrten des Landes abverlangt, ihre Forschung für das Verfolgen militärischer und außenpolitischer Ziele einzusetzen; der Vietnamkrieg hatte die akademische Welt insgesamt deformiert. Anhörungen des Senats zu den Militärausgaben enthüllten in der Zeit nach der Tet-Offensive – neben zahlreichen anderen akademischen Skandalen – den Umfang der jahrelangen Tätigkeit von Simulmatics in Vietnam, wo das Unternehmen im Bestreben, die Ursachen des Aufstands zu verstehen, Meinungsumfragen veranstaltete und die Träume vietnamesischer Dorfbewohner analysierte, ein Projekt, dem es nicht an Bezügen zur übrigen Forschung der Firma zur Bekämpfung von «Unruhen in Städten» fehlte. Senator J. William Fulbright aus Arkansas, der die Hearings anberaumte, kritisierte Sozialwissenschaftler wie Ithiel de Sola Pool scharf, weil sie versäumt hätten, «ein effektives Gegengewicht zum militärisch-industriellen Komplex» zu bilden, «indem sie ihre Betonung der traditionellen Werte unserer Demokratie stärkten», und sich stattdessen «dem Monolithen anschlossen». Noam Chomsky schrieb 1969 in einem Beitrag für die New York Review of Books, ein großer Teil des akademischen Lebens in den Vereinigten Staaten – die Produktion des Wissens selbst – sei für das Führen eines grotesken Krieges eingespannt worden, in dem aller Mut von jungen Leuten gezeigt worden sei, von den jungen Soldaten, die im Krieg kämpften, und von jungen Studenten, die gegen ihn protestierten. «Während junge Andersdenkende sich für die Wiederbelebung des amerikanischen Versprechens einsetzen, arbeitet die ältere Generation weiter an dessen Beseitigung», lautete das vernichtende Urteil Fulbrights, der die Intellektuellen der Nation «der Aufgabe ihrer Unabhängigkeit, der Vernachlässigung der Lehre und der Verzerrung der wissenschaftlichen Arbeit» beschuldigte und den Universitäten vorwarf, ihre grundlegende Funktion aufgegeben zu haben, weil sie «nicht nur ihrer Verantwortung gegenüber ihren Studenten nicht gerecht wurden», sondern auch «eine öffentliche Treuhandschaft» verrieten.[112]
Die akademische Welt sollte ihre Rechnung präsentiert bekommen. Vietnam veranlasste eine große Zahl amerikanischer Intellektueller zum Rückzug aus dem öffentlichen Leben, mit der Begründung, die einzige zu verteidigende moralische Haltung sei, sich der Beteiligung an Diskussionen über politische Konzepte und praktische Politik zu verweigern. Doch an den Colleges und Universitäten führten die Enthüllungen über den von den Regierungen Kennedys, Johnsons und Nixons begangenen Verrat und die Komplizenschaft von Wissenschaftlern und Gelehrten leicht zu einer Desillusionierung und tiefen Entfremdung von der Idealvorstellung von Amerika. «Ich lernte, meine Landsleute, meine Regierung und die gesamte englischsprachige Welt mit ihrer Geschichte von Völkermord und internationalen Eroberungen zu verachten», sagte eine radikale Stimme der 1960er Jahre. «Ich war ein normales Kind.»[113]
In manchen Nischen der Linken wurde der Gedanke, dass alles eine Lüge sei, zu einer modischen Wahrheit. Poststrukturalisten und Postmodernisten durchdrangen nicht nur das intellektuelle Leben Amerikas, sondern auch die amerikanische Politik. «Plötzlich erkannte ich, dass sie nicht wirklich daran glaubten, dass es ein Wesen der Dinge gebe», schrieb der Gesellschaftskritiker Paul Goodman über seine Studenten Ende der 1960er Jahre. «Es gab kein Wissen, sondern nur die Soziologie des Wissens. Sie hatten so gut gelernt, dass physikalische und soziologische Forschung zum Nutzen der herrschenden Klasse subventioniert und durchgeführt wird, dass sie bezweifelten, es gebe überhaupt so etwas wie die schlichte Wahrheit.»[114] Und das war vor Watergate.
Auf der rechten Seite des politischen Spektrums gehörte derweil zu einem neuen Politikverständnis auch eine neue politische Mathematik, die einen neuartigen und noch tieferen Zynismus hervorbrachte. Nixons Wahlkampf von 1968 hatte mit seiner «southern strategy» auf einzigartige Weise spalterisch gewirkt. Schon kurz nach seinem Amtsantritt dachte Nixon über seine Wiederwahl nach und plante einen noch kontroverser geführten Wahlkampf, der die Richtung seiner Präsidentschaft bestimmen sollte. Kevin Phillips’ Buch The Emerging Republican Majority erschien 1969. Nixon las es in der Weihnachtszeit und sagte zu seinem Stabschef H. R. Haldeman: «Bemüht euch um die Polen, Italiener, Iren, wir müssen lernen, die schweigende Mehrheit zu verstehen …, kümmert euch nicht um Juden & Schwarze.»[115] (Haldeman, ein Kalifornier, hatte sich 1952 als Freiwilliger für Eisenhower-Nixon engagiert und später dann seinen Job aufgegeben, um Nixons ersten Präsidentschaftswahlkampf zu leiten. Von Campaigns, Inc., hatte er gelernt, wie man Wahlkämpfe führt. «Whitaker und Baxter, das war der großartige alte Wahlkampf», sagte Haldeman einmal, «der Großpapa».)[116]
Die Demokraten planten ihren eigenen Weg zu einer Mehrheit und zeigten nicht weniger Interesse an einer Segmentierung des Marktes. Richard M. Scammon und Ben J. Wattenberg, zwei demokratische Strategen, veröffentlichten ihr eigenes Manifest nur wenige Monate nach dem Erscheinen von Phillips’ Buch. Wie schon Phillips vor ihnen nutzten sie Computer zur Analyse von Wahlergebnissen und Meinungsumfragen. Die beiden Männer vertraten in The Real Majority (1970) die Ansicht, dass zusätzlich zu den Brot-und-Butter-Fragen, die für einen so langen Zeitraum das Wahlverhalten der Bürger bestimmt hätten, Folgendes gelte: «Die Amerikaner ordnen sich politisch jetzt offensichtlich auch entlang der Achsen bestimmter gesellschaftlicher Stellungen ein.» Die GOP rücke nach rechts, um die Gegenreaktion auf die Bürgerrechtsbewegung für sich zu nutzen, und einige Leute in der Demokratischen Partei planten einen Linksruck, erklärten Scammon und Wattenberg: «Unter dem Banner einer Neuen Politik ist die Rede von der Bildung einer neuen Koalition auf der Linken, die sich zusammensetzt aus den jungen Leuten, den Schwarzen, den Armen, den gut Ausgebildeten, den der Gesellschaft Entfremdeten, den Minderheitengruppen und Intellektuellen – während der amerikanische Mittelstand, und hier ganz besonders weiße Gewerkschafter, den Reihen der ‹Rassisten› zugeordnet werden.» Diese Koalition wäre eine Katastrophe für die Demokratische Partei, sagten Scammon und Wattenberg voraus und wandten sich energisch gegen eine solche Perspektive. «Die große Mehrheit der Wählerschaft in Amerika ist nicht jung, nicht arm und nicht schwarz; sie ist im mittleren Alter, gehört zur Mittelschicht und hat mittlere Ansichten», führten sie aus, und die Durchschnittswählerin sei, statistisch gesehen, eine 47 Jahre alte katholische Hausfrau aus Dayton, Ohio, die mit einem Maschinenschlosser verheiratet sei:
Zu wissen, dass die Dame in Dayton Angst davor hat, abends alleine zu Fuß unterwegs zu sein, zu wissen, dass sie, wenn es um Schwarze und Bürgerrechte geht, hin und her gerissen ist, weil sie vor dem Umzug in den Vorort in einem Viertel lebte, das zu einem rein schwarzen Stadtteil wurde, zu wissen, dass ihr Schwager Polizist ist, zu wissen, dass sie nicht das Geld für einen Umzug hat, falls ihr Viertel herunterkommen sollte, zu wissen, dass sie zutiefst verzweifelt ist, weil ihr Sohn ein Community Junior College besucht, auf dessen Campus LSD gefunden wurde – all das zu wissen, ist der Beginn zeitgenössischer politischer Weisheit.
Scammon und Wattenberg empfahlen, die Demokraten sollten sich zur Mitte hin orientieren. Sie befürchteten jedoch, dass die Demokraten ihren Rat nicht annehmen würden, und sie hatten Recht.[117]
Nixon dagegen ignorierte ihren Rat nicht. Er las ein Vorabexemplar von The Real Majority bereits drei Wochen vor Erscheinen des Buches. Der Präsident «sprach über Real Majority und die Notwendigkeit, dieses Denken all unseren Leuten zu vermitteln», hielt Haldeman in seinen Notizen fest. «Man muss über Pornografie, Drogen, Jugendkriminalität sprechen», sagte Nixon. «Wir sollten unsere Strategie vorrangig auf enttäuschte Demokraten ausrichten, auf Arbeiter und weiße ethnische Gruppen in der Arbeiterschaft» und «uns daranmachen, die Stimme der 47-jährigen Hausfrau in Dayton zu bekommen». Er beschloss, den strategischen Kurs des Weißen Hauses für die Zwischenwahlen von 1970 zu ändern, stoppte eine Kampagne gegen Demokraten als «big spenders» und ersetzte sie durch eine Kampagne um die Stimmen der Arbeiterschaft auf der Basis sozialer Probleme, die von Marihuana bis zu Pornografie reichten. Er beauftragte seinen Vizepräsidenten Spiro Agnew damit, die Demokraten aus der politischen Mitte zu verdrängen, indem er Persönlichkeiten wie Edward Kennedy als «radikale Liberale» bezeichnete. Nixons Mitarbeiter münzten dieses Argument in Wahlkampfrhetorik um und legten ihm nahe, sich dieser Botschaft zu bedienen, wenn er mit Wählern sprach: «Rassische Minderheiten sagen heute, dass man es in Amerika zu nichts mehr bringen kann. Damit meinen sie in Wirklichkeit, dass sie sich weigern, ganz unten auf der Leiter anzufangen, so wie Sie das taten. Sie wollen Sie übertreffen. … Sie wollen das geschenkt bekommen.» Der Politikwissenschaftler Andrew Hacker beobachtete diesen Sachstand und verkündete 1970 «das Ende der amerikanischen Ära», was er damit begründete, dass die Nation keine Nation mehr sei, sondern eine Ansammlung von «200 Millionen Egos».[118]
Nixon, dessen Stärke immer die Außenpolitik gewesen war, interessierte sich nicht besonders für die Innenpolitik, die er weitgehend seinem Mitarbeiter John Ehrlichman überließ. Er interessierte sich jedoch für die gezielte Verwendung der Innenpolitik, um Konflikte zwischen seinen Gegnern zu vertiefen. Den Wohlfahrtsstaat bezeichnete er als «Errichtung von Außentoiletten in Peoria». Er entschied sich dafür, auf die Arbeitslosigkeit und die wachsende Zahl von Sozialhilfeempfängern mit einem Vorschlag zu reagieren, den als Erster der Volkswirtschaftler Milton Friedman von der University of Chicago in den 1950er Jahren gemacht hatte. Seine wichtigste innenpolitische Initiative, die im August 1969 bekanntgegeben wurde, war ein Programm für ein garantiertes Einkommen, das er als Family Assistance Plan bezeichnete. Es hätte das Wohlfahrtssystem zerstört und Sozialarbeiter und zahlreiche Sozialprogramme beseitigt und durch eine Geldzahlung ersetzt, die alle Personen erhalten sollten, die weniger als ein bestimmtes Einkommensniveau verdienten. Der Family Assistance Plan bot, im Unterschied zum bestehenden Wohlfahrtsprogramm, den Armen einen Anreiz zu arbeiten; die Geldzahlung stieg mit dem Einkommensniveau. Als eine Gallup-Meinungsumfrage wissen wollte: «Würden Sie einen solchen Plan befürworten oder ablehnen?», antworteten 62 Prozent der Befragten, sie wären dagegen.[119]
Während Nixons erster Amtszeit wuchs in politischen Kreisen die Opposition. Die Konservativen waren gegen den Family Assistance Plan, weil er ein Almosen der Regierung war; die Linke, vor allem die National Welfare Rights Organization, sprach sich gegen dieses Vorhaben aus, weil es ihr nicht großzügig genug war («Zap FAP» stand auf ihren Plakaten). Nixon schaute den Auseinandersetzungen genüsslich zu. Und als ein für ihn politisch günstiger Zeitpunkt gekommen war, gab er den Plan auf. «Machen Sie viel Aufhebens um den Plan, aber stellen Sie sicher, dass er von Demokraten zunichte gemacht wird», sagte er zu Haldeman.[120]
Nixons Machenschaften im Umgang mit dem Kongress waren gar nicht so viel zynischer als das Vorgehen einiger anderer amerikanischer Präsidenten. Aber der Eifer, mit dem er dafür sorgen wollte, dass die Amerikaner einander nicht mehr wirklich vertrauten, war ungewöhnlich. Er beauftragte oft Agnew mit dem unangenehmeren Teil seiner Arbeit, vor allem, wenn es um Angriffe auf die Presse und liberale Intellektuelle ging. «Mein Hauptbeitrag zur nationalen politischen Szene ist gewesen, das amerikanische Volk zu spalten», sagte Agnew später. «Ich bekenne mich in diesem Anklagepunkt nicht nur schuldig, er schmeichelt mir auch in gewisser Weise.»[121]
Viele der Mittel, die Nixon in der Innen- wie in der Außenpolitik einsetzte, um seine Widersacher zu diskreditieren und anzugreifen, waren mit Formen des Machtmissbrauchs verbunden, die während des Kalten Krieges allgemein üblich geworden waren, als eine antikommunistische Hysterie und die dringenden Erfordernisse der nationalen Sicherheit über das Urteilsvermögen und den Rechtsstaat triumphiert hatten. Auch andere Präsidenten in der Zeit des Kalten Krieges hatten die CIA für verdeckte Operationen im Ausland genutzt, das FBI hatte amerikanische Bürger ausgespäht, und die Finanzbehörden hatten politische Gegner überprüft. Aber Nixon kam man auf die Schliche, und das lag teilweise an seiner eigenen Paranoia, Unsicherheit und Rücksichtslosigkeit. Der Beleg für seine Doppelzüngigkeit, der durch die im Weißen Haus angefertigten Tonbandaufnahmen geliefert wurde, brachte eine neue Art von historischen Beweisstücken nicht nur in die Archive, sondern auch ins öffentliche Bewusstsein, eine Art von Beweis, die viel intimer und unkontrollierter daherkommt als die Sammlung von selbstbewussten Memos und eigennützigen Memoiren, die über die meisten Präsidentschaften berichten. Die Tonbänder sollten letztlich zu einem Amtsenthebungsverfahren und zu Nixons Rücktritt führen. Sie veränderten aber auch das Verständnis der Amerikaner von der Präsidentschaft, weil sie die historische Dokumentation veränderten, indem sie einen Einblick auch in die informellsten Gespräche lieferten, die sehr häufig Nixons Bigotterie, Misstrauen und Kleingeistigkeit offenbarten. Ein anschauliches Beispiel ist ein im Juni 1971 geführter Dialog zwischen Nixon und Haldeman über den Talkshowmoderator Dick Cavett:
HALDEMAN: Wir sind im Kriegszustand mit Cavett.
NIXON: Ist er einfach nur ein Linker? Ist das das Problem?
HALDEMAN: Ja.
NIXON: Ist er Jude?
HALDEMAN: Ich weiß es nicht. Er sieht nicht so aus.[122]
FDR ließ Löcher in den Fußboden des Oval Office bohren, damit Leitungen für den Mitschnitt von Pressekonferenzen verlegt werden konnten. Truman hatte ein Abhörmikrophon benutzt, das in einem Lampenschirm auf seinem Schreibtisch versteckt war. Eisenhower hatte Gespräche im Oval Office aufzeichnen lassen und sein eigenes Telefon verwanzt. Kennedy und Johnson benutzten ein Aufzeichnungssystem, das von der Fernmeldetruppe der U. S. Army installiert worden war. Nixon hatte nach seiner Amtseinführung die Demontage von Johnsons System angeordnet; er wollte nicht immer daran denken müssen, den Ein-Aus-Schalter zu betätigen. Sein Außenminister Henry Kissinger hatte bei Besprechungen Sekretärinnen dabei, die sich Notizen machten. Ein Aufzeichnungssystem schien eine einfachere Lösung zu sein als eine Schar von Sekretärinnen, doch weil Nixon wollte, dass die Tonbänder als vollständige und exakte Chronik seiner Präsidentschaft dienen konnten, verlangte er ein System, das sich beim geringsten Geräusch automatisch einschaltete. Haldeman ließ Anfang 1971 ein neues, geheimes und hochempfindliches Tonbandsystem installieren, das durch die menschliche Stimme aktiviert wurde und mit dem Besprechungen und Telefonate im Oval Office, im Lincoln Sitting Room und im Cabinet Room aufgezeichnet werden sollten. (Nur Nixon und Haldeman wussten von diesem System; Kissinger und Ehrlichman zählten zu denen, die nicht eingeweiht waren.)[123]
Genau in den Monaten, in denen Haldeman das Aufzeichnungssystem im Weißen Haus einrichten ließ, hatte Daniel Ellsberg, ein bei der RAND Corporation beschäftigter Verteidigungsexperte, nach einer Möglichkeit gesucht, eine 7000 Seiten und 47 Bände umfassende Studie zum Vietnamkrieg an die Öffentlichkeit zu bringen. Robert McNamara hatte sie 1967 in Auftrag gegeben, kurz vor der Bekanntgabe seines Rücktritts. Die «Pentagon Papers», wie dieser Bericht schließlich genannt wurde, waren eine Chronik der Lügen und der groben Fehler, die sich eine Regierung nach der anderen beim Führen eines unklugen, grausamen und rücksichtslosen Krieges leistete. Ellsberg, der selbst an dem Bericht mitgearbeitet hatte, hatte einen Satz Fotokopien in der Hoffnung angefertigt, ihre Veröffentlichung werde das Kriegsende herbeiführen. Er hatte seit 1969 versucht, das Interesse von Mitgliedern der Regierung Nixon zu wecken, auch das von Kissinger, blieb aber erfolglos. Er hatte versucht, einen Kongressabgeordneten für die Weitergabe des Berichts an die Medien zu gewinnen, ebenfalls ohne Erfolg. Schließlich wandte er sich Anfang 1971 an die New York Times; das Blatt begann am 13. Juni 1971 mit der Veröffentlichung von Auszügen aus dem Bericht. «Vier aufeinanderfolgende Regierungen erhöhten den politischen, militärischen und psychologischen Einsatz in Indochina», hieß es in der New York Times in der Einführung zur Chronik eines bereits Jahrzehnte andauernden Konflikts, den die US-Regierung geführt hatte, um «die Macht, den Einfluss und das Prestige der Vereinigten Staaten … ungeachtet der in Vietnam herrschenden Bedingungen» aufrechtzuerhalten.[124]
Die Pentagon Papers klagten nicht die Regierung Nixon an; die Studie endete im Jahr 1968. Die Veröffentlichung der Papiere stärkte allenfalls Nixons Macht und ermöglichte es ihm, Kennedy und Johnson die Schuld für Vietnam zu geben. Aber Nixons Berater verstanden die weiterreichenden Konsequenzen der Enthüllung. «Für den einfachen Bürger ist die ganze Sache ein einziges Kauderwelsch», sagte Haldeman zum Präsidenten. «Aber aus dem Kauderwelsch ergibt sich eine ganz klare Sache: Man kann der Regierung nicht trauen; man kann nicht glauben, was sie sagen; und man kann sich nicht auf ihr Urteilsvermögen verlassen.» Nixon, der mit der tief empfundenen Angst lebte, dass man ihm auf die Schliche kam – bei irgendeinem beliebigen Thema –, gelangte zu der Überzeugung, dass Ellsbergs Zusammenarbeit mit der New York Times Teil einer gegen ihn angezettelten Verschwörung sei, «einer jüdischen Intrige», wie er es ausdrückte, «es sind die gleichen Medien, die Hiss unterstützten». Seine Mitarbeiter brachten ihn nicht von dieser Theorie ab. Kissinger, ein Jude deutscher Herkunft, warnte ihn: «Wenn diese Sache durchgeht, werden sie dasselbe mit Ihnen machen.» Kissinger überzeugte Nixon davon, das Justizministerium für ein Verbot jeder weiteren Veröffentlichung von Teilen des Berichts durch die New York Times einzuspannen. Während der Fall auf dem Weg zum Supreme Court war, begann die Washington Post mit dem Abdruck der Papiere. Am 30. Juni entschied der Supreme Court, dass die Veröffentlichung der Papiere zulässig sei. Das Justizministerium reichte dennoch Klage gegen Ellsberg ein.[125]
Andere Präsidenten, die sich mit der Möglichkeit eines Machtzuwachses ihrer Gegner konfrontiert sahen, hatten einfach J. Edgar Hoover angerufen und das FBI auf den Fall angesetzt. Aber nach der Veröffentlichung der Pentagon Papers war Hoover vorsichtig geworden, wenn es um eine Beteiligung an gesetzwidrigen Überwachungsmaßnahmen und andere, noch weniger erlaubte Vorgehensweisen ging. Die Regierung Nixon musste also ihre schmutzige Arbeit selbst erledigen, die sie auch noch zu großen Teilen auf Tonband festhielt, wie zum Beispiel im Juli 1971, als Nixon seine Mitarbeiter anwies, einen Safe bei der Brookings Institution aufzusprengen, um dort nach Akten über Vietnam zu suchen, die Johnson bloßstellen würden – eine von reiner Bösartigkeit motivierte Maßnahme, weil Johnson zu diesem Zeitpunkt bereits seit über zwei Jahren nicht mehr im Amt war.[126] Die Regierung richtete außerdem eine Einheit für Sonderermittlungen (Special Investigations Unit) ein, die von einem Eiferer und ehemaligen Ehrlichman-Mitarbeiter namens G. Gordon Liddy geleitet wurde, der anschließend als Mitarbeiter des Komitees zur Wiederwahl des Präsidenten (Committee to Re-elect the President, CRP, besser bekannt unter dem Kürzel CREEP) eingesetzt wurde. Am 17. Juni 1972, einem Samstag, gab Liddy fünf Männern den Befehl zu einem Einbruch in die Büroräume von Lawrence O’Brien, dem Vorsitzenden des DNC, im Watergate Hotel, wo sie Dokumente stehlen und Abhörvorrichtungen reparieren sollten, die zu einem früheren Zeitpunkt in den Bürotelefonen angebracht worden waren. Nach Erledigung dieses Auftrags sollten sich die Einbrecher dem Hauptquartier von George McGoverns Wahlkampf auf dem Capitol Hill zuwenden, um dort einen ähnlichen Auftrag auszuführen, aber sie kamen nie so weit, weil sie bereits im Watergate Hotel verhaftet wurden. Nixon hatte vorab nichts von dem Einbruch gewusst, aber sechs Tage danach, am 23. Juni, wurde auf Band festgehalten, wie er mit Haldeman eine Vertuschung erörterte.[127]
Während die Regierung Nixon insgeheim ihre Vertuschung betrieb, ging der Wahlkampf für Nixons Wiederwahl weiter, in der sicheren Erwartung, der Präsident könne sich auf das mit seinem Amt verbundene Vorrecht («executive privilege») berufen, wenn es zu verhindern galt, dass irgendeine andere Person die Tonbandaufnahmen zu hören bekam. Nixon erhielt im November 1972 61 Prozent der Wählerstimmen und war der erste Präsidentschaftskandidat, der in 49 Bundesstaaten gewann, nur Massachusetts und Washington, DC, gingen an McGovern. Nixons Mitarbeiter bedienten sowohl die Bedürftigkeit ihres Chefs wie auch seinen Hunger nach Anerkennung, und beides wird in einem Gespräch deutlich, das er mit Kissinger nach McGoverns Rede führte, in der dieser seine Niederlage einräumte. Für Nixon war die Anerkennung seines eigenen Sieges durch den Rivalen zu dürftig ausgefallen. Er bezeichnete McGovern als «Scheißkerl» («prick»).
NIXON: Denken Sie das nicht auch?
KISSINGER: Absolut. Er war kleinlich.
NIXON: Ja.
KISSINGER: Er war bockig.
NIXON: Ja.
KISSINGER: Unwürdig.
NIXON: Richtig. Wie Sie vielleicht wissen, antwortete ich ihm auf eine sehr anständige Art.
KISSINGER: Ich hielt das für ein großartiges Statement. Die Medien haben Ihnen Jahr für Jahr zugesetzt. Alle Intellektuellen waren gegen Sie, und Sie haben …
NIXON: Das stimmt.
KISSINGER: … den größten Sieg überhaupt errungen.[128]
Fünf Tage vor seiner Amtseinführung im Januar 1973 kündigte Nixon das Ende des Krieges in Vietnam an; der Friedensvertrag sollte noch in jenem Monat in Paris unterzeichnet werden. In seiner Inaugurationsrede verkündete Nixon am 20. Januar den Beginn einer neuen Ära des Friedens und des Fortschritts, die von einer konservativen Revolution angetrieben werden sollte. «Im Ausland wie auch zu Hause ist die Zeit für eine Abwendung von der herablassenden Politik des Paternalismus gekommen – von der Einstellung ‹Washington weiß es am besten›», sagte er. «Lassen Sie uns die Menschen im eigenen Land und die anderen Nationen dazu ermutigen, mehr selbstständig zu tun, mehr selbstständig zu entscheiden.» Wenn die Amerikaner der Regierung zu sehr vertraut hatten, dann nicht, weil man der Regierung nicht trauen konnte, weil Präsidenten das amerikanische Volk belogen hatten; sondern weil die Menschen mehr selbstständig handeln sollten. Die Gräueltaten, die im Namen des amerikanischen Volkes in Vietnam, Kambodscha und Laos verübt wurden, die Unruhen auf amerikanischen Straßen – das war nicht die Schuld gewählter Amtsträger, die schwere Fehler begingen, die Presse belogen und die Justiz behinderten. An diesen Dingen war der Liberalismus schuld, der den Amerikanern beigebracht hatte, zu viel von der Regierung zu erwarten. «Indem wir zu sehr auf die Regierung vertraut haben, haben wir mehr von ihr verlangt, als sie leisten kann», erklärte Nixon. «Das führt nur zu überzogenen Erwartungen, verringerter persönlicher Anstrengung und zu einer Enttäuschung und Frustration, die das Vertrauen zu dem, was die Regierung tun kann, und zu dem, was die Menschen tun können, untergraben.» Kennedy hatte den Menschen ans Herz gelegt: «Fragt nicht, was euer Land für euch tun wird – fragt, was ihr für euer Land tun könnt.» Nixon legte den Amerikanern nahe, sich zu fragen, was sie aus eigenem Antrieb und für sich selbst tun konnten.
Zwei Tage nach Nixons zweiter Amtseinführung erlitt der 64-jährige Lyndon Johnson auf seiner Ranch in Texas einen Herzinfarkt. Johnson, der bis zu seinem ersten Herzinfarkt 1955 auf 60 Zigaretten am Tag gekommen war, hatte beim Heimflug von Nixons erster Amtseinführung die erste Zigarette seit 14 Jahren geraucht. Am 22. Januar 1973 war er in seinem Haus allein und griff, von Schmerzen in der Brust gepeinigt, zum Telefon, doch die Hilfe kam zu spät.
Sein letztes Interview hatte er zehn Tage vor seinem Tod Walter Cronkite gegeben, und der Journalist war auf einen müden Johnson getroffen, der ein Flanellhemd mit Button-Down-Kragen und eine Drahtgestellbrille mit dicken Gläsern trug und mit aufwallendem Stolz von seiner Rolle bei der Förderung der Bürgerrechte erzählte: vom Civil Rights Act 1964, vom Voting Rights Act 1965, vom Fair Housing Act 1968, von der «We Shall Overcome»-Rede, die er während der Krise in Selma gehalten hatte, und von der 1967 durch ihn erfolgten Berufung Thurgood Marshalls an den Supreme Court. «Wir leben in einer schnelllebigen Zeit, und wir alle sind sehr ungeduldig und, was noch wichtiger ist, sehr intolerant im Umgang mit den Ansichten unserer Mitmenschen und ihrem Urteilsvermögen und Verhalten, ihren Traditionen und ihrer Lebensart», sagte Johnson zu Cronkite, und seine matte Stimme war vom Schmerz durchdrungen. Als Johnson starb, sagte Thurgood Marshall: «Er starb an gebrochenem Herzen.»[129]
Nixons eigener Zusammenbruch erfolgte langsamer, er war eine eiternde, selbst zugefügte Wunde. Der Senat beschloss im Februar 1973 die Einsetzung eines Sonderausschusses zur Untersuchung des Watergate-Einbruchs. Nixons neuer Justizminister Elliot Richardson ernannte Archibald Cox zum Sonderermittler in dieser Angelegenheit. Der Senatsausschuss erfuhr im Juli von der Existenz der Tonbänder, doch als Cox deren Herausgabe verlangte, weigerte sich Nixon und berief sich auf das «executive privilege». Die Vertuschung war gescheitert. Die Anklage gegen Ellsberg wurde fallengelassen, als die Watergate-Untersuchung offenbarte, dass Liddys Leute in die Praxisräume von Ellsbergs Psychiater in Kalifornien eingebrochen waren. Nixon hatte dennoch, mit Blick auf seinen notorisch korrupten und allseits verachteten Vizepräsidenten Agnew, nur wenig Angst vor einem Amtsenthebungsverfahren. (Er bezeichnete Agnew als das «Dilemma der Mörder».)[130] Doch im Oktober verweigerte Agnew die Aussage zum Vorwurf der Steuerhinterziehung, ohne die Schuld zu bestreiten, und trat zurück. Zehn Tage danach wies Nixon beim später so genannten «Samstagabend-Massaker» («Saturday Night Massacre») Richardson an, Cox zu entlassen, was Richardson verweigerte, der stattdessen seinerseits zurücktrat. Nixon erteilte daraufhin dem stellvertretenden Justizminister William Ruckelshaus dieselbe Anweisung, und auch Ruckelshaus trat zurück. Schließlich brachte Nixon den Solicitor General Robert Bork dazu, Cox zu entlassen – und damit einen Machtmissbrauch zu begehen, der auf Bork, das FBI und das Justizministerium selbst zurückfallen sollte.
«Handle wie ein Sieger», schrieb Nixon in einer Notiz für sich selbst, in der Auflistung seiner Vorsätze für das neue Jahr. Doch seine Bemühungen, die Herausgabe der Tonbänder zu verhindern, scheiterten. Im April 1974 gab er schließlich 1200 Seiten Transkriptionen zu 46 Tonbändern frei. Die Öffentlichkeit entdeckte daraufhin das Wesen von Nixons Zorn, seine Engstirnigkeit und seine Rachsucht. Die Transkriptionen zu den Mitschnitten vom 23. Juni 1972 waren allerdings nicht dabei, und als der Ausschuss sie verlangte, weigerte sich das Weiße Haus, so dass der Fall im Verfahren United States v. Nixon vor den Supreme Court kam. Während die Richter sich berieten, erlitt der 83-jährige Earl Warren, der sein Amt als Oberster Richter fünf Jahr zuvor aufgegeben hatte, einen Herzinfarkt. Die Richter William O. Douglas und William J. Brennan besuchten ihn am 9. Juli im Georgetown University Hospital. Warren nahm Douglas’ Hand. «Wenn Nixon nicht gezwungen wird, die Tonbänder seiner Gespräche mit der Bande von Männern herauszugeben, die sich über ihre Gesetzesverstöße unterhielten, wird die Freiheit in dieser Nation bald tot sein», mahnte Warren. Brennan und Douglas versicherten ihm, das Gericht werde die Herausgabe der Bänder durch den Präsidenten anordnen. Warren starb nur wenige Stunden später. Der Supreme Court gab sein einstimmiges Urteil am 24. Juli bekannt (der von Nixon nominierte William Rehnquist erklärte sich für befangen): Das Weiße Haus musste die Tonbänder herausgeben.[131]
Über den Inhalt der Bänder wurde am 6. August 1974 berichtet. Die Amtsenthebung schien sicher zu sein. Um ihr zu entgehen, gab Nixon am 8. August seinen Rücktritt bekannt. An seinem Schreibtisch im Weißen Haus sitzend, sprach er in die Fernsehkameras. In einer kurz gehaltenen Ansprache hob er seine außenpolitischen Leistungen hervor, die zahlreich und von tiefer und bleibender Bedeutung waren. Er hatte diplomatische Beziehungen zu China aufgenommen, nach einem Vierteljahrhundert des Stillstands. Er hatte den Krieg in Vietnam tatsächlich beendet, auch wenn er einiges unternommen hatte, um ihn zu verlängern. Er hatte die Beziehungen der Vereinigten Staaten zu den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens verbessert. Er hatte mit der Sowjetunion zwei Abkommen zur Rüstungsbegrenzung ausgehandelt und dabei auf Beziehungen aufgebaut, die er bei seiner Moskaureise 1959 geknüpft hatte. Er sagte nahezu nichts über die Lebensbedingungen in den Vereinigten Staaten, abgesehen von einer Anspielung auf die «turbulente Geschichte dieses Zeitabschnitts» – Turbulenzen, zu deren Behebung er wenig, zu deren Verschärfung er jedoch viel beigetragen hatte.[132]
Beim Abschied von den Mitarbeitern im Weißen Haus sagte er am darauffolgenden Morgen: «Denken Sie immer daran, andere mögen Sie hassen. Aber die, die Sie hassen, gewinnen nur, wenn auch Sie sie hassen. Und wenn Sie das tun, zerstören Sie sich selbst.»[133] Dann ging er, mit dem Gewicht einer aufgewühlten Nation auf seinen gebeugten Schultern, über einen auf dem South Lawn verlegten Teppich zum wartenden Hubschrauber, stieg die Stufen zu dessen offener Tür hinauf, wandte sich noch einmal um und zeigte sein charakteristisches Winken mit weit ausgebreiteten Armen. Er verschwand im Inneren der Maschine und flog davon, zuletzt sah man ihn aus einem der schusssicheren Fenster spähen, als der wendige Helikopter sich auf den Weg in Richtung Washington Monument und über die National Mall machte, wo ein anderer Mann vor noch nicht allzu langer Zeit eine Geschichte von einem Traum erzählt hatte.