II

BARACK OBAMA HATTE ein schmales Gesicht, große Ohren und eine kupferfarbene Haut, und manchmal sprach er wie ein Prediger, manchmal wie ein Professor, aber immer sprach er mit einer wohlüberlegten Ausgeglichenheit und einer entschlossenen Duldsamkeit. «Das Volk ist den Idealen unserer Vorfahren und den Gründungsdokumenten treu geblieben», sagte er 2009 in seiner Inaugurationsrede, die er vor der größten Menschenmenge hielt, die sich in der Hauptstadt der Nation jemals versammelt hatte, eineinhalb Millionen Menschen, die an einem bitterkalten Dienstag im Januar zusammengekommen waren. Der Tag der Hoffnung und des Wandels war ein Tag der Hüte und Fäustlinge.

Seine Stimme hob und senkte sich in den Kadenzen von Martin Luther King jr. und blieb fest und kräftig mit der Entschlossenheit von Franklin Delano Roosevelt. Menschen waren stundenlang, manche waren Dutzende von Stunden gefahren, um zu sehen, wie er vereidigt wurde. «Mein Gefühl ist: Wenn du die Gelegenheit bekämst, bei der Gettysburg Address dabeizusein, oder zu sehen, wie Hank Aaron seinen historischen Homerun schlägt, würdest du sie nutzen?», sagte Dennis Madsen, ein 39 Jahre alter Stadtplaner aus Atlanta, dem Sender CNN. Die acht Jahre alte Bethany Dockery aus Memphis trug einen rosafarbenen Hut und Mantel und hüpfte auf und ab, als Obama den Amtseid leistete. «Es gibt uns ein gutes Gefühl», sagte ihre Mutter und weinte dabei, «weil wir eine Chance haben.»[90]

Die Zeit sei gekommen, «die bessere Seite unserer Geschichte zu wählen», sagte Obama.[91] Die bessere Seite der Geschichte bedeutete für Obama den langen Kampf gegen Not und Ungleichheit, die Arbeit, die Generationen von Amerikanern für Wohlstand und Gerechtigkeit geleistet hatten. Seine Amtseinführung markierte eine Wende in der amerikanischen Geschichte, aber gleich hinter dieser Wegbiegung lag eine Haarnadelkurve.

Er hatte Schriftsteller werden wollen. Sein erstes Buch, Dreams from My Father: A Story of Race and Inheritance hatte er im Alter von 33 Jahren geschrieben, lange bevor er sich um ein öffentliches Amt bewarb. «Sein Leben ist ein offenes Buch», sagte seine Frau Michelle später. «Er hat es geschrieben, und Sie können es lesen.» Er hatte über Fragen von Rassezugehörigkeit und Ererbtem nachgedacht, seit er ein kleiner Junge war. «Ich stehe bis zu einem gewissen Grad symbolisch für viele der Veränderungen, die erreicht wurden», hatte er einmal zu einem Reporter gesagt.[92] Aber er hatte sich auch selbst in diese Rolle versetzt, indem er darüber schrieb.

Obamas Großvater mütterlicherseits, Stanley Dunham, 1918 in Kansas geboren, wurde nach dem Entdecker Henry Morton Stanley benannt, zu dessen Büchern In Darkest Africa gehörte, ein Werk, das etwa zu der Zeit erschien, als Obamas Großvater väterlicherseits, Hussein Obama, in Kanyadhiang in Kenia zur Welt kam. Während des Zweiten Weltkriegs arbeitete Hussein Obama als Koch für die britische Armee in Burma, und Stanley Dunham wurde zur US Army eingezogen und ging nach Europa, während seine Frau Madelyn im Boeing-Werk in Wichita mithalf, B-29-Bomber zu bauen. Obamas Vater, Barack Hussein Obama, wurde 1936 geboren, seine Mutter, Stanley Ann Dunham, 1942. Am 26. September 1960, dem Tag der ersten Fernsehdebatte zwischen Richard M. Nixon und John F. Kennedy, lernte die 17 Jahre alte Stanley Ann Dunham in einem Russisch-Grundkurs an der University of Hawaii den 23 Jahre alten Barack Hussein Obama kennen. Am Wahltag war sie bereits schwanger. Sie heirateten am 2. Februar 1961, zwei Wochen nach Kennedys Amtseinführung, im Standesamt von Wailuku County. In 21 Bundesstaaten wäre diese Ehe illegal gewesen, sie hätte als Verstoß gegen das Verbot der Rassenmischung gegolten, das der Supreme Court erst 1967 mit dem Urteil im Verfahren Loving v. Virginia aufhob. Keine der beiden Familien billigte die Heirat. Barack Hussein Obama II wurde, wie es in der Geburtsurkunde festgehalten ist, im Kapi’olani Maternity and Gynecological Hospital in Honolulu geboren, am 4. August 1961 um 19.24 Uhr.[93]

Als Junge, der bei seinen Großeltern in Hawaii lebte – seine Eltern waren geschieden –, wurde Barack Obama zum Leser. Er verschlang die Bücher von James Baldwin und W. E. B. Du Bois. «Abends schloss ich mich in meinem Zimmer ein», schrieb er später, «saß da und kämpfte mit Wörtern, mit verzweifelten Argumenten, um die Welt, wie ich sie erlebte, mit den Bedingungen meiner Geburt in Einklang zu bringen.» Nach dem Examen an der Columbia University arbeitete er als Community Organizer in Chicagos South Side und schlug Wurzeln in einer Stadt, die kurz zuvor erstmals einen Schwarzen zum Bürgermeister gewählt hatte. Er schloss sich einer schwarzen Baptistengemeinde an und begann mit einer ehrgeizigen jungen Rechtsanwältin namens Michelle Robinson auszugehen, die von Männern und Frauen abstammte, die einst als Sklaven gehalten worden waren. An der Harvard Law School arbeitete er als wissenschaftlicher Assistent für Lawrence Tribe, der nach einer gemeinsamen Grundlage für vermeintlich nicht miteinander zu vereinbarende Standpunkte gesucht hatte. Das sollte auch zu Obamas Markenzeichen werden: die Versöhnung scheinbar unversöhnlicher Differenzen.[94]

Seit Woodrow Wilson hatten die Amerikaner keinen Wissenschaftler mehr zum Präsidenten gewählt. An der University of Chicago Law School bot Obama ein Seminar über Rasse und Recht an, das auf eine Geschichte der Vereinigten Staaten hinauslief, von Andrew Jackson und der Deportation der Indianer über die Reconstruction und die Jim-Crow-Gesetze, von der Bürgerrechtsfrage über Ronald Reagan bis zur «affirmative action». Als später dann, während des Präsidentschaftswahlkampfs, der Seminarplan online gestellt wurde, lobten Verfassungsrechtler von rechts und links unisono seine Ausgewogenheit. Obama pflegte als Professor die Werte der engagierten, vorurteilslosen Debatte: Studenten waren zu benoten nach ihrer Fähigkeit, «das gesamte Spektrum von Sichtweisen herauszuarbeiten», für ihre Darlegung «einer gründlichen Untersuchung der Meinungsvielfalt» und für den Nachweis, «einigen Schweiß» vergossen zu haben «beim Versuch, das Problem in seiner ganzen wunderbaren Komplexität zu verstehen».[95] Es war keineswegs klar, dass das, was in einem juristischen Seminarraum funktionierte, auch in Washington funktionieren würde.

1996 kandidierte der Professor für einen Sitz im Senat des Staates Illinois und bot diese Brücke zur Überwindung der Spaltung Amerikas an: Die Rechte habe «das Feld der Moral besetzt, indem sie von Familienwerten und moralischer Verantwortung spricht», und die Linke habe dieses Feld geräumt und müsse es zurückgewinnen, weil eine Sprache der moralischen Verantwortung das sei, was die ganze Nation für den Umgang miteinander brauche. «Genau diese Begriffe, genau diese Werte, die wir auch in unseren Familien fördern – sich um andere kümmern, miteinander teilen, sich füreinander einsetzen –, müssen wir nun auf die ganze Gesellschaft übertragen».[96]

Obama brachte die Sprache der Gründerzeit der Nation mit der Sprache ihrer religiösen Traditionen zusammen. Nach seiner Wahl in den US-Senat, wo er das einzige schwarze Mitglied war, wurde er als Hauptredner für den Nationalkonvent der Demokraten im Jahr 2004 gewonnen. Er verfasste eine Grundsatzrede, die sich gleichermaßen auf die Bibel – «Ich bin meines Bruders Hüter» – wie auf die Unabhängigkeitserklärung bezog: «Wir erachten diese Wahrheiten als selbstverständlich»; und er rezitierte beides wie Gebete. (Wie schon William Jennings Bryan vor ihm, hatte Obama mit einem an Shakespeare geschulten Rhetoriklehrer zusammengearbeitet.) Mal im Stil eines Predigers, mal im Stil eines plädierenden Rechtsanwalts im Gerichtssaal, elektrisierte er sein Publikum: «Nun sind, während wir hier sprechen, einige dabei, uns zu spalten, die Spin-Doktoren und Hausierer von Negativwerbung, die die Meinung vertreten, es sei alles erlaubt. Ihnen sage ich heute Abend: Es gibt nicht ein liberales Amerika und ein konservatives Amerika – es gibt die Vereinigten Staaten von Amerika.»[97]

Die Obama-Manie begann an jenem Abend. Er war jung, gutaussehend und glamourös; seine Rhetorik war mitreißend. Vor allem die Reporter gerieten ins Schwärmen. Noch bevor Obama seinen Sitz im Senat eingenommen hatte, fragte man ihn, ob er vorhabe, für das Präsidentenamt zu kandidieren – eine Frage, bei der er abwinkte. Er genoss seine Zeit im Senat nicht. Sollte er nach dem Ende seiner Amtszeit in Washington bleiben, dann, so forderte er einen Kollegen auf: «Erschieß mich.»[98] Sture, bösartige Parteilichkeit empfand er als unerträglich. Liberale, die dachten, sie könnten die Konservativen besiegen, indem sie diese Leute wie Feinde behandelten, hielt er für Narren. «Das amerikanische Volk denkt nicht, dass George Bush engherzig oder voreingenommen ist», betonte er. Stattdessen seien die Menschen «wütend», fuhr er fort, «weil das Plädoyer für den Einmarsch im Irak übertrieben war, sie sind besorgt darüber, dass wir bestehende und potenzielle Verbündete in aller Welt unnötig gegen uns aufgebracht haben, und sie schämen sich für Vorgänge wie in Abu Ghraib, die gegen die Ideale unseres Landes verstoßen».[99]

Obama bewarb sich 2008 um die Nominierung als Präsidentschaftskandidat der Demokraten mit einem Slogan, den er von der 1972 von Cesar Chavez und Dolores Huerta organisierten Kampagne der United Farm Workers übernommen hatte, «Sí, se puede»: «Yes we can.» Seine Bewerbungsunterlagen für den Job waren dünn. Er setzte auf sein Talent, seinen Charakter und seine Geschichte. Manche Leute sagten, er sei zu schwarz, anderen wiederum war er nicht schwarz genug. In einem hitzigen und sehr knappen Rennen bei den Vorwahlen gegen die 66 Jahre alte Hillary Clinton profitierte er von seiner Gegnerschaft zum Irakkrieg, den Clinton, damals als Senatorin, befürwortet und für den sie gestimmt hatte. Und während Clinton anfangs noch große Unterstützung bei afroamerikanischen Wählern und ihren führenden Vertretern fand, wurde diese Unterstützung von ihrem Ehemann verspielt. Durch Obamas Haltung und Charme unter Druck gesetzt – eine coolere, schwärzere, aufrichtigere Version seiner selbst –, stieß Bill Clinton schwarze Wähler vor den Kopf, indem er Obama und seine Anhänger der Unaufrichtigkeit beschuldigte: «Ich glaube, sie haben die Rassenkarte gegen mich ausgespielt», klagte der ehemalige Präsident.[100]

In einem Zeitalter der Extreme verkörperte Obama Vernünftigkeit und Ausgeglichenheit in der Politik und Offenheit in Fragen der Religion. Sein religiöser Glaube, sagte er, «lässt Zweifel, Ungewissheit und Mysterium zu». Sein Glaube an die Vereinigten Staaten – «der Glaube an einfache Träume, das Bestehen darauf, dass kleine Wunder möglich sind» – kannte keinen Zweifel.[101] In Zeiten des Krieges und des wirtschaftlichen Niedergangs vermittelte er den Optimismus Reagans und vertrat die politischen Überzeugungen, so schien es, von FDR.

Obamas Kandidatur brachte eine apathische Wählerschaft in Bewegung. Sie veränderte auch den Stil des Wahlkampfs. Die Wahlbeteiligung war die höchste seit 1968. Obama siegte mit einem Vorsprung von mehr als neun Millionen Stimmen auf seinen republikanischen Gegner John McCain, den vielbewunderten langjährigen Senator aus Arizona, der einst in Vietnam in Kriegsgefangenschaft geraten war. Er besiegte McCain auch in den sozialen Medien. McCain, 72 Jahre alt, ein Mann seiner Generation, hatte die Macht, die mit neuen Formen der politischen Kommunikation verbunden war, noch nicht erfasst. Obamas Wahlkampf hatte viermal so viele Follower wie McCain auf Facebook, dem Schwergewicht unter den sozialen Medien, und erstaunliche 23-mal so viele auf Twitter. Sein IT-Team registrierte Wähler auf einer Website namens Vote for Change. Seine Anhänger, die für die Aufnahme in seine Liste «HOPE» schrieben, erhielten allein am Wahltag drei Textnachrichten. Als sein Sieg feststand, bekamen mehr als eine Million Amerikaner eine Textnachricht mit dem Wortlaut: «All of this happened because of you. Thanks, Barack.»[102]

Obama hatte Hoffnung und Wandel versprochen. Er wirkte zunächst entschlossen, beides zu liefern. Er trat sein Amt mit Schwung an, mit Mehrheiten im Repräsentantenhaus und im Senat und mit dem Rückenwind der Geschichte. Doch dieser Wind erwies sich als unbeständig.

Zur Bekämpfung der weltweiten Finanzkrise, die in den letzten Monaten von Bushs Amtszeit die Märkte ins Trudeln gebracht hatte, legte Obama dem Kongress ein Programm zur Wirtschaftsförderung mit einem Volumen von 800 Milliarden Dollar, das Reporter als den «New New Deal» bezeichneten, zur Verabschiedung vor. Der Economist rief eine «Roosevelt-Manie» aus. Aber Obama war kein FDR. Seine Regierung brachte die Personen, deren gesetzwidriges Handeln die Finanzkatastrophe ausgelöst hatte, nicht vor Gericht. Sein Wirtschaftsprogramm rettete die Banken, aber es rettete nicht die Menschen, die ihre Ersparnisse verloren hatten. Während Obamas erstem Amtsjahr, in einer Zeit, in der einfache Amerikaner ihren Arbeitsplatz, ihr Haus und ihre Ruhestandsgelder verloren, verdienten die Vorstandsmitglieder der 38 größten an der Wall Street vertretenen Unternehmen 140 Milliarden Dollar, und die 25 Spitzenverdiener unter den Hedgefondsmanagern erzielten ein Durchschnittseinkommen von 464 Millionen Dollar.[103]

Obamas bedeutendste Gesetzesinitiative war der Affordable Health Care Act, der vom Senat Ende 2009 und vom Repräsentantenhaus zum Jahresbeginn 2010 mit einer hauchdünnen, der Fraktionsdisziplin folgenden Mehrheit von 219 gegen 212 Stimmen verabschiedet wurde. Ein Jahrhundert war vergangen, seit amerikanische Progressives erstmals eine nationale Pflichtkrankenversicherung vorgeschlagen hatten. Hillary Clintons eigener Vorschlag war 1994 auf ganzer Linie gescheitert. (Obama hatte sich von der Lektüre einer Biografie Lincolns anregen lassen, der seine politischen Rivalen in sein Kabinett aufgenommen hatte, und Clinton zur Außenministerin gemacht.) Doch der Sieg wurde durch eine wütende Kampagne für die Rücknahme des Gesetzes geschmälert, eine Kampagne, die bereits vor dessen Verabschiedung begonnen hatte.

Am Vortag von Obamas Amtseinführung nahm Fox News eine neue Sendung ins Programm, die von einem bekannten Radiotalkshowmoderator namens Glenn Beck präsentiert wurde. Beck verglich Obama mit Mussolini. Er richtete sein Fernsehstudio im Stil einer altmodischen einklassigen Schule ein, in der man noch mit Kreide an die Tafel schrieb und an Eichenholzpulten saß, und dozierte vor seinem Publikum über amerikanische Geschichte und darüber, inwiefern alles, wofür Obama stand, ein Verrat an den Gründervätern sei. Becks Kampagne unterschied sich zwar vom Auftreten von Leuten wie Alex Jones und auch von den Truthers, aber sie stützte sich auf dieselbe Art von Feindseligkeit und nutzte dieselbe Geschichte des Rassenhasses. Im März rief Beck eine Bewegung ins Leben, die er 9/12 nannte und deren erklärtes Ziel es war, die mutmaßliche Einheit wiederherzustellen, die die Amerikaner nach den Anschlägen des 11. September angeblich empfunden hatten. Gegner von Obamas Wirtschaftspolitik und Gesundheitsreform riefen zu einer neuen Tea Party auf, mit der man der Tyrannei der Bundesregierung entgegentreten wollte. Im Frühling 2009 hielten Tea-Party-Gruppen im ganzen Land Kundgebungen in Kleinstadtparks und auf Großstadtstraßen ab und schwenkten dabei Exemplare der Verfassung. Sie verkleideten sich als George Washington, Thomas Jefferson und Benjamin Franklin, trugen Dreispitz und Puderperücke, Kniebundhose und ärmellose Weste. Sie meinten, die amerikanische Geschichte sei auf ihrer Seite. Sie wollten, mit Worten, die später zu Donald Trumps Wahlslogan wurden, Amerika wieder groß machen.

Mit der Entstehung der Tea Party verschmolzen die konservativen Medien und die konservative Bewegung: Die Tea Party war in gewisser Weise ein von Fox News geschaffenes politisches Produkt. Sarah Palin, die ehemalige Gouverneurin von Alaska, die ins nationale Rampenlicht gerückt war, als McCain sie 2008 zu seiner Kandidatin für die Vizepräsidentschaft machte, unterschrieb einen mit einer Million Dollar pro Jahr dotierten Vertrag bei Fox News und begann anschließend mit Auftritten als Rednerin bei Kundgebungen der Tea Party. Glenn Beck hielt «Founders’ Fridays» ab. Der Fox-News-Moderator Sean Hannity begann mit Beschwörungen des Liberty Tree.[104]

Doch die Tea Party war viel mehr als nur ein Produkt von Fox News; sie war auch eine ernsthafte Graswurzelbewegung. Manche Tea-Party-Mitglieder schätzten die Auslegung des 2. Zusatzartikels durch die National Rifle Association oder legten besonderen Wert auf das Schulgebet oder wandten sich gegen die gleichgeschlechtliche Ehe. Manche klagten über die Auswirkungen der Globalisierung, der Einwanderung und der Handelsabkommen, Echos der Ängste der Isolationisten und Nativisten der 1920er Jahre. Die meisten Anhänger der Tea Party hatten schon seit langem bestehende populistische Einwände, die insbesondere der Steuerpolitik galten, und ihr Widerstand gegen eine von der Bundesregierung betriebene nationale Krankenversicherung reichte, wie auch die Pläne für ein solches Programm, mehr als ein Jahrhundert zurück.

Die Tea Party brachte im 21. Jahrhundert den Populismus des 19. Jahrhunderts mit dem Originalismus des 20. Jahrhunderts zusammen. Ihre Anhänger gaben als Populisten einer Verschwörung von politischen Entscheidungsträgern in der Bundesregierung und einflussreichen Persönlichkeiten der Wall Street die Schuld an ihrem Leid. Als Originalisten suchten sie nach einer Abhilfe für das, was ihnen bei der Rückkehr zur ursprünglichen Bedeutung der Verfassung im Wege stand.

Keineswegs unwichtig ist in diesem Zusammenhang, dass die Bewegung mit überwältigender Mehrheit aus Weißen bestand und sich eine Geschichte imaginierte, die überwältigend weiß war. Das soll nicht heißen, dass die Tea-Party-Anhänger Rassisten waren – obwohl viele Liberale, oft ohne jede Grundlage, genau dies sagten –, sondern dass die Erzählung von der amerikanischen Geschichte erhebliche Mängel aufwies, weil sie entweder nicht vollständig oder nicht gut erzählt worden war. Außerdem waren ganze Teile dieser Erzählung zurückgewiesen worden. «Die Erde Amerikas ist voller Leichen meiner Vorfahren, die es im Verlauf von 400 Jahren und mindestens drei Kriegen gab», hatte James Baldwin 1965 geschrieben. «Was man die Amerikaner zu tun bittet, das ist, um unser aller willen, einfach unsere Geschichte zu akzeptieren.»[105] Doch diese Akzeptanz hatte sich nicht eingestellt.

Die meisten Tea-Party-Anhänger mochten zwar in erster Linie wegen ihrer Steuerlast besorgt sein, aber ein kleinerer Teil wandte sich ernsthaft gegen die sich verändernde Natur der Republik, weil sie ihrer Ansicht nach weniger weiß wurde. Ihnen missfiel die bloße Vorstellung, einen schwarzen Präsidenten zu haben. Es klang so, als hätten sie Roger Taneys Argument aus dem Urteil im Dred Scott-Verfahren von 1857 wieder ausgegraben, in dem er entschieden hatte, dass keine Person afrikanischer Abstammung jemals die amerikanische Staatsbürgerschaft erhalten könne. «Impeach Obama», stand auf den Schildern, die diese Leute hochhielten. «Er ist verfassungswidrig.»[106]

IM DEZEMBER 2010 hielt der 69-jährige Senator Bernie Sanders aus Vermont im Senat eine Rede, die achteinhalb Stunden dauerte – ohne zu essen oder zu trinken oder sich hinzusetzen oder die Toilette aufzusuchen. Sein einziges Publikum waren die Kameras. Sanders sprach nicht zu seinen Senatorenkollegen; er versuchte die Öffentlichkeit direkt zu erreichen, über die sozialen Medien. «Meine Rede war an diesem Tag auf Twitter das gefragteste Ereignis weltweit», sagte Sanders später.

Der 1941 in Brooklyn geborene Sanders war an der University of Chicago ein Bürgerrechts- und Antikriegsaktivist gewesen, hatte Sit-ins gegen die Rassentrennung bei der Wohnungs- und Zimmervergabe auf dem Campus organisiert und für das SNCC gearbeitet. Nach seiner Zeit in Chicago war er nach Vermont gezogen, wo er in Burlington für das Amt des Bürgermeisters kandidierte. Er trat dieses Amt in dem Jahr an, in dem Reagan ins Präsidentenamt eingeführt wurde. Zehn Jahre später ging er als Vermonts einziger Kongressabgeordneter nach Washington. Der Status, der einzige Sozialist im Kongress zu sein, habe auch seine Vorteile, sagte Sanders der New York Times: «Ich kann nicht bestraft werden», meinte er. «Was sollen sie tun? Mich aus der Partei werfen?»[107] Sanders’ Laufbahn im Senat begann 2007 – Obama hatte 2006 für ihn Wahlkampf gemacht – und verlief ohne besondere Höhepunkte. Aber während der Rezession erwies er sich als eine der wenigen prominenten Personen in Washington, einer Stadt, in der es an Geld nicht mangelte, die bereit war, über das Thema Armut zu sprechen.

Die Zahlen waren erschütternd. Im Jahr 1928 erreichte das wohlhabendste eine Prozent der amerikanischen Familien einen Anteil von 24 Prozent am Gesamteinkommen; 1944 lag dieser Anteil bei elf Prozent, einer Quote, die jahrzehntelang konstant blieb, aber in den 1970er Jahren zu steigen begann. Im Jahr 2011 gingen abermals 24 Prozent des Gesamteinkommens der Nation an das wohlhabendste eine Prozent der Familien. 2013 meldete die US-Zensusbehörde einen Gini-Koeffizienten von 0,476, den höchsten jemals in einer wohlhabenden Industriegesellschaft registrierten Wert. Zu den Nationen, in denen zu diesem Zeitpunkt eine ähnlich ungleiche Einkommensverteilung herrschte, gehörten Uganda mit einem Wert von 0,447 und China mit einem Wert von 0,474.[108]

Sanders war Sozialist; sein Idol war Eugene Debs. Er hatte einmal sogar Debs’ berühmteste Rede aufgenommen, die dieser während des Ersten Weltkriegs gehalten hatte: «Ich bin gegen jede Art von Krieg, mit einer Ausnahme», hatte Debs damals gesagt. «Ich bin mit Leib und Seele für diesen einen Krieg, und das ist der Krieg der sozialen Revolution. Ich bin bereit, auf jede Art für die Revolution zu kämpfen, die die herrschende Klasse vielleicht erforderlich macht, sogar auf den Barrikaden.» Sanders lieferte ein Jahrhundert später sein Echo, als ob die Geschichte eine Tonspule wäre, die man abspulen und zurücklaufen lassen und dann wieder abspulen kann: «In diesem Land ist ein Krieg im Gang», sagte Sanders. «Ich spreche hier nicht vom Krieg im Irak oder vom Krieg in Afghanistan. Ich spreche von einem Krieg, der von einigen der reichsten und mächtigsten Menschen gegen arbeitende Familien geführt wird, gegen die schwindende und schrumpfende Mittelschicht unseres Landes.»[109]

2010 stimmten die Demokraten in einer Reihe von Abmachungen, mit denen die Verabschiedung der Gesundheitsreform ermöglicht wurde, der Verlängerung von Steuersenkungen der Ära Bush zu, und Sanders war einer der wenigen Kongressabgeordneten, die sich widersetzten. «Präsident Obama hat gesagt, er habe sich mit aller Kraft den von den Republikanern verlangten Steuererleichterungen für die Reichen widersetzt und für eine Verlängerung der Arbeitslosenunterstützung gekämpft», sagte er bei seiner achtstündigen Ansprache. «Das mag sein. Aber die Wirklichkeit sieht so aus, dass der Kampf nicht nur innerhalb des Beltway geführt werden kann. Unsere Aufgabe besteht darin, uns an die überwältigende Mehrheit des amerikanischen Volkes zu wenden, aufzustehen und zu sagen: Moment mal.»[110]

2011 war Sanders kein einsamer Rufer in der Wüste mehr. Proteste gegen die Bankenrettung, die drastische Erhöhung von Studiengebühren und Haushaltskürzungen hatten 2009 an der University of California begonnen, wo Studenten bei der Besetzung eines Campusgebäudes Schilder mitführten, auf denen zu lesen war: «Occupy Everything, Demand Nothing.» Die Occupy-Bewegung verbreitete sich über die sozialen Medien und machte sich den Slogan «Wir sind die 99 Prozent» zu eigen. Occupy Wall Street, ein provisorisches Lager im Zuccotti Park im Zentrum von New York, begann im September 2011 und zog Tausende von Menschen an. Innerhalb weniger Monate war es in mehr als 600 amerikanischen Städten und an Hunderten von weiteren Orten in aller Welt zu Occupy-Protesten gekommen. «Wir brauchen unbedingt einen Zusammenschluss arbeitender Menschen, die der Wall Street und den amerikanischen Großunternehmen entgegentreten und sagen: Genug ist genug», sagte Sanders während der Aktionen von Occupy Wall Street. «Wir müssen die Mittelschicht in diesem Land wiederherstellen.»[111]

Occupy war, aller Rhetorik zum Trotz, kein Zusammenschluss einer repräsentativen Auswahl arbeitender Menschen. Es war eine weit überwiegend und auffallend städtische und weiße Bewegung, und die meisten Demonstranten waren Studenten oder Leute, die einen Job hatten. Die Bewegung hatte außerdem keine echte Führung, weil sie ein Modell direkter Demokratie bevorzugte, und es fehlte ihr an klar formulierten, erreichbaren politischen Zielen, weil höhere Ziele – wie zum Beispiel die Neuerfindung der Politik – bevorzugt wurden. Demand nothing, verlange nichts. Aber sie verhalf Sanders zu nationaler Bekanntheit und schuf die Grundlagen für eine Bewegung, die ihn zu einer der bemerkenswertesten progressiven Wahlkampagnen für das Präsidentenamt seit Theodore Roosevelt 1912 führen sollte.

Während die Tea Party den Populismus mit dem Originalismus vermählte, brachte Occupy Populismus und Sozialismus zusammen. Die Tea Party auf der Rechten und Occupy auf der Linken boten die Möglichkeit, Washington anzugreifen, und sie teilten die Überzeugung, dass der Bundesregierung das Leben einfacher Amerikaner gleichgültig geworden war. Weder den Republikanern noch den Demokraten gelang es, diese Überzeugung auszuhebeln.

Obamas Team war voller Verachtung für das «Insider-Washington» in die Hauptstadt gegangen, mit all seinen cleveren Geschäftsleuten und Vertragsunterhändlern und ihrer wohlfeilen Parteilichkeit. Diese strenge Haltung war nicht von Dauer. David Plouffe, Obamas Wahlkampfmanager von 2008, bezeichnete die GOP als «Partei unter der Führung von Leuten, die Wut und Streit schüren, um sich einen Namen zu machen und Geld zu verdienen». Plouffe verdiente 2010 1,5 Millionen Dollar; zu seinem Einkommen trugen unter anderem Beratertätigkeiten für Boeing und General Electric und bezahlte Auftritte als Redner bei, die über eine Agentur, das Washington Speakers Bureau, gebucht wurden. Es war auch keineswegs so, dass die gesamte Presse den Politikern unentwegt auf die Finger schaute. Reporter waren im Irakkrieg zu «eingebetteten» Journalisten («embedded journalists») geworden; weitere Pressevertreter waren in Washington eingebettet. Die Presse verkehrte so unbeschwert mit Mitarbeitern des Weißen Hauses und der Kongressverwaltung, dass die Ehefrau eines Politikers, die Einladungen zu einem Kindergeburtstag verschickte, sich eventuell die Mühe machte, damit den Hinweis zu verbinden, die Veranstaltung sei «off the record». Aber in Wirklichkeit war kaum etwas nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, und der Lärm, den die Berichterstattung verursachte, war erheblich. Das aberwitzige Tempo der Onlinenachrichten – die täglichen E-Mail-Newsletter, die Blogs und dann auch noch die Twitter-Nachrichten – sorgte für hektische, absurde Fixierungen und Haltungen, großartig und kleinlich zugleich. «Nie zuvor gab es im sogenannten Hauptstadt-Establishment so viele Medienleute», berichtete Mark Leibovich. «Im Großen und Ganzen handelt es sich um eine Kohorte, die überwiegend weiß und männlich ist.» Diese Leute hielten ein iPhone in der Hand und hatten einen Funkempfänger im Ohr. Sie berichteten in atemlos hervorgestoßenen Sätzen. «Sie sind aggressiv, technikaffin und vornehmlich an knappen Infos interessiert (Wer gewinnt? Wer verliert? Wer ist ins Fettnäpfchen getreten?).»[112]

Die Mantras im Lehrplan von Obamas University of Chicago Law School waren nicht die Losungen, die im überdrehten, drahtlos kommunizierenden, geldorientierten Washington galten. «Arbeiten Sie das gesamte Spektrum von Sichtweisen zu dem Problem heraus, mit dem Sie befasst sind», hatte er seine Studenten angewiesen. «Liefern Sie eine gründliche Untersuchung der Meinungsvielfalt, die bei diesem Problem oder Thema besteht.» Abgeordnete, die Spendengelder für ihre Wiederwahl sammelten und ihren nächsten Fernsehauftritt buchten, dachten nicht in diesen Kategorien. Die Obama-Regierung hatte, was wenig überraschend war, ihre Schwierigkeiten, mit dem Kongress einen gemeinsamen Nenner zu finden, und die Vorliebe des Präsidenten für ruhige, vernunftgeleitete Beratungen erwies sich in der hektischen Hauptstadt als unhaltbar.

Die eigene Zurückhaltung hielt den Präsidenten vom Kampfgetümmel fern. Doch sein legislatives Markenzeichen, die Gesundheitsreform, war ein kompliziertes Gesetzeswerk, ein Fest für Menschen, die Geld damit verdienten, es zu verhöhnen oder zu erklären oder beides. Sarah Palin sagte, Obamas Gesundheitsreform würde zu «death panels» führen («Gremien, die über Leben und Tod entscheiden»), was – obwohl absurd und unwahr – griffig formuliert war. Diese Bemerkung und die Reaktion der Demokraten darauf war genau die Art von unerhörter Behauptung, die eine Menge Internettraffic erzeugte, der zu einer Art virtueller Währung geworden war. Irrsinn brachte Geld ein. «Wir werden dafür bezahlt, dass Republikaner sauer auf Demokraten werden, was sie zu Recht sind», sagte ein republikanischer Lobbyist der Huffington Post. «Das ist die einfachste Sache der Welt. Es ist, als ob man dafür bezahlt würde, seine Mutter zu lieben.» Das schwierige Unterfangen, die Krankenversicherung zu reformieren, die ein Fünftel der amerikanischen Wirtschaftsleistung ausmachte, diente in erster Linie den Interessen von Lobbyisten. «Komplexität und Unsicherheit sind gut für uns», sagte der demokratische Lobbyist Tony Podesta, der Bruder von Bill Clintons ehemaligem Stabschef John Podesta.[113] Es bedeutete mehr Kunden.

Mehr Geld wurde von mehr Leuten verdient, die daran interessiert waren, vom politischen Niedergang zu profitieren, nachdem der Supreme Court 2010 im Verfahren Citizens United v. Federal Election Committee entschieden hatte, dass Begrenzungen für Geldzahlungen von politischen Aktionskomitees und anderen Gruppen verfassungswidrig seien. Roscoe Conklings schicksalhafter Schachzug von 1882 – vor dem Supreme Court zu erklären, das Joint Committee on Reconstruction, in dem er bei der Formulierung des 14. Zusatzartikels mitgewirkt hatte, sei damals übereingekommen, das Wort «Bürger» durch «Personen» zu ersetzen, um die Rechte von Unternehmen zu schützen – sollte, immer wieder aufs Neue, Rechtsgeschichte schreiben. Während frühere Entscheidungen den Unternehmen (in ihrer Eigenschaft als «Personen») bestimmte Freiheiten zugestanden hatten, in erster Linie die Vertragsfreiheit der Lochner-Ära, gewährte Citizens United Unternehmen eine aus dem 1. Zusatzartikel abgeleitete Redefreiheit. Im Jahr 2014 sollte das Gericht Unternehmen unter Verweis auf den 1. Zusatzartikel das Recht auf freie Ausübung der eigenen Religion zusprechen. In einem wegweisenden Verfahren sprach das Gericht Unternehmen, deren Eigentümer aus religiösen Gründen jegliche Empfängnisverhütung ablehnten, das Recht zu, ihren Beschäftigten Versicherungsleistungen für Geburtenkontrolle zu verweigern – unter Verweis auf die Rechte des Unternehmens nach dem 1. Zusatzartikel.[114]

Und dennoch demonstrierten Studenten auf College- und Universitätsgeländen weiterhin nicht für, sondern gegen die Redefreiheit. Bisher war noch jeder Kodex gegen Hassreden, der seit den 1990er Jahren in Kraft gesetzt, aber dann vor Gericht angefochten worden war, für verfassungswidrig befunden worden.[115] Manche waren aufgehoben, andere nicht anerkannt worden. Die University of Chicago veröffentlichte 2014 einen Bericht zum Thema Meinungsfreiheit: «Die grundsätzliche Verpflichtung der Universität gilt dem Prinzip, dass eine Debatte oder Beratung nicht unterdrückt werden darf, weil die dabei vorgetragenen Gedanken von einigen oder gar von der Mehrheit der Angehörigen der Universitätsgemeinschaft für anstößig, unklug, unmoralisch oder verschroben gehalten werden.»[116] Dennoch lehnte eine Generation jüngerer Amerikaner, die mit Codes gegen Hassreden aufgewachsen war, Debatten grundsätzlich ab. Diese jungen Leute versuchten Gastredner zum Schweigen zu bringen, und das betraf nicht nur halbverrückte Provokateure, sondern auch Wissenschaftler und seriöse, wenn auch umstrittene Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, von Condoleezza Rice über den langjährigen politischen Kolumnisten George Will bis zum ehemaligen FBI-Direktor James Comey.

Während die Campus-Demonstranten die Redefreiheit des Volkes erstickten, schützte der Supreme Court das Recht von Unternehmen, ihre Meinung frei zu äußern. Als das Urteil in Sachen Citizens United den Verfassungsdamm zerstörte, überschwemmte das Geld die weiten Ebenen der amerikanischen Politik, von Ost nach West. Die Tea-Party-Bewegung wurde schon bald von politischen Gaunern überwältigt. Innerhalb von fünf Jahren nach der Gründung der Bewegung gaben ihre führenden Organisationen, zu denen unter anderem der Tea Party Express und die Tea Party Patriots zählten, weniger als fünf Prozent ihrer finanziellen Mittel für Wahlkämpfe und Wahlen aus.[117]

Das ganze aufgewendete Geld erkaufte sich vor allem noch mehr Wut. Der liberale Kolumnist E. J. Dionne stellte ein Muster fest: Kandidaten und Parteien machten große Versprechen, und sobald sie an die Macht kamen und an der Einlösung der Versprechen scheiterten, sahen sie irgendeine Art von Verschwörung am Werk – welcher Art auch immer: eine Verschwörung der Presse, eine Verschwörung der Reichen, eine Verschwörung des «tiefen Staates» (dafür kam auch, während Trumps erster Amtszeit, eine Verschwörung des FBI infrage). Dann fanden sie Medien, die dazu bereit waren, ihrer Leserschaft Belege für eine solche Verschwörung aufzutischen, so abenteuerlich diese auch konstruiert sein mochten. Der konservative Kommentator David Frum bot eine recht ähnliche Erklärung an: «Die Medienkultur der Vereinigten Staaten ist so umgestaltet worden, dass sie zu einem maßgeschneiderten Lieferanten erwünschter Fakten wurde.»[118] Unter diesen Umständen war es für beide Parteien schwierig, eine Mehrheit lange zu halten. Die Demokraten verloren ihre Mehrheit im Repräsentantenhaus 2010, im Senat 2014 und das Weiße Haus 2016.

WENN DONALD TRUMP nicht im Weißen Haus war, schimpfte er auf die Regierung. War er im Weißen Haus, schimpfte er auf die Presse. Er schimpfte über den Kongress. Er schimpfte über Einwanderer. Er schimpfte über Nordkorea. Er schimpfte über seine Mitarbeiter. Sein Gesicht wurde rot, wenn er schimpfte.

Trump, der in der Welt des Profi-Wrestlings sehr bekannt war, brachte die Wrestler-Taktik, die ihre melodramatischen Konventionen beim Reality-TV entlieh – einem weiteren Genre, mit dem Trump wohlvertraut war, dort war er seit 2004 der Star einer Reality-Sendung namens The Apprentice gewesen –, in die Politik ein. Trumps charakteristischer Satz in dieser Sendung war «You’re fired». Beim professionellen Wrestling kämpfen in fest verteilten Rollen und bei vorher abgesprochenem Verlauf ein als «Face» bezeichneter «Guter» und ein «Bösewicht» («Heel») miteinander; bei jeder Begegnung setzen sie ein weiteres Kapitel ihrer gemeinsamen Geschichte schauspielerisch um. Sie sagen ihren Text auf, sie verbeugen sich.

Schon bald nach Obamas Amtsantritt begann Trump mit der Inszenierung von Kämpfen, bei denen er den «Face» gab und Obama sein «Heel» sein sollte. Trump höhnte. Er grinste süffisant. Er prahlte. Er wollte, dass Obama gefeuert wurde. Im Frühjahr 2011 forderte er Obama zur Veröffentlichung seiner «vollständigen» Geburtsurkunde auf und suggerierte dabei, dass der Präsident wohl etwas zu verbergen habe. «Er hat gar keine Geburtsurkunde, oder wenn er eine hat, dann steht da etwas in dieser Urkunde, das sehr schlimm für ihn ist», sagte Trump. «Mir hat jemand gesagt – ich habe keine Ahnung, ob das jetzt schlimm für ihn ist oder nicht, aber vielleicht wäre dem so –, dass in der Rubrik ‹Religion› möglicherweise ‹muslimisch› steht.»[119]

Diese Auftritte erreichten ein maßgeschneidertes Publikum. Bereits vor Trumps imaginären Schaukämpfen mit Obama glaubten, sofern man – was ein zweifelhaftes Unterfangen ist – den Meinungsumfragen vertrauen konnte, mehr als 40 Prozent der Republikaner, dass der Präsident definitiv oder möglicherweise in einem anderen Land geboren wurde. Eine weitere Meinungsumfrage von schwer einzuschätzender Zuverlässigkeit berichtete, dass etwa zu jener Zeit mehr als ein Drittel der Amerikaner der Ansicht war, es bestehe entweder «eine gewisse Wahrscheinlichkeit» oder es sei «sehr wahrscheinlich», dass «Mitarbeiter der Bundesregierung entweder an den Anschlägen auf das World Trade Center und das Pentagon beteiligt waren oder nichts unternahmen, um sie zu verhindern».[120]

Die «Truther»- wie auch die «Birther»-Verschwörungstheorie waren schon seit langem von Alex Jones kolportiert worden. Im Jahr 2011, zu einem Zeitpunkt, als der Drudge Report die Verlinkung mit Infowars aufgenommen hatte, war Jones’ Publikum zahlreicher als das von Rush Limbaugh und Glenn Beck zusammengenommen. (Jones konnte mit keinem von beiden etwas anfangen. «Was für eine Hure Limbaugh doch ist», sagte er.) «Unsere Überprüfung der von den hawaiianischen Behörden veröffentlichten angeblichen Geburtsurkunde Obamas enthüllt heute, dass das Dokument eine schlampig gemachte Fälschung ist», schrieb Jones, nachdem das Weiße Haus Ende April 2011 ein Faksimile der Geburtsurkunde veröffentlicht hatte. Der Drudge Report verlinkte auf diese Geschichte. Nach der Veröffentlichung berichtete eine weitere Gallup-Umfrage – von abermals zweifelhafter Zuverlässigkeit –, dass fast jeder vierte Republikaner immer noch glaubte, Obama sei definitiv oder möglicherweise außerhalb der Vereinigten Staaten geboren worden.[121]

Am 26. Februar 2012, in Zeiten einer landesweiten Atmosphäre der Aufstachelung zum Rassenhass, durchstreifte ein 28-jähriger Mann namens George Zimmerman eine Wohnsiedlung in der Nähe von Orlando, Florida, und wählte die Notrufnummer 911, um zu melden, dass ihm «ein wirklich verdächtiger Kerl» aufgefallen sei. Er hatte den 17-jährigen Trayvon Martin gesehen, der auf dem Weg zu einem nahegelegenen Geschäft war. Zimmerman stieg aus seinem Auto und schoss den unbewaffneten Martin mit einer 9-mm-Pistole nieder. Der Schütze gab im Polizeiverhör an, Martin habe ihn angegriffen. Zimmerman wog 113 Kilo, Martin 63 Kilo. Martins Familie sagte, der Junge, dessen Stimme am Telefon zu hören gewesen sei, habe um sein Leben gefleht. Martin überlebte nicht. Zimmerman wurde sechs Wochen lang nicht angeklagt. Tracy Martin, Trayvons Vater, gab am 8. März in Orlando eine Pressekonferenz, bei der er die Freigabe von Aufzeichnungen der Notrufgespräche verlangte. «Wir haben das Gefühl, dass der Gerechtigkeit nicht Genüge getan wurde», sagte er.[122]

Martins Tod hätte vielleicht keine nationale Beachtung gefunden, wenn es nicht zu einer weiteren Schießerei gekommen wäre. Einen Tag, nachdem George Zimmerman Trayvon Martin getötet hatte, betrat ein 17-jähriger Junge namens T. J. Lane die Cafeteria der Highschool von Chardon, einer 50 Kilometer von Cleveland entfernten Kleinstadt, zog eine 5,6-mm-Pistole und schoss. Er tötete drei Schüler und verletzte zwei weitere schwer.[123]

Zu diesem Zeitpunkt waren die Vereinigten Staaten bereits das Land mit dem weltweit höchsten Anteil von Privatpersonen, die Schusswaffen besitzen, doppelt so hoch wie im zweitplatzierten Land auf dieser Liste: Jemen. Die Vereinigten Staaten hatten auch die höchste Quote von Tötungsdelikten unter allen wohlhabenden Industrienationen, fast viermal so hoch wie in Frankreich oder Deutschland und sechsmal so hoch wie in Großbritannien. In den Vereinigten Staaten waren zu Beginn des 21. Jahrhunderts bei zwei Dritteln aller Morde Schusswaffen im Spiel.[124] Keine dieser Tatsachen hatte den Supreme Court im Jahr 2008 im Verfahren District of Columbia v. Heller von dem Urteilsspruch abgebracht, dass der 1975 verabschiedete Firearms Control Regulation Act verfassungswidrig sei. Richter Scalia schrieb: «Der 2. Zusatzartikel schützt ein individuelles Recht auf den Besitz einer Schusswaffe auch ohne Dienstpflicht in einer Miliz.» In Vorwegnahme der Aussicht auf neu zu besetzende Richterposten am Obersten Gerichtshof sagte der neue Vorsitzende der NRA dem National Rifleman, die Präsidentschaftswahl 2012 sei «mit Blick auf den 2. Zusatzartikel vielleicht die wichtigste Wahl unseres Lebens».[125]

Es gab Schießereien an Straßenkreuzungen, in Einkaufszentren, Krankenhäusern, Kinos und in Kirchen. Die Nation hatte über Schießereien an Schulen seit 1999 getrauert, als zwei Schüler des Abschlussjahrgangs an einer Highschool in Columbine, Colorado, zwölf Mitschüler, einen Lehrer und zuletzt sich selbst erschossen. 2007 schoss der 23 Jahre alte Seung-Hui Cho, ein Student im 4. Studienjahr an der Virginia Tech University, in Blacksburg 50 Menschen nieder und tötete 32 davon, bevor er Selbstmord beging.[126] Die Schießerei an einer Highschool in Ohio – nur einen Tag, nachdem Martin in Florida getötet worden war – war im Vergleich zum Geschehen an der Virginia Tech eine kleinere Tragödie, aber sie warf ein sehr düsteres Licht auf die in Florida geäußerten Behauptungen, George Zimmerman sei im Recht gewesen, als er Trayvon Martin niederschoss.

Zwischen 1980 und 2012 hatten 49 Bundesstaaten Gesetze verabschiedet, mit denen Waffenbesitzern gestattet wurde, ihre Waffen auch außerhalb der eigenen Wohnräume zum persönlichen Schutz verdeckt zu tragen. (Illinois war die einzige Ausnahme.) 2004 hatte Bush zugelassen, dass das 1994 mit der Brady Bill erlassene und zeitlich befristete Verbot des Besitzes, der Weitergabe oder der Herstellung halbautomatischer Sturmgewehre auslief. 2005 verabschiedete Florida ein «Stand your ground»-Gesetz, mit dem Bürgern, die sich einem Angreifer mit tödlicher Gewalt widersetzten, obwohl auch die Möglichkeit eines sicheren Rückzugs bestand, Straffreiheit zugesichert wurde. Weitere Staaten folgten diesem Beispiel.[127] Das Tragen einer nicht sichtbaren Waffe zur Selbstverteidigung wurde nicht als zu beklagendes Scheitern der Zivilgesellschaft verstanden, sondern als ein Akt bürgerschaftlichen Engagements, den es zu rühmen galt, Recht und Gesetz, Mann für Mann.

Obama weigerte sich, dieses Argument durchgehen zu lassen. «Hätte ich einen Sohn, würde er wie Trayvon aussehen», sagte ein sichtlich erschütterter Präsident bei einer Pressekonferenz am 23. März.[128] Zu einem späteren Zeitpunkt an jenem Tag hielt Rick Santorum, ein Aspirant auf die Präsidentschaftskandidatur für die Republikaner, in einer Schießanlage in West Monroe, Louisiana, wo er 14 Schüsse aus einem 45-er Colt abgab, eine Rede unter freiem Himmel. Er sagte zu seinem Publikum: «Was ich hier ausüben konnte, war eine jener grundlegenden Freiheiten, die in unserer Verfassung garantiert sind, das Recht, Waffen zu tragen.» Eine Frau rief ihm zu: «Stellen Sie sich vor, es sei Obama.»[129]

Am 2. April versammelten sich in Atlanta Tausende von Studenten und hielten Schilder hoch, auf denen «I am Trayvon Martin» und «Don’t Shoot» stand.[130] Noch während diese Versammlung lief, betrat ein 43 Jahre alter Mann namens One Goh einen Seminarraum eines kleinen christlichen Colleges in Oakland, zog eine halbautomatische 11,4-mm-Pistole, ließ die Studenten an einer Wand antreten, bedrohte seine Opfer: «Ich werde euch alle töten» – und schoss. Am gleichen Morgen wurden in Tulsa fünf Menschen auf offener Straße erschossen. Ermittlungen unter der Bezeichnung «Operation Random Shooter» führten die Polizei von Tulsa zu dem 19-jährigen Jake England, dessen Vater zwei Jahre zuvor erschossen worden war. Am Ostersonntag waren in Mississippi zwei Collegestudenten erschossen worden.[131]

Am 20. März kündigte das US-Justizministerium eigene Ermittlungen zum Tod von Trayvon Martin an. Martins Eltern traten am 7. April in Good Morning America auf. Fünf Tage später bezeichnete Newt Gingrich, der sich 2012 ebenfalls um die Nominierung als Präsidentschaftskandidat der Republikaner bewarb, den 2. Zusatzartikel als «allgemeines Menschenrecht». Trump hielt dies für einen geeigneten Moment, um abermals Zweifel an der Echtheit der Geburtsurkunde des Präsidenten zu streuen. «Viele Leute glauben nicht, dass es eine echte Urkunde ist», sagte Trump im Mai, unmittelbar bevor er seine Unterstützung für Mitt Romney als Kandidat der Republikaner erklärte.[132]

Obama wurde 2012 wiedergewählt, und die Demokraten behielten die Mehrheit im Senat. Nur wenige Wochen später, an einem kummervollen Dezembertag in der verschneiten Kleinstadt Newtown in Connecticut, erschoss ein psychisch kranker 20-Jähriger seine Mutter und fuhr schwer bewaffnet zu seiner ehemaligen Grundschule. Dort erschoss er sechs Lehrerinnen und Mitarbeiterinnen der Schule sowie 20 Kinder, die jüngsten davon erst fünf Jahre alt, ein Massaker an Erstklässlern.

«Ich weiß, dass es in Amerika nicht einen Elternteil gibt, der nicht die gleiche überwältigende Trauer empfindet wie ich», sagte Obama im Weißen Haus. Er konnte die Tränen nicht zurückhalten. «Unsere Herzen sind gebrochen.»[133] Und dennoch gelang es der Obama-Regierung nicht, strengere Waffengesetze durch einen von den Republikanern beherrschten Kongress zu bringen, der unerschütterlich das Recht verteidigte, Waffen zu tragen, um jeden Preis, und ein Massaker an kleinen Kindern als Preis der Freiheit bezeichnete.

OBAMAS ZWEITE AMTSZEIT war geprägt von Auseinandersetzungen um den Staatshaushalt und das Chaos im Nahen Osten. 2011 hatten amerikanische Soldaten Osama bin Laden aufgespürt und getötet, und Obama zog die letzten amerikanischen Soldaten aus dem Irak ab. Doch Obamas Außenpolitik wirkte ziellos, planlos und zaghaft, was sowohl sein eigenes Ansehen als auch das seiner Außenministerin Hillary Clinton schmälerte. Während der Krieg in Afghanistan weiter andauerte, griffen militante Islamisten 2012 Einrichtungen der US-Regierung in Libyen an, und 2014 hatte eine neue Terrororganisation, die sich als Islamischer Staat bezeichnete, die Kontrolle über größere Gebiete im Irak erlangt. Amerikas Nation-Building-Projekt im Nahen Osten war gescheitert. Obama, der ein früher Kritiker des Patriot Act, des Gefängnisses in Guantánamo und des Irakkriegs gewesen war, führte eine Regierung, die Überwachungsmaßnahmen durch ein geheimes, von der National Security Agency betriebenes Programm intensivierte, Whistleblower verfolgte, die Dokumente zu Menschenrechtsverletzungen durch amerikanische Soldaten im Nahen Osten weitergaben, und Drohnen für gezielte Tötungen einsetzte. Kritiker vertraten die Ansicht, dass der Krieg gegen den Terror auf der ganzen Linie gescheitert sei, dass die Besetzung arabischer Länder nur noch mehr Terroristen produziert habe und schon die bloße Idee eines Krieges gegen den Terror ein Irrtum sei. Terrorismus sei ein krimineller Akt, sagte der Historiker Andrew Bacevich, und müsse mit polizeilichen Mitteln und Diplomatie bekämpft werden, nicht mit militärischem Vorgehen.[134]

Angesichts der massiven Aufwendungen für den Verteidigungshaushalt erwies sich die Regierung in der Steuerpolitik als unbeweglich und als nahezu unfähig, über Prioritäten bei den Staatsausgaben überhaupt nur zu diskutieren. Paul Ryan, der Mehrheitsführer im Repräsentantenhaus, ein Republikaner aus Wisconsin, schlug einen Einkommensteuerspitzensatz von 25 Prozent vor, einen Steuersatz, den es in den Vereinigten Staaten seit den Tagen von Andrew Mellon nicht mehr gegeben hatte. Von 248 republikanischen Abgeordneten des Repräsentantenhauses und 47 republikanischen Senatoren unterzeichneten alle bis auf 13 ein Gelöbnis, mit dem sie schworen, sich jeder Erhöhung der Einkommensteuer zu widersetzen. Die Obama-Regierung wollte den Spitzensteuersatz auf 39 Prozent anheben, und diese Empfehlung wurde vom überparteilichen Forschungsdienst des Kongresses (Congressional Research Service) unterstützt. Doch die republikanischen Senatoren lehnten den CRS-Bericht ab (sie bewerteten zum Beispiel die Formulierung «Steuersenkungen für die Reichen» als parteiisch) und erzwangen mit einem in der jahrhundertelangen Geschichte des Congressional Research Service beispiellosen Vorstoß die Rücknahme des Berichts.[135]

Während der Kongress über die Bedeutung der Redewendung «Steuersenkungen für die Reichen» stritt, stellten Politikwissenschaftler eine beunruhigende Frage: Wie viel Ungleichheit bei Vermögen und Einkommen kann eine Demokratie verkraften? Eine Arbeitsgruppe der American Political Science Association war 2004 zu dem Ergebnis gekommen, dass zunehmende wirtschaftliche Ungleichheit die grundlegenden politischen Institutionen des Landes bedrohe. Vier Jahre später präsentierte eine 700 Seiten umfassende Sammlung wissenschaftlicher Aufsätze ihre These bereits im Titel: The Unsustainable American State. Ein 2013 vorgelegter Bericht der Vereinten Nationen kam zu dem Schluss, dass eine zunehmende Ungleichheit bei den Einkommen nicht nur für politische Instabilität in aller Welt verantwortlich sei, sondern auch rund um den Globus als Wachstumsbremse wirke. Als das Pew Research Center im darauffolgenden Jahr bei seiner jährlichen Untersuchung Menschen in 44 Ländern nach den fünf Gefahren fragte, die ihrer Einschätzung nach die «größte Bedrohung für die Welt» darstellten, standen in den meisten Ländern religiöser und ethnischer Hass ganz oben auf der Liste, doch die Amerikaner entschieden sich für die Ungleichheit.[136]

Als die Präsidentschaftswahl 2016 näher rückte, sah es ganz danach aus, als würde das Thema Ungleichheit die ungeteilte Aufmerksamkeit der Kandidaten finden. Bernie Sanders, der sich um die Nominierung durch die Demokraten bemühte, sollte die Ungleichheit zum Herzstück seines Wahlkampfs machen, er führte eine Bewegung an, die Wirtschaftsreformen im Stil der Progressive Era forderte. Hillary Clinton hingegen, die sich letztlich die Nominierung durch die Demokraten sicherte, sollte es versäumen, bei diesem Problem echte Zugkraft zu entwickeln. Und Donald Trump, der unerwartete Kandidat der Republikaner, sollte den Einwanderern die Schuld geben.

Eine Bewegung gegen die Gewalt durch Schusswaffen begann während Obamas zweiter Amtszeit, aber es war keine Bewegung für schärfere Waffengesetze, es war eine Bewegung für Gerechtigkeit in den Rassenbeziehungen. Nachdem ein Geschworenengericht in Florida George Zimmerman 2013 in allen Anklagepunkten im Zusammenhang mit dem Tod von Trayvon Martin freigesprochen hatte, begannen Aktivisten unter dem Hashtag #BlackLivesMatter mit der Verbreitung von Twitter-Nachrichten. Schon vor Ida B. Wells’ Kampagne gegen die Lynchmorde hatten sich Afroamerikaner gegen Terrorismus im eigenen Land, von staatlichen Organen ausgehende Gewalt und Polizeibrutalität gewehrt. Black Lives Matter war Black Power unter Einsatz von disruptiven innovativen Technologien: Smartphones und Apps, mit denen sich entlarvendes Bild- und Textmaterial einfangen und live über das Internet weiterverbreiten ließ. Förderten die «Stand your ground»-Gesetze die Bürgerwehrwachsamkeit, erleichterten die Datendienstleister die Arbeit des Hobbyreportertums. Newt Gingrich bestand darauf, dass der 2. Zusatzartikel zu den Menschenrechten gehöre, aber die Datendienstleister bewarben den Gedanken, dass alle Nutzer des Internets Reporter seien und jeder Mensch sein eigener Muckraker, und das Hochladen von Daten sei für sich genommen ein Menschenrecht. «Eine Milliarde aktiver Fotojournalisten, die das Leben der Menschen hochladen, und es ist spektakulär», sagte in einem Werbespot für einen Datendienstleister eine Stimme, die mit einem riesigen Fotomosaik unterlegt war. «Mein iPhone 5 kennt jede Perspektive, jedes Panorama, die gesamte Galerie der Menschheit. Ich muss, nein, ich habe das Recht, grenzenlos zu sein.»[137]

Black Lives Matter machte die Alltagserfahrungen von Afroamerikanern durch Fotografien sichtbar, vielleicht sogar auf genau die Art, die Frederick Douglass vor eineinhalb Jahrhunderten vorausgesagt hatte. Auf Fotos hielten Augenzeugen, in manchen Fällen sogar die Opfer selbst, die Erfahrungen junger schwarzer Männer fest, die seit Generationen von der Polizei herausgegriffen, mit ihren Fahrzeugen am Straßenrand angehalten, an Straßenkreuzungen gestoppt, drangsaliert, durchsucht, geschlagen, getreten und sogar getötet worden waren. 2014 schoss ein Polizist in dem unweit von St. Louis gelegenen Ort Ferguson in Missouri auf offener Straße den 18-jährigen Michael Brown nieder und tötete ihn. Augenzeugen hielten den Anblick danach mit ihren Smartphones im Bild fest. Im ganzen Land fotografierten Zeugen einen schießenden Polizisten nach dem anderen. Ein Polizist erschoss den 12-jährigen Tamir Rice in einem Park in Cleveland; der Junge hatte eine Spielzeugpistole bei sich. Die Polizei in Minnesota erschoss Philando Castile in seinem Auto; er hatte eine zugelassene Pistole im Handschuhfach liegen und versuchte dies den Polizisten mitzuteilen. Castiles Freundin brachte die Schüsse per Livestream an die Öffentlichkeit. «Soziale Medien helfen Black Power beim Kampf gegen die Macht», verkündete Wired. Doch juristische Erfolge waren der Bewegung nicht vergönnt. Eine Tötung nach der anderen wurde filmisch festgehalten und ins Internet gestellt, doch in fast allen Fällen wurden die wegen Dienstvergehen angeklagten Polizisten freigesprochen.[138]

Black Lives Matter erhob die dringende Forderung nach Aufmerksamkeit für staatlich sanktionierte Gewalt gegen Afroamerikaner, zu deren Erscheinungsformen Polizeibrutalität, eine diskriminierende Strafgesetzgebung und massenhaftes Einsperren gehörten. Es war vielleicht keine Überraschung, dass die Bewegung schärferen Waffengesetzen keine Priorität einräumte, was nicht zuletzt damit zu tun hatte, dass zu ihren Vorläufern die Black Panthers zählten, die schwarze Männer dazu aufgefordert hatten, sich zu bewaffnen, und dieses Anliegen dadurch beförderten, dass sie den 2. Zusatzartikel auf eine Art auslegten, die später von der NRA übernommen werden sollte. Unterdessen wurden die erbitterten Auseinandersetzungen an den erstmals in den 1970er Jahren bei den Themen Schusswaffen und Abtreibung festgelegten Kampflinien fortgesetzt, auf den Straßen und an den Wahlurnen, aber vor allem in den Gerichtssälen. Es bildete sich ein Muster heraus. Aus dem 2. Zusatzartikel abgeleitete Rechte – ein De-facto-Kampf um Rechte für weiße Männer und von ihnen selbst geführt – wurden gestärkt. Die Entwicklung der Bürgerrechte für Schwarze, Frauen und Einwanderer stagnierte und machte sogar Rückschritte. Und Rechte für Homosexuelle verbesserten sich.

Die Bewegung für die Rechte von Homosexuellen, jetzt unter der neuen Bezeichnung LGBT Movement, erzielte in den Anfangsjahren des 21. Jahrhunderts wegweisende Erfolge – während andere Bürgerrechtsforderungen scheiterten –, und das lag hauptsächlich an der Übernahme der familienfreundlichen Rhetorik, die Konservativen seit Phyllis Schlaflys STOP-ERA-Kampagne zu Siegen verholfen hatte. 2003 hob der Supreme Court im Verfahren Lawrence v. Texas die 1986 ergangene eigene Entscheidung zu Bowers auf, indem er ein in Texas geltendes Gesetz gegen Homosexualität für verfassungswidrig erklärte. Richterin Sandra Day O’Connor erklärte in einem zustimmenden Sondervotum, sie stütze ihre Entscheidung auf den 14. Zusatzartikel und den darin festgelegten gleichen Schutz der Gesetze, was zu der Erklärung führe, dass das in Texas bisher geltende Gesetz eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts darstelle: Ein Mann könne nicht rechtlich belangt werden, wenn er mit einer Frau eine bestimmte Handlung ausübe, aber er könne belangt werden, wenn er dieselbe Handlung mit einem Mann ausübe. O’Connors Argumentation war wegweisend für LGBT-Prozesse, die sich zunehmend der ehelichen Gleichstellung zuwandten. Der Oberste Gerichtshof von Massachusetts machte das Commonwealth weniger als ein Jahr nach dem Lawrence-Urteil zum ersten Bundesstaat, der die gleichgeschlechtliche Ehe zu einem durch die Verfassung garantierten Recht erklärte.[139]

Das in seiner Bedeutung Brown v. Board entsprechende Urteil zur gleichgeschlechtlichen Ehe erging im Frühjahr 2015, fünfzig Jahre nach der wegweisenden Entscheidung des Gerichts zur Empfängnisverhütung in Griswold v. Connecticut. Der aktuelle Fall, Obergefell v. Hodges, betraf die Petitionen von vier Paaren, deren Klagebegehren sich gegen das Verbot gleichgeschlechtlicher Ehen in Kentucky, Michigan, Ohio und Tennessee richtete. Der Bundesstaat Ohio hatte 2004 ein Gesetz verabschiedet, in dem es hieß: «Nur eine Verbindung zwischen einem Mann und einer Frau kann eine Ehe sein, die in diesem Staat gültig oder anerkannt ist.» James Obergefell und John Arthur aus Ohio hatten seit fast 20 Jahren zusammengelebt, als im Jahr 2011 bei Arthur ALS diagnostiziert wurde, eine schmerzhafte und unheilbare Krankheit. 2013 flogen die beiden nach Maryland, in einen Bundesstaat, der gleichgeschlechtliche Ehen nicht verbot, und wurden dort noch auf dem Rollfeld des Flughafens getraut. Arthur starb vier Monate später im Alter von 48 Jahren. Für seinen Witwer war er nach der Rechtslage in Ohio ein Fremder.[140]

Der Supreme Court erklärte in seinem Urteil in Sachen Obergefell v. Hodges das Verbot gleichgeschlechtlicher Ehen durch einen Bundesstaat für verfassungswidrig. Im Stonewall Inn in New York, der heiligen Stätte der Bewegung, saßen die Menschen bei Kerzenlicht beisammen, umarmten einander und weinten. Es war ein langer und äußerst harter Kampf gewesen, und als der Sieg dann errungen war, fühlte sich das so plötzlich und unerwartet an wie der Fall der Berliner Mauer. Vor einer Minute war da noch eine Mauer; und jetzt: der ungeteilte Himmel.

Nach einem halben Jahrhundert des Prozessierens um das Recht auf Familienplanung und die Rechte von Homosexuellen bedeutete das Obergefell-Urteil für die eine Seite einen Triumph, für konservative Christen war es dagegen eine historische Niederlage in einem Kulturkrieg, der mit der sexuellen Revolution in den 1960er Jahren begonnen hatte. In den Jahrzehnten zwischen Griswold und Obergefell waren Christen der Republikanischen Partei beigetreten und hatten die Partei verändert, und dennoch war es ihnen nicht gelungen, das Kulturbeben abzuwenden. Viele von ihnen fühlten sich von einer säkularen Welt, die den grundlegenden Lehren ihres Glaubens mit Ablehnung begegnete, verraten, ja sogar im Stich gelassen. Konservative Christen hatten seit langem das Sex und Gewalt in Kino- und Fernsehfilmen verherrlichende Hollywood als aktiven Förderer dieses Kulturwandels ausgemacht. Doch als die Unterhaltungsindustrie, einschließlich der Pornografie, im Internet aktiv wurde, begannen konservative Christen – wie auch die übrige Gesellschaft – sich zu fragen, welche Auswirkungen das Internet wohl auf den Glauben, die Tradition und das Gemeinwesen haben würde. Rod Dreher, ein Redakteur des American Conservative, schrieb in einem Buch, in dem er eine «Strategie für Christen in einer nachchristlichen Gesellschaft» entwarf: «Technologie zu nutzen bedeutet, an einer kulturellen Liturgie teilzunehmen, die uns, wenn wir nicht aufpassen, daran gewöhnt, die zentrale These der Moderne zu akzeptieren: dass der einzige Sinn, den es in der Welt gibt, derjenige ist, den wir selbst – in unserer endlosen Jagd nach Beherrschung der Welt – den Dingen zuschreiben.»[141]

Welche Rolle genau das Internet bei den politischen Umwälzungen in den ersten beiden Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts gespielt hatte, blieb ungewiss, aber als Konsequenz aus den Anschlägen vom 11. September 2001 glaubten die Amerikaner an Verschwörungen und fürchteten sich vor Invasionen. Verschiedene Leute befürchteten unterschiedliche Verschwörungen, aber ihre Befürchtungen nahmen dieselbe Form an: Eindringlinge hatten sich in das gesellschaftliche Leben Amerikas eingeschlichen und untergruben die amerikanische Demokratie. War dieser Invasor nicht das Internet selbst? Die Cyberutopisten verneinten diese Frage und verwiesen, als Belege für die These, dass die seit langem vorhergesagte Demokratisierung der Politik endlich eingetreten sei, auf Obamas Wahlkampf von 2008, die Tea Party, die Occupy-Bewegung, auf Black Lives Matter, den Arabischen Frühling und politisch motivierte Hacker von Anonymus bis WikiLeaks. «Ein neues Zeitalter der informationellen Aufklärung bricht an», schrieb Heather Brooke in The Revolution Will Be Digitised. «Die Technologie reißt traditionelle Barrieren wie gesellschaftlichen Stand, Klasse, Macht, Wohlstand und Geografie ein und ersetzt sie durch ein Ethos der Zusammenarbeit und Transparenz.»[142]

Stattdessen hatten die sozialen Medien eine Brutstätte für Fanatismus, Autoritarismus und Nihilismus geschaffen. Sie hatten sich außerdem als mühelos manipulierbar erwiesen, nicht zuletzt durch ausländische Agenten. Im Internet wirkte alles neu, selbst wenn das meiste davon sehr alt war. Die «Alt-Right»-Bewegung (ein 2008 von Richard Spencer geprägter Begriff) glich nichts so sehr wie dem althergebrachten Rechtsextremismus, mit Wurzeln im gegen Bürgerrechte kämpfenden Ku-Klux-Klan der 1860er Jahre und dem der Einwanderung feindselig gegenüberstehenden Klan der 1920er Jahre. Ihren Stil – provokant und pornografisch – klaute sie bei der Gegenkultur der 1960er Jahre. Die Alt-Right-Bewegung, die weniger vom Konservatismus als von der sexuellen Revolution beeinflusst war, hielt sich selbst für tendenziell grenzüberschreitend, für eine Gegenkultur, die den Moralismus der moralischen Mehrheit – oder jede Art von Moralismus – hinter sich gelassen hatte und die Ansicht vertrat, der von den Neokonservativen aufgebaute Sicherheitsstaat sei auf den Kampf der Kulturen nur unzureichend vorbereitet; stattdessen favorisierte sie einen autoritären Staat.[143]

Spencer war als Doktorand im Fach Geschichte an der Duke University eingeschrieben, verließ die Universität jedoch 2007, um Redakteur und Anführer einer – nach seinen eigenen Worten – «Bewegung des Bewusstseins und der Identität für europäische Völker im 21. Jahrhundert» zu werden. Die Alt-Right-Bewegung, angetrieben von der Ideologie der weißen Vorherrschaft und vom Widerwillen gegen «Establishment-Konservatismus», machte aus der Frauenfeindlichkeit einen rhetorischen Stil und erklärte die Ablehnung von Einwanderung zu ihrem wichtigsten politischen Thema. Spencer wurde 2011 Präsident des National Policy Institute, auf dessen Website 2014 verkündet wurde: «Die Einwanderung ist eine Art Stellvertreterkrieg – und vielleicht ein letztes Gefecht – für weiße Amerikaner, die sich der schmerzlichen Erkenntnis stellen, dass ihre Enkel, wenn auf die Erkenntnis nicht drastische Maßnahmen folgen, in einem Land leben werden, das fremdartig und feindselig ist.»[144]

So ziemlich das einzig Neue an der Alt-Right-Bewegung war das Zuhause, das sie im Internet fand, in Foren wie Reddit und, vor allem, 4chan, in denen die User, mehrheitlich jüngere weiße Männer, die Kultur der politischen Korrektheit verhöhnten, den Niedergang der westlichen Kultur beklagten, den Feminismus attackierten, Frauen provozierten, Neonazi-Meme verwendeten und Pornografie posteten, und auch auf neuen, disruptiven Medien-Sites, vor allem auf Breitbart, das 2007 gestartet wurde und eine Zeit lang zu den beliebtesten Websites in den Vereinigten Staaten gehörte.[145]

Das Online-Pendant der Alt-Right-Bewegung, das mitunter auch als Alt-Left bezeichnet wird, stand mit einem Bein in der Online-Subkultur von Tumblr und anderen Plattformen, mit dem anderen dagegen in der Campuspolitik des endlosen Eiferns über immer kleinteiligere Gegenstände. Waren die bevorzugten Erscheinungsformen der Alt-Right-Leute der frauenfeindliche Troll und das Neonazi-Mem, so waren die gängigsten Arbeitsformen von Alt-Left der Clickbait und die denunziatorische, sentimentale, nichtssagende Empörung – «8 Signs Your Yoga Practice Is Culturally Appropriated» – sowie scheinheilige Anschuldigungen wegen Rassismus, Sexismus, Homophobie und Transphobie. 2014 bot Facebook seinen Usern mehr als 50 verschiedene Geschlechter an, unter denen sie sich mit ihren Daten registrieren lassen konnten. Menschen, die davon irritiert waren, wurden online beschuldigt, sie würden Vorurteile pflegen: Öffentliche Beschämung als Methode der politischen Auseinandersetzung war im Internet unter der extremen Linken ebenso sehr – wenn nicht sogar noch stärker – verbreitet wie unter der extremen Rechten. Als bei einem Terrorangriff auf einen Schwulennachtklub in Orlando, Florida, 49 Menschen ermordet wurden, verschwendete die Alt-Left-Bewegung im Anschluss an diese Tragödie ihre Energien mit wechselseitigen Beschuldigungen wegen Verstößen gegen die Regeln der «Intersektionalität», die komplizierte, auf der Identität beruhende Hierarchien von Leiden und Tugend umfassen. «Eine intersektionalistische Twitter-Berühmtheit erinnerte jene, die den Fall die schlimmste Massenerschießung in der Geschichte der USA genannt hatten, dass ‹Wounded Knee die schlimmste war›», berichtete die Autorin Angela Nagle. «Andere Tweeter_innen wetterten gegen den Gebrauch von ‹Latino/o› anstelle von ‹Latinx› in der Berichterstattung, während wieder andere klarstellten, dass die psychische Erkrankung des Massenmörders und nicht etwa seine Loyalität zu IS und Kalifat der Grund für die Tat gewesen sei. Andere ließen sich das letzte Wort nicht nehmen und tweeteten erzürnt zurück, es sei Ableismus, dem Amokläufer eine psychische Erkrankung zuzuschreiben.»[146]

Die Millenials – eine Generation von Amerikanern, die online aufgewachsen ist – fanden ihren politischen Stil im Internet. Zum Zeitpunkt der Präsidentschaftswahl 2016 bezog eine Mehrheit der jüngeren Wahlberechtigten ihre Nachrichten über den Newsfeed von Facebook, der 2006 eingerichtet worden war. Nicht viele von ihnen – der Anteil war geringer als in jeder Generation zuvor – vertrauten politischen Parteien oder Kirchen oder dem öffentlichen Dienst und staatlichen Institutionen. «Autoritäten infrage stellen», das Mantra der Gegenkultur, hatte seine Bedeutung verloren, denn nur wenige Institutionen übten noch Autorität aus. Anbieter von Datendienstleistungen suggerierten, dass die Menschen alles über sich ins Internet stellen könnten, ein Ich aus Selfies und Posts, eine Loslösung von Gemeinschaftlichkeit und Nachfragen. Verkäufer von Suchmaschinen suggerierten, dass absolut alles, was irgendein Suchender wissen müsse, mit einem Klick zu finden sei. «Schließlich wird es Implantate geben», versprach der Google-Mitgründer Larry Page, «die einem bereits Antworten liefern, wenn man nur an etwas denkt.»[147] Doch online, wo jeder Mensch am Ende ganz allein ist, war es unglaublich schwierig geworden, allzu viel mit einer gewissen Sicherheit zu wissen, abgesehen davon, wie man mag und gemocht wird und, ganz besonders, wie man hasst und gehasst wird.

III

«MIT EINIGEN DER ANDEREN BURSCHEN habe ich früher schon an diesen Tischen gesessen», sagte Jeb Bushs Wahlkampfmanager. In einem olivgrün gestrichenen Raum, der etwa die Größe eines Tennisplatzes hatte, saßen die Wahlkampfmanager der Kandidaten, die sich 2016 um das Amt des Präsidenten der Vereinigten Staaten beworben hatten, an einem breiten Konferenztisch, um sich nach der Wahl auszutauschen. Sie waren Krieger, die unmittelbar nach Kriegsende reuelos auf einem Berg von Leichen standen. Sie hatten sich zu einer zweitägigen Generalbilanz in der Kennedy School in Harvard versammelt, wie das die Wahlkampfmanager nach jeder Präsidentenwahl seit 1972 gehalten hatten. Der größte Teil ihrer Gespräche bestand aus Fachsimpeleien, und ein bisschen Tratsch war auch dabei. Niemand sagte auch nur ein Wort über die Vereinigten Staaten oder ihre Regierung oder das Gemeinwohl. Als Beobachter dieses Treffens fühlte man sich wie ein Schlachtschwein bei einer Versammlung des Fleischerhandwerks: Es wurde viel über die neuesten technischen Errungenschaften bei der Messerherstellung und über die besten und schmackhaftesten Fleischstücke geredet, aber niemand täuschte auch nur die geringste Zuneigung für das Schwein vor.

Die Wahl von 2016 war das Produkt einer technologischen Disruption: Die auffälligste Form politischer Kommunikation während des Wahlkampfs war Donald Trumps Twitter-Account. Das löste auch eine Krise bei der Presse aus, deren Standards für Belegbarkeit und Verantwortlichkeit durch ungenannte Quellen und Leaks gefährdet wurden, von denen sich einige zudem als Teil einer von der russischen Regierung betriebenen Kampagne politischer Einmischung mittels sogenannter Trollfabriken erwiesen. Aus den Tiefen der amerikanischen Politik schöpfte diese Wahl den widerwärtigen Schmutz uralter Hassgefühle. Sie offenbarte die schlimmen Konsequenzen des Niedergangs der Mittelschicht. Sie gab einen Einblick in die Folgen, die die verfassungsrechtliche Ungleichbehandlung von Frauen für die politische Stabilität der Republik hatte. Sie signalisierte das Ende der konservativen Christian Coalition. Und sie stellte die trostlose Leere der beiden großen politischen Parteien bloß.

Bei den Republikanern hatten sich 17 Bewerber um die Nominierung zum Präsidentschaftskandidaten bemüht. Beim Treffen in Harvard redeten die Wahlkampfmanager über ihre Kandidaten und den von ihnen geführten Wahlkampf wie Jockeys, die über ihre Pferde und die Bedingungen auf der Rennbahn sprechen. «Unsere Strategie war, den Kopf einzuziehen», sagte der Manager von Senator Marco Rubio aus Florida. Der Manager von Gouverneur Scott Walker aus Wisconsin sagte: «Der Weg erforderte Ausdauer und Geduld.» Ted Cruz’ Manager redete über die Bahn, auf der sein Pferd lief. Trumps ehemaliger Wahlkampfmanager, der CNN-Kommentator Corey Lewandowski, redete am längsten. Sein Pferd war das beste, das schönste, das schnellste und lief «das unkonventionellste Rennen in der Geschichte der Präsidentenamts». Er gab eine – vermutlich apokryphe – Geschichte zum Besten, nach der Mitt Romney 2012 angeblich in einer Limousine zu Wahlkampfveranstaltungen gefahren worden, dann aber, im letzten Augenblick, regelmäßig in einen Chevy gestiegen sei. Nicht so Trump. Trump flog überallhin mit seinem Jet. «Unser Ziel war es, sicherzustellen, dass wir als der Populist kandidierten, auf der Grundlage unseres Reichtums, anstatt uns von ihm zu distanzieren, und ein Monopol auf die Aufmerksamkeit der Medien zu erreichen, indem wir uns der sozialen Medien bedienten wie niemand sonst», prahlte Lewandowski. «Wir wussten: Sobald Donald Trump einen Tweet absetzte, würde Fox News live darüber berichten.» Die Zeit der systematischen Basisarbeit im direkten Kontakt mit der Wählerschaft sei vorbei, sagte er. Zeitungen, Zeitungsanzeigen? Irrelevant, sagte er. «Donald Trump sichert sich die Berichterstattung in eigener Sache mit Hilfe des Fernsehens», sagte er. Trump war auf gar keiner Rennbahn gelaufen. Trump war aus einem Flugzeug gestiegen.[148]

Der Manager von Senator Lindsey Graham aus South Carolina wies darauf hin, dass viel von der Entscheidung von Fox News abgehangen hatte, Meinungsumfragen als Grundlage für die Entscheidung darüber heranzuziehen, welche Kandidaten an den Vorwahldebatten teilnehmen durften, wo die einzelnen Kandidaten stehen und wie lange die Kameras sie zeigen sollten. Die Meinungsumfragen zur Wahl 2016 waren ein Skandal gewesen, dessen Größenordnung «Dewey-beats-Truman» nahekam, ein Skandal, den Branchenexperten hatten kommen sehen. Während des Präsidentschaftswahlkampfs 2012 hatten 1200 Meinungsforschungsunternehmen 37.000 Umfragen veranstaltet, wofür mehr als drei Milliarden Telefonate geführt wurden. Die meisten Amerikaner – mehr als 90 Prozent – hatten jede Auskunft verweigert. Mitt Romneys Meinungsforscher hatten noch am Morgen des Wahltags geglaubt, dass Romney gewinnen würde. Eine Studie von 2013 – eine Meinungsumfrage – ergab, dass drei von vier Amerikanern Meinungsumfragen misstrauten. Aber neun von zehn Personen misstrauten den Umfragen anscheinend so sehr, dass sie sich sogar geweigert hatten, die Frage zu beantworten, was bedeutete, dass die Ergebnisse dieser Umfrage völlig bedeutungslos waren.[149]

«Meinungsumfragen vor Wahlen stehen vor einer Krise», hatte ein ehemaliger Präsident der American Association for Public Opinion Research wenige Monate vor der Wahl 2016 geschrieben. Als George Gallup in den 1930er Jahren die Meinungsforschung begründete, lag der Rücklauf – der Prozentsatz der Befragten, die den Demoskopen antworten – noch bei deutlich über 90 Prozent. Bis zu den 1980er Jahren sank dieser Anteil auf etwa 60 Prozent. Im Vorfeld der Wahl 2016 war der Rücklauf in den einstelligen Prozentbereich abgerutscht. Wahlprognosen erwiesen sich immer wieder als falsch. 2015 sagten die Meinungsumfragen Benjamin Netanjahus Wahlsieg in Israel ebenso wenig voraus wie die Niederlage der Labour Party in Großbritannien und ein Referendum in Griechenland. 2016 lagen die Umfrageergebnisse vor dem Brexit-Referendum in Großbritannien ebenfalls falsch.[150]

Je unzuverlässiger die Meinungsumfragen wurden, desto mehr stützten sich die Presse und die Parteien auf sie, was sie nur noch unzuverlässiger machte. 2015, während der Vorwahlzeit, kündigte Fox News an, die Bewerber für die Nominierung durch die Republikaner müssten als Voraussetzung für eine Teilnahme an der ersten Debatte zur besten Sendezeit «bei den fünf aktuellsten landesweiten Meinungsumfragen im Durchschnitt unter die besten Zehn» kommen, und über die genaue Platzierung der einzelnen Kandidaten sollten ihre Umfragewerte entscheiden. (Früher waren die Umfragewerte dazu benutzt worden, Kandidaten dritter Parteien von Debatten auszuschließen – eine Praxis, die zu einer Flut von Beschwerden bei der Federal Election Commission geführt hatte –, nicht aber Kandidaten der beiden großen Parteien.) Das Republican National Committee erhob keinen Einspruch, aber die Entscheidung hatte angesehene Meinungsforschungsinstitute alarmiert. Das Marist Institute for Public Opinion bezeichnete den Plan von Fox News als «eine schlimme Verwendung von Befragungen der Öffentlichkeit». Scott Keeter, der Pew-Direktor für den Bereich Demoskopie, sagte: «Ich glaube einfach nicht, dass die Meinungsumfragen tatsächlich der Aufgabe gewachsen sind, über das Teilnehmerfeld bei der Debattenrunde der wichtigsten Kandidaten zu entscheiden.» Die Meinungsforscher von Pew, Gallup und Wall Street Journal/NBC verweigerten die Beteiligung.[151]

Umfragen verschafften Trump die Teilnahme an den GOP-Debatten, Umfragen platzierten ihn in der Bühnenmitte, und Umfragen erklärten ihn zum Sieger. «Donald J. Trump Dominates Time Poll», postete das Trump-Wahlkampfteam nach der ersten Debatte auf der eigenen Website und verwies dabei auf einen Time-Bericht, in dem es hieß, bei einer Umfrage hätten 47 Prozent der Personen, die auf die Frage antworteten, Trump zum Sieger erklärt. Die Time-«Umfrage» wurde von PlayBuzz veranstaltet, einem sehr beliebten Content-Provider, der «Quizrunden, Umfragen, Listen und andere spielerische Formate» in Websites einbaute, um den Datenverkehr zu forcieren. PlayBuzz sammelte bei seiner Internet-Blitzumfrage rund 70.000 «Stimmen» von Besuchern der Time-Website. Time postete diesen Vorbehalt: «Die Ergebnisse dieser Umfrage beruhen nicht auf wissenschaftlichen Methoden.»[152] Weniger angesehene Websites kümmerten sich nicht um solche «Ohne Gewähr»-Hinweise.

Die Bemühungen, auf die mangelnde Aussagekraft der Umfragen hinzuweisen oder Unterschiede zwischen verschiedenen Arten von Umfragen zu treffen, waren ebenso erfolglos wie halbherzig. Die New York Times brachte einen Artikel unter der Überschrift: «Umfragen zur Präsidentenwahl: Wie man vermeidet, dass man getäuscht wird». Eine Umfrage jagte die andere. Gute Umfragen jagten gute Umfragen, und schlechte Umfragen jagten schlechte Umfragen, und wenn schlechte Umfragen gute Umfragen jagten, dann waren diese nicht mehr so gut. Außerdem ließen sich Nachrichtenmedien, die ihre Leser, Hörer oder Zuschauer auf die Probleme mit Meinungsumfragen hinwiesen, trotzdem nicht davon abhalten, diese Probleme noch zu vergrößern. Slate veröffentlichte im August 2015, einen Tag nach der ersten Republikanerdebatte, eine Kolumne, in deren Überschrift gefragt wurde: «Hat Trump die Debatte wirklich gewonnen? Wie all diese Blitzumfragen zu verstehen sind, die das bejahen», obwohl Slate selbst eine eigene Blitzumfrage veranstaltete: «Jetzt, nachdem die erste Kandidatendebatte bei den Republikanern vorbei ist, werden Experten und alle politisch Interessierten viel darüber reden, was das alles für den Wahlkampf jedes einzelnen Kandidaten bedeutet. Wer triumphierte? Wer geriet ins Schwimmen? Wer wird die Debatte in den Ruhm des Wahlsiegers ummünzen, und wer wird auf der Strecke bleiben?» Sie machten dieselben populistischen Versprechungen, die Gallup bereits in den 1930er Jahren gemacht hatte. «Fernsehredner werden diese Wahl nicht entscheiden», versprach Slates Mann für die Umfragen (dessen hausinterner Titel «Interactives Editor» lautete). «Das amerikanische Volk wird entscheiden.»[153]

Alle wichtigen Umfrageinstitute lagen bei der Wahlprognose 2016 daneben, sie sagten einen Sieg von Hillary Clinton voraus. Es war ein knappes Rennen gewesen. Clinton gewann die Mehrheit der Wählerstimmen; Trump gewann die Abstimmung des Wahlmännergremiums. Die Wahlnachlese in der Kennedy School diente als eine der ersten offiziellen Einschätzungen dessen, was da tatsächlich geschehen war.

Nachdem die Wahlkampfmanager der Republikaner ihre Bilanz gezogen hatten, sprachen die Demokraten. «Vielen Leuten ist nicht bewusst, dass Hillary sich erst zu einem späten Zeitpunkt in ihrer Laufbahn um politische Ämter bewarb», sagte ihr Wahlkampfmanager Robby Mook. «Ihr Einstieg war der Children’s Defense Fund …» Clintons Wahlkampfteam hatte es versäumt, allzu viel Neues über Hillary Clinton mitzuteilen, eine Kandidatin, die die Amerikaner nur zu gut kannten. Mook hatte dem offensichtlich nur wenig hinzuzufügen. Bernie Sanders’ Manager sah blass aus. Er schüttelte den Kopf. «Wir hätten es fast geschafft.»[154]

Die einleuchtenderen Erklärungen für Clintons Niederlage blieben im Großen und Ganzen unerwähnt. Obama war es nicht gelungen, eine neue Generation politischer Talente aufzubauen. Das Democratic National Committee, das Clintons Nominierung, ja sogar ihren Sieg für unausweichlich hielt, hatte den Wettbewerb unterdrückt. Clinton, die ihre Zeit der Einwerbung von Wahlspenden bei reichen Liberalen der Küstenregionen widmete, von Hollywood bis zu den Hamptons, versäumte es, in Swing States aktiven Wahlkampf zu betreiben, und zeigte nur wenig Interesse an Gesprächen mit Wählern aus der weißen Arbeiterschaft. Nachdem Trump sich die Nominierung gesichert hatte, begnügte sie sich mit öffentlichen Hinweisen auf seine charakterlichen Mängel, obwohl Trumps lautstärkste Anhänger von Anfang an darauf hingewiesen hatten, dass eine denunziatorische Vorgehensweise scheitern werde.

Das Clinton-Wahlkampfteam ging davon aus, Trumps politische Karriere sei durch die Veröffentlichung einer Tonaufzeichnung beendet, in der er die Ansicht vertrat, die beste Art, sich Frauen zu nähern, sei, «ihnen an die Muschi zu fassen». Aber selbst das hatte konservative Christen nicht daran gehindert, ihn zu unterstützen. «Die Medien versuchten zwar, Trumps Persönlichkeit als einen Personenkult darzustellen, aber seine Persönlichkeit war ironischerweise genau das, was die Wähler überhaupt nicht interessierte», schrieb Ann Coulter in ihrem Buch In Trump We Trust, einer hastig niedergeschriebenen Wahlkampfpolemik, die, wie schon ihre früheren Werke, noch das zaghafteste Interesse an Belegen beiseite wischte: «Ich bin viel zu beschäftigt, als dass ich mich um Fußnoten kümmern könnte.» Coulter sagte zutreffend voraus, dass die Anschuldigungen wegen Trumps Lasterhaftigkeit und Betrügereien seine Anhänger nicht beunruhigen würden: «Trump könnte nichts tun, was ihm nicht verziehen würde», schrieb sie. «Es sei denn, er ändert seine Haltung zur Einwanderungsfrage.»[155]

Phyllis Schlafly, die Grande Dame des amerikanischen Konservatismus, hatte im März 2016 bei einer Versammlung in St. Louis eine der frühesten und wichtigsten Unterstützerreden für den Kandidaten Trump gehalten. Die Stimme der 91-Jährigen zitterte, aber ihre Kraft war ungebrochen. Sie trug einen rosafarbenen Blazer, die blonde Toupierfrisur war so tadellos wie eh und je, und sie ließ das Publikum wissen, dass Trump ein «wahrer Konservativer» sei. Für Schlafly repräsentierte Trump den Höhepunkt einer Bewegung, die sie so lange angeführt hatte, vom antikommunistischen Kreuzzug der 1950er Jahre über den Goldwater-Wahlkampf der 1960er bis zur STOP ERA in den 1970ern und zur Reagan-Revolution der 1980er Jahre. Seit 9/11 hatte Schlafly ein Ende der Einwanderung und einen Zaun an der Grenze zu Mexiko gefordert, und Trumps Forderung nach einer Mauer hatte ihm ihre Loyalität gesichert. «Donald Trump ist derjenige, der die Einwanderung zu dem großen Thema gemacht hat, das sie tatsächlich ist», sagte Schlafly. «Weil Obama den Charakter unseres Landes verändern will.»[156]

Schlafly hatte in jenem Sommer am Nationalkonvent der Republikaner teilgenommen, um Trumps historische Nominierung zu feiern. Im Rollstuhl sitzend, wirkte sie schwach und blass, und dennoch sprach sie mit der für sie charakteristischen Entschlossenheit. Sie sagte, sie wolle in Erinnerung bleiben für den «Beweis, dass die Basis aufstehen und das Establishment besiegen kann, weil wir das beim Equal Rights Amendment getan haben, und ich glaube, dass wir das auch tun werden, indem wir Donald Trump wählen». Schlafly starb wenige Monate später, am 5. September 2016. Ihr Plädoyer The Conservative Case for Trump, veröffentlicht am Tag nach ihrem Tod, appellierte an konservative Christen, Trump zu unterstützen, und verwies zur Begründung auf seine Haltung zur Einwanderung und zur Abtreibung: «Das Christentum wird überall auf der Welt angegriffen – am dramatischsten durch Islamisten, aber auf heimtückische Art auch hier im eigenen Land durch Angriffe auf die Religionsfreiheit.»[157]

Nur wenige Wochen vor der Wahl hielt Trump die Eröffnungsansprache beim Trauergottesdienst für Schlafly in einer Kathedrale im gotischen Stil in St. Louis. «Bei Phyllis stand Amerika an erster Stelle», verkündete Trump vom Altar aus. Er hob einen Finger, als wollte er ein Gelöbnis sprechen: «Wir werden dich niemals, niemals enttäuschen.» Am Wahltag stimmten – zumindest nach den Umfragen beim Verlassen des Wahllokals – 52 Prozent der Katholiken und 81 Prozent der Evangelikalen für Trump.[158]

Trumps Wahl bedeutete einen letzten und bleibenden Sieg für die Frau, die das ERA stoppte. Doch andersdenkende konservative Christen vertraten die Ansicht, dass sie auch für das Ende des christlichen Konservatismus stand. «Obwohl Donald Trump die Präsidentschaft zum Teil dank starker Unterstützung von Katholiken und Evangelikalen gewann, ist die Vorstellung, jemand, der so stramm vulgär, heftig streitsüchtig und in moralischer Hinsicht unglaubwürdig ist wie Trump, könne zur Leitfigur einer Erneuerung christlicher Moral und sozialer Einigkeit werden, mehr als illusorisch», schrieb Rod Dreher nach der Wahl. «Er ist keine Lösung für das Problem von Amerikas kulturellem Niedergang, sondern vielmehr ein Symptom dessen.»[159]

Dreher rief Christen dazu auf, «digitales Fasten als asketische Praktik» zu betreiben. Andere Konservative, die Trump nicht unterstützt hatten, rangen mit den Konsequenzen des rechtsextremen Angriffs, der traditionellen Quellen der Autorität und des Wissens, ganz besonders aber der Presse galt. «Es war uns gelungen, unser Publikum davon zu überzeugen, dass es jede Art von Information aus den Mainstreammedien ignorieren und unberücksichtigt lassen konnte», berichtete der ehemalige konservative Radiomoderator Charles Sykes nach der Wahl in einem Akt des Abfalls vom Glauben mit dem Titel How the Right Lost Its Mind.[160]

Die Linke sah die Schuldigen anderswo. Hillary Clinton benannte als Hauptgrund für ihre Niederlage den Skandal um ihre E-Mails, für den sie das FBI verantwortlich machte, allerdings warfen sie und ihre Anhänger auch Bernie Sanders vor, die Demokratische Partei gespalten zu haben.[161] Bei der Wahlnachlesekonferenz in der Kennedy School waren weder das Clinton-Wahlkampfteam noch die Mainstreammedien zu einer vorbehaltlosen Analyse der eigenen Rolle bei der Wahl in der Lage. Bei einer abendlichen Diskussion über die Rolle der Medien wies CNN-Präsident Jeff Zucker jeden Hinweis, dass sein Sender bei der Berichterstattung Fehler begangen haben könnte, schroff zurück – ein solcher Hinweis bezog sich beispielsweise auf den Umfang der Sendezeit, der Trump eingeräumt wurde, einschließlich längerer Passagen, in denen der Sender, während auf den Kandidaten noch gewartet wurde, Bilder von einer leeren Bühne zeigte. «Offen gesagt, bei allem Respekt, ich glaube, dass das Blödsinn ist», war Zuckers Antwort auf die Kritik. «Donald Trump war oft auf CNN zu sehen. Das war so, weil wir ihn um Interviews baten, und er stimmte den Anfragen zu. Wir fragten auch bei den anderen Kandidaten immer wieder wegen Interviews an, und sie lehnten ab.»[162]

«Sie zeigten leere Podien!», rief jemand aus dem Publikum.

Zucker blieb unbeeindruckt. «Donald Trump wurde um Interviews gebeten, und er war einverstanden und akzeptierte die Fragen. Die anderen Kandidaten wurden gefragt …»

«Das ist nicht wahr!», rief ein anderer Wahlkampfmanager dazwischen.

Zucker: «Ich verstehe ja, dass die Emotionen immer noch hochkochen …»[163]

Der Moderator, Bloomberg-Politics-Autor Sasha Issenberg, versuchte die Gemüter zu beruhigen: «Lassen Sie uns zu einem weniger umstrittenen Thema wechseln – Fake News.»[164]

Wähler, die sich während des Wahlkampfs im Internet mit Nachrichten versorgten, hatten zahllose Geschichten gelesen, die offensichtlich unwahre, reine Erfindungen waren und in einigen Fällen von russischen Propagandaspezialisten stammten. Der russische Präsident Wladimir Putin mochte Clinton nicht; Trump bewunderte Putin. Während Trumps erstem Amtsjahr untersuchte der Kongress, ob Trumps Wahlkampfteam mit Russland zusammengearbeitet und ob die Einmischung den Wahlausgang beeinflusst hatte. Doch die Einmischung, die, wie sich herausstellte, aus dem Schüren von Konflikten zwischen den Parteilagern sowie von rassischen und religiösen Feindseligkeiten bestand, hatte ein umfassenderes Ziel: das Vertrauen der Amerikaner zueinander und zu ihrem Regierungssystem zu zerstören.[165]

Auf jeden Fall waren nicht alle Verfasser von Fake News Russen. Paul Horner, ein 37-jähriger ehrgeiziger Komiker aus Phoenix, schrieb erfundene Pro-Trump-Nachrichten gegen Bezahlung und staunte, als er feststellte, dass Trump-Mitarbeiter wie Lewandowski seine Geschichten über die sozialen Medien weiterverbreiteten. «Sein Wahlkampfmanager postete meine Geschichte über einen Demonstranten, der 3500 Dollar bekam, als Tatsachenmeldung», sagte Horner der Washington Post. «Ich dachte mir das aus. Ich postete eine erfundene Anzeige auf Craigslist.» Horner, der kein Trump-Anhänger war, sagte später: «All diese Geschichten, die ich schrieb, sollten Trumps Anhänger wie Idioten aussehen lassen, weil sie meine Geschichten teilten.» (Horner starb kurz nach der Präsidentschaftswahl, möglicherweise an einer Überdosis Drogen.)[166]

Horner mochte überrascht gewesen sein, dass Menschen seine Schwindeleien als Nachrichten kolportierten, aber ein großer Teil des Repostings wurde nicht von Menschen, sondern von Robotern erledigt. In den Monaten unmittelbar vor der Wahl hatte Twitter bis zu 48 Millionen Schein-Accounts, Bots, die Falschmeldungen produzierten und weiterleiteten. Auf Facebook war die Wahrscheinlichkeit, dass es eine Falschmeldung auf den Facebook-Newsfeed schaffte, gleich hoch wie bei einer wahren Geschichte.[167]

Beim Forum in der Kennedy School wandte sich Moderator Issenberg Elliot Schrage zu, dem Facebook-Vizepräsidenten für weltweite Kommunikation, Marketing und Public Policy.

«Zu welchem Zeitpunkt bemerkten Sie, dass es ein Problem mit Fake News gab?», fragte Issenberg.

«Das Problem mit unserer Rolle als Unternehmen zur Verbreitung von Nachrichten wurde im Lauf des vergangenen Jahres akut», sagte Schrage.[168]

Der US-Kongress sollte später untersuchen, was Facebook wusste, wann die Firma dieses Wissen hatte und warum sie in dieser Angelegenheit nicht aktiver wurde.[169] Mark Zuckerberg, der seinerseits die Möglichkeit zu erkunden schien, eines Tages selbst für das Amt des Präsidenten der Vereinigten Staaten zu kandidieren, hatte zunächst allein schon die Vorstellung, Facebook habe bei der Wahl irgendeine Rolle gespielt, als «verrückt» abgetan. Im Verlauf einer anschließenden Untersuchung des Kongresses sollte Facebook nur widerwillig einräumen, dass ein vom Kreml gesteuertes Desinformationsunternehmen, die Internet Research Agency, deren Ziel es war, die Amerikaner zu spalten und sich in die Wahl einzumischen, bei Facebook hetzerische politische Werbung gebucht hatte, die von mehr als 126 Millionen Amerikanern gesehen worden war.[170] Später kam heraus, dass Facebook die privaten Daten von mehr als 87 Millionen seiner Nutzer an Cambridge Analytica weitergegeben hatte, ein IT-Unternehmen, das für das Trump-Wahlkampfteam arbeitete.

Schrage äußerte sich jedoch zu all diesen Punkten nicht. Facebook habe erst in jüngster Zeit darüber nachzudenken begonnen, ob man sich selbst als «Nachrichtenunternehmen» sehen sollte – «Ich würde sagen: Vielleicht in den letzten drei bis sechs Monaten», erklärte er –, und das merkte man auch. Schrage, ein Wirtschaftsanwalt, der auf Übernahmen und Fusionen spezialisiert war, ließ kein besonderes persönliches Verständnis von Nachrichten, Berichterstattung, redaktioneller Arbeit und redaktionellem Urteilsvermögen oder von öffentlichem Interesse erkennen. Als er nervös über Fotos schwadronierte, auf denen Brustwarzen zu sehen waren, die von Facebook-Algorithmen zwar als Pornografie eingestuft worden waren, aber in Wirklichkeit womöglich Bestandteil legitimer Berichterstattung waren, intervenierte Kathleen Carroll von Associated Press mit einer vernichtenden Zwischenbemerkung.[171]

«Kann ich einfach sagen, dass die Bewertung von Nachrichten sehr viel komplizierter ist als Brustwarzen?»[172]

Schrage sank auf seinem Stuhl in sich zusammen.

Zu Beginn von Trumps zweitem Amtsjahr klagte das Justizministerium 13 russische Staatsbürger an, die mit der Internet Research Agency in Verbindung standen, und warf ihnen vor, «sich als US-Bürger auszugeben und falsche US-Bürger zu kreieren», hinzu kam noch die Verwendung «der gestohlenen Identitäten realer US-Bürger», um auf Social-Media-Accounts tätig sein und posten zu können, «zum Zweck der Einmischung in das politische System der USA», eine Strategie, zu der auch die «Unterstützung des Wahlkampfs des damaligen Präsidentschaftskandidaten Donald J. Trump … und das Verächtlichmachen von Hillary Clinton gehörten». Weitere Vorwürfe umfassten das Sabotieren der Wahlkämpfe der republikanischen Kandidaten Ted Cruz und Marco Rubio, die Unterstützung der Wahlkämpfe von Bernie Sanders und Jill Stein, der Kandidatin der Grünen Partei, die Nutzung von Facebook und Twitter, um politischen Zwist in Formen zu säen, zu denen auch falsche Accounts von Black Lives Matter und von amerikanischen Muslimen in den sozialen Medien zählten, und das Organisieren von Pro-Trump- und Anti-Clinton-Kundgebungen mit Posts unter Hashtags wie #Trump2016, #TrumpTrain, #IWontProtectHillary und #Hillary4Prison.[173] Weitere Enthüllungen sollten folgen.

Bei der Wahlnachlese fragte Moderator Issenberg Marty Baron, den angesehenen Chefredakteur der Washington Post, ob er in Erwägung gezogen habe, den Inhalt der von WikiLeaks – einer seit 2006 aktiven anonymen Enthüllungsplattform – veröffentlichten E-Mails des Democratic National Committee nicht zu publizieren. WikiLeaks-Gründer Julian Assange, ein australischer Computerprogrammierer, gab sich gern als Mann in der Nachfolge von Daniel Ellsberg, dem ehemaligen Experten der RAND Corporation, der die Pentagon Papers an die Presse weitergegeben hatte, aber Assange, der in der Botschaft von Ecuador in London Zuflucht gefunden hatte, wies nicht die geringste Ähnlichkeit mit Ellsberg auf. Russische Hacker waren in die DNC-Server eingedrungen, Assange hatte die gehackten E-Mails auf WikiLeaks veröffentlicht, und die Washington Post gehörte zu den Medienunternehmen, die sich dafür entschieden, aus E-Mails zu zitieren, die, wie sich herausstellen sollte, von einem souveränen Nationalstaat gehackt worden waren.[174]

Der ansonsten gelassen, weise und orakelhaft auftretende Baron reagierte gereizt, wich Issenbergs Frage aus und erklärte – was in diesem Zusammenhang irrelevant war –, dass die Washington Post nicht gezögert habe, den Inhalt der E-Mails zu veröffentlichen, weil «das Clinton-Wahlkampfteam niemals sagte, dass sie gefälscht worden seien».[175]

Issenberg fragte Schrage, warum Facebook vorgebliche Nachrichten nicht auf ihre inhaltliche Richtigkeit geprüft habe, bevor sie in den Newsfeed-Rankings nach vorne gerückt wurden. Schrage sprach über Facebooks «Lernkurve». In erster Linie wich er aus. «Mir leuchtet nicht ein, dass angesichts von 1,8 Milliarden Menschen weltweit in sehr vielen verschiedenen Ländern mit sehr vielen verschiedenen Sprachen die kluge Strategie darin besteht, Redakteure einzustellen», sagte er.[176] Wie Kongresshearings anschließend bestätigen sollten, hatte Facebook so gut wie gar keine – kluge oder andersartige – Strategie, es interessierte sich nur dafür, die Zahl seiner Nutzer und die Zeit, die sie bei Facebook verbrachten, zu maximieren.

«Wo bleibt die Bewertung von Nachrichten?», rief jemand aus dem Publikum und richtete die Frage an das gesamte Podium.

Zucker zuckte mit den Schultern. «Am Ende des Tages bleibt das dem Zuschauer überlassen.»[177] Auf diese Äußerung reagierte das Publikum mit lautem Stöhnen.

Carroll, seit vielen Jahren eine Berühmtheit im journalistischen Metier und Mitglied der Jury für die Vergabe der Pulitzer-Preise, fasste die Diskussion zusammen. «Ich weiß, dass es einige Organisationen oder einige Journalisten oder einige Beobachter gibt, die das Gefühl haben, die Medien sollten das Büßergewand anlegen», sagte sie. «Ich glaube, das ist Blödsinn.»[178] Und der Abend endete, ohne dass irgendjemand aus den Wahlkampfteams oder von den Kabelsendern oder sozialen Medien oder den Nachrichtenagenturen auch nur einen Anflug des Bedauerns über irgendetwas geäußert hätte.

Die Wahl hatte die Nation beinahe in zwei Teile zerrissen. Sie hatte Ängste geschürt, zum Hass angestachelt, Zweifel an der amerikanischen Führungsrolle in der Welt wie auch an der Zukunft der Demokratie gesät. Aber die Reue musste auf einen späteren Tag warten. Ebenso wie das Gegenmittel.

«Sollten wir untergehen, wäre die Unbarmherzigkeit des Feindes nur der nachrangige Grund für die Katastrophe. Der Hauptgrund wäre, dass die Stärke einer riesigen Nation von Augen gelenkt wurde, die zu blind waren, um alle Gefahren des Kampfes erkennen zu können; und die Blindheit hätte sich nicht durch irgendeinen Zufall der Natur oder Geschichte eingestellt, sondern durch Hass und Großsprecherei.»

Reinhold Niebuhr
The Irony of American History
1952

Glenn Ligons Double America (Neon und Farbe) von 2012 war unter anderem inspiriert vom Eröffnungssatz des Romans A Tale of Two Cities von Charles Dickens: «Es war die beste und die schlimmste Zeit» («It was the best of times, it was the worst of times»).