ZWEI
Durch das dichte Blätterdach der Bäume drang kaum Mondlicht. Zweige zerkratzten trotz ihrer Kleidung Vhallas Beine, als sie sich vom Lager entfernte und so gut wie blind immer tiefer in den dunklen Wald hineinritt. Schon bald ließ sie den Lärm der jäh erwachten kaiserlichen Armee hinter sich. Das abebbende Getöse vermengte sich mit dem Rascheln im Unterholz.
Sie hätte nicht sagen können, was lauter dröhnte: der Schlag ihres Herzens oder Bastons Huftritte. Das hier war entweder das Klügste oder das Dümmste, was sie je getan hatte. Vhalla duckte sich, machte sich ganz klein auf Bastons Rücken, um nicht von einem niedrig hängenden Ast aus dem Sattel gehoben zu werden. Sie verließ ihren Posten; sie missachtete den Willen des Kaisers – des Mannes, dessen Eigentum sie war.
Mit jedem Akt des Ungehorsams hatte sie ihre Entscheidung aufs Neue getroffen. Von dem Moment an, in dem sie am Rand der Schlucht seine Truppen um sich geschart hatte, hatte sie eine rote Linie überschritten. Mochte der Kaiser auch über ihren Körper gebieten, über ihr Herz oder ihren Verstand gebot er nicht.
Das Urteil des Senats klang ihr in den Ohren. Sollte sie sich ihrer Pflicht entziehen, wird sie durch das Feuer des Kronprinzen sterben. Durch das magische Feuer eines Mannes, der sie gar nicht verletzen konnte. Und zwar wegen des Bandes, das zwischen ihnen bestand. Vhalla ballte die Hände und öffnete ihren Magiefluss so weit, wie es ging. Sie würde Erfolg haben und sie würden leben, oder sie würde versagen und sie würden sterben. Eine andere Möglichkeit gab es nicht.
Über den Lärm, den das Pferd im dichten Unterholz erzeugte, machte sie sich keine Gedanken. Bestimmt klang es wie Donnergrollen und fühlte sich an wie ein Erdbeben. Und sie selbst war nicht mehr als ein schwarzer Streifen in der Nacht. Mit dem Wind unter Bastons Hufen konnte niemand sie einholen.
Vhalla zog den Kompass aus ihrer Tasche und wartete auf ein bisschen Mondlicht, um die Richtung zu überprüfen. Sie ritt geradewegs nach Norden, wie geplant. Wenn ein Trupp Soldaten es in sieben Tagen schaffte, konnte sie es in dreien. Nein. Sie schüttelte energisch den Kopf. Sie würde es in zwei Tagen schaffen.
Doch in ihrer Magengrube nisteten sich Zweifel ein, die von Angst genährt wurden. Wenn sie nicht schnell genug war, wenn Elecia ihr Versprechen nicht halten konnte, würde Aldrik sterben. Der erste Mann, den sie wirklich aufrichtig liebte, würde sterben, während sie viele Tagesritte entfernt war. Er würde sterben, ohne dass sie sich von ihm verabschiedet hatte.
Vhalla schob die zerstörerischen Gedanken mit aller Macht beiseite. Nein! Aldrik würde leben. Jeder Schlag ihres Herzens sagte ihr das. Durch das Band konnte sie auch seinen Herzschlag spüren – die beruhigende Antwort auf ihre Zweifel. Noch immer waren sie durch die Zusammenführung miteinander verschmolzen, und dadurch wusste Vhalla, dass Aldrik am Leben war.
In strammem Tempo galoppierte Baston durch die Nacht. Das Pferd schien nicht zu ermüden, sodass Vhalla keine Pause einlegen musste und sich stattdessen im Sattel ihrer Erschöpfung hingeben konnte, die sie bei Anbruch der Dämmerung überfiel. Über ihr wurden die Äste der riesigen Bäume in flammendes Morgenlicht getaucht, dann in ein blasseres Orange und schließlich in gewöhnliches Tageslicht. Vhalla wurde nicht langsamer.
Im Gegenteil, sie trieb das Pferd noch mehr an. Tagsüber mussten sie noch schneller sein. Schließlich waren sie nun nicht nur zu hören, sondern auch zu sehen und deshalb gezwungen, jeden möglichen Feind abzuhängen.
Die Sonne war bereits im Sinken begriffen, als die Bewaldung spärlicher wurde und Vhalla Baston zügeln musste. Entsetzt starrte sie auf das Wasser, das sich bis zum Horizont erstreckte. Kliffe ragten wie felsige Finger in die spiegelglatte Oberfläche. Panisch zog Vhalla den Kompass hervor. Den ganzen Tag lang hatte sie ihn wie besessen im Blick behalten und war nicht von ihrem Kurs abgewichen.
War sie schon an der Küste? Vhalla hatte viel über das Meer gehört. Eine gewaltige Menge Wasser von unvergleichlicher Größe. Seeleute erzählten sich Geschichten über die Gefahren des Meeres. Über Wellen, die ein ganzes Schiff verschlingen konnten, wenn sie brachen, über Seeungeheuer und über Piraten, die auf den Inseln zwischen dem Großen Kontinent und dem sagenumwobenen, brutalen Halbmondkontinent lauerten. Manche Seeleute behaupteten sogar, die Welt ginge noch darüber hinaus, aber die meisten hielten diesen Gedanken für vollkommen abwegig.
An den bebenden Flanken des Pferdes merkte Vhalla, dass Baston an seine Grenzen kam. Wie sie war er nur ein sterbliches Wesen und musste sich endlich ausruhen. Vhalla blinzelte und aktivierte ihre magische Sicht.
Um sie herum erstand die Welt neu. Bäume und Pflanzen nahmen diffuse Grautöne an. In ihrer unmittelbaren Umgebung konnte Vhalla keinerlei Bewegung entdecken – weder von gewöhnlichen Menschen noch von Magiern. Also wagte sie sich bis zum felsigen Strand vor.
Sie lenkte Baston zum Fuß einer Klippe, die vom Wald wegführte und am Wassersaum eine kleine höhlenartige Bucht bildete. Diese bot genug Platz für Pferd und Reiterin, um sich zu verbergen.
Als Vhalla abstieg, drohten ihre Beine vor Erschöpfung nachzugeben. Auch wenn sie schon den ganzen Kontinent auf einem Pferderücken durchquert hatte: Was sie gerade vollbracht hatte, war ein gänzlich anderer Ritt. Ihre Oberschenkel waren aufgescheuert und wund. Vhalla watete ins Wasser und empfand es so kühlend und lindernd, wie sie gehofft hatte.
Verblüfft stellte sie fest, dass es Süßwasser war. Über das Meer hatte sie immer nur gelesen, es sei salzig und nicht trinkbar. Doch als Vhalla mit dem Kopf unter die glasklare Oberfläche tauchte, merkte sie, wie gut man das Wasser trinken konnte.
Sie war gänzlich ausgedörrt, deshalb gelang es ihr nur mit Mühe, sich zurückzuhalten und nicht zu viel auf einmal zu schlucken. Sobald sie wieder im Sattel saß, würde sie dem Ruf der Natur nicht mehr nachgeben können und ihr aufgeblähter Magen würde sie mit Übelkeit plagen.
Vhalla legte den Kopf in den Nacken, damit sie nicht noch mehr trank, und blickte in den strahlend blauen Himmel. Es war eine ganze Woche her, seit sie zuletzt den freien Himmel gesehen hatte, und erst jetzt begriff sie, wie sehr ihr das gefehlt hatte.
Mit schweren, nassen Kleidern schleppte sie sich zum Strand zurück und brach neben Baston zusammen. Seriens Schutzmauer aus steinerner Härte bekam Risse und zerfiel. Zurück blieb eine Vhalla, die sich fühlte, als sei sie gerade an Land gespült worden. Tränen brannten in ihren Augen.
Sie zog die Knie an die Brust und presste die Stirn gegen die nasse Wolle. Statt sich dem Kummer hinzugeben, der seit Wochen ihr ständiger Begleiter war – dem Kummer über Larels Tod, darüber, so weit weg zu sein von allen, die sie je geliebt hatte, von allem, was sie gekannt hatte, und nun auch noch dem Kummer über Aldriks Lage –, dachte sie lieber an Landkarten und an das, was sie über den Norden gelesen hatte.
Sie ignorierte das Kribbeln ihrer Lippen, als sie sich dabei an die Küsse erinnerte, die Aldrik und sie in der Nacht, ehe sie in den Norden vorgedrungen waren, genossen hatten. Stattdessen überlegte Vhalla, wo sie sich wohl befand, und kam zu dem Schluss, dass es der Io-See sein musste. Sie verbannte Fitz’ besorgten Blick aus ihrem Kopf und versuchte einfach alle Informationen herunterzubeten, die sie über den größten Süßwassersee auf dem Großen Kontinent besaß.
Sie konnte nicht sagen, wann ihr die Augen zugefallen waren, doch als sie blinzelnd erwachte, stand die Sonne schon tief am Himmel. Mit schmerzverzerrtem Gesicht dehnte Vhalla ihre steifen Beine. Sie hatte vielleicht drei Stunden geschlafen. Das musste reichen.
»Aldrik«, flüsterte sie, »ich besorge dir schon bald Hilfe.«
Dieses Versprechen verlieh ihr neue Entschlossenheit und sie wiederholte es im Geiste immer wieder, während sie ihre Muskeln lockerte. Aldrik, Aldrik, Aldrik. Sein Name unterstrich jede qualvolle Bewegung, mit der Vhalla sich wieder an Bastons Rhythmus gewöhnte. Sie würde allen Schmerz auskosten, von ihren zitternden Muskeln bis zu ihrem wehen Herzen. Sie wollte sich nicht länger auf das kalte, gegürtete Herz von Serien verlassen. Vhalla musste dies hier ohne Hilfe tun. Aldriks Leben konnte nur durch ihre Hand zurückgewonnen werden.
Blindlings galoppierte Vhalla in den Tag hinein. Geschickt manövrierte Baston um Bäume herum und wich niedrigen Zweigen aus. Das Pferd schien neuen Schwung bekommen zu haben und spornte sich selbst zu einem gestreckten Galopp an. Vhallas Magiefluss war noch immer schwach, aber sie nutzte das bisschen Magie, um seinen Hufen noch mehr Wucht zu verleihen. Dazu verbot sie sich jede innere Debatte, ob sie Aldrik weiterer Kraft beraubte, indem sie ihre Magie anzapfte. Egal was sie tat, sie war verdammt, deshalb konzentrierte sie sich darauf, voranzukommen.
Dämmerung senkte sich über alles, der Tag ging in den Abend über. Immer wieder fielen Vhalla die Augen zu. Vom Sturz in die Tiefe hatte sie zahlreiche Verletzungen davongetragen, und jede dieser Wunden, sei sie auch noch so oberflächlich, riss nun wieder auf und blutete. Schließlich zwangen Bastons und ihre eigene Erschöpfung sie dazu, das Tempo zu drosseln. Lieber ritt sie im Trab oder Schritt – Hauptsache, sie blieben nicht ganz stehen. Die wenigen Stunden, die Vhalla geschlafen hatte, lasteten bereits schwer auf ihrem Gewissen.
Gegen die Müdigkeit anblinzelnd versuchte sie den Weg auszumachen. An dieser Stelle war das Blätterdach besonders dicht, sodass kein Funken Licht hindurchdrang. Vhalla legte den Kopf in den Nacken und hielt nach einer Lücke zwischen den Bäumen Ausschau, um im Mondlicht etwas erkennen zu können.
Und dann blieb ihr das Herz stehen.
Ganz hoch oben, sodass sie den Mond verdeckten, sah sie die Silhouetten von Behausungen und Laufstegen, die in die Bäume und zwischen die Äste gebaut waren. Vhalla hatte in Büchern über die Himmelsstädte des Nordens gelesen. Doch in den Büchern hatte es mehr wie eine Fantasie und nicht wie eine Tatsache geklungen. Obwohl sie sich jetzt direkt unter einer solchen Himmelsstadt befand, traute Vhalla ihren Augen kaum angesichts der Gebäude, die in und um die Baumkronen herum errichtet worden waren.
Sie zügelte Baston, bewegte sich nur noch ganz langsam vorwärts. Mit einem Blinzeln wechselte sie zum magischen Sehen und bekam vor Schreck fast keine Luft mehr. Hoch über ihr, in den dunklen Umrissen der Gebäude, entdeckte sie das unverwechselbare Leuchten von Menschen. Nicht nur ein paar, sondern eine ganze Menge – in jedem Baum und in fast jedem Gebäude. Mitten in der Nacht war sie von allen Seiten umzingelt.
Vorsichtig setzte sie die Kapuze ihres Kettenhemds auf, zog nochmals die Zügel an. Das Pferd ging jetzt fast geräuschlos. Vhalla atmete flach, während ihr Herz hämmernd in ihrer Brust schlug.
Als sie die Behausungen beinahe hinter sich gelassen hatte, brannten ihre Lungen von den panischen, flachen Atemzügen. Fast wären sie unbemerkt entkommen, doch dann wieherte Baston und schüttelte protestierend den Kopf, weil Vhalla wieder nervös an den Zügeln zog. Das Klirren seines Zaumzeugs klingelte in ihren Ohren und schien für Ewigkeiten nachzuhallen. Was offenbar auch alle übrigen Ohren hörten, denn auf einmal regten sich die Menschen über ihr und Fackeln flammten auf.
Vhalla ließ die Zügel schnalzen, grub ihre Absätze in Bastons Flanken und trieb ihn zum Äußersten an. Von oben hörte sie das Gebrüll des erwachenden Feindes.
Vielstimmige, melodisch klingende Rufe in einer für Vhalla vollkommen fremden Sprache gellten durch die Nacht. Aber sie musste die Worte nicht verstehen, um zu wissen, dass sie nicht freundlich gemeint waren, und so duckte sie sich noch tiefer auf Bastons Rücken. Sie schnappte nach Luft, als sie hörte, wie über ihrem Kopf Pfeile in Bogen eingelegt wurden.
Das Geräusch unzähliger Bogensehnen, die gleichzeitig gespannt wurden, jagte eine Gänsehaut über Vhallas Arme. Noch ein Ruf, ein einzelnes Wort, und Pfeile durchschnitten die Luft – entsandt, um den Tod auf sie herabregnen zu lassen. Und auch wenn sie darauf vertraute, dass ihr Kettenhemd sie schützte: Das Pferd trug keinerlei Rüstung. Wenn Baston starb, war sie selbst so gut wie tot. Vhalla drehte sich im Sattel um und fuhr mit der Hand durch die Luft. Der Vorhang aus Wind ließ die Pfeile harmlos zu Boden prasseln.
Empörte, von Angst beherrschte Rufe erklangen, weil sie noch immer unverletzt war.
Der zweite Angriff kam schneller und steigerte Vhallas Frustration. War sie denn nicht bald außerhalb ihrer Reichweite? Überall flammten nun Lichter auf, über ihr und hinter ihr, sodass der Waldboden in schwaches Licht getaucht war. Jetzt sah man das Ende der Himmelsstadt und Vhalla musste darauf setzen, dass ihre Feinde sie nicht mehr einholen würden, sobald sie ihre Behausungen hinter sich gelassen hatte.
Die Pfeile segelten durch die Luft und wieder lenkte Vhalla sie mit ihrem Wind ab. Sie rechnete mit einem dritten Angriffssignal, doch was sie stattdessen hörte, war noch beunruhigender: ein Wort, gerufen in gewöhnlichem Südländisch mit starkem Akzent.
»Winddämonin!«
Vhalla war zu ihrer Beute geworden. In einiger Entfernung hinter ihr ertönte das Donnern von Hufen.
Vhalla ritt unter den letzten Ausläufern der Himmelsstadt hindurch und hinein in die willkommene Dunkelheit. Wäre es gestern gewesen, hätte sie sich keinen Augenblick um ihre Verfolger gesorgt. Baston war schneller als jedes gewöhnliche Pferd – vereint mit ihrem Wind war er schneller als der Donner am Himmel. Aber Baston hatte einen harten Ritt hinter sich und nur kurze Zeit gerastet.
Wieder wechselte Vhalla zur magischen Sicht und schaute kurz über die Schulter. In der Ferne sah sie, wie vier Reiter ihr unbarmherzig nachsetzten.
Schwitzend, keuchend und die Zügel fest umklammernd legte Vhalla all ihre Energie in den Wind, der sie und Baston beflügelte. Mehr … sie beide mussten sich noch mehr anstrengen. In ihrer wilden Entschlossenheit hätte sie das Surren eines Pfeils in der Luft beinahe nicht gehört.
Im letzten Moment streckte Vhalla den Arm aus und bremste den Pfeil im Flug ab. Dann ballte sie die Faust und riss den Arm nach hinten. Der Pfeil änderte die Richtung und schoss auf seinen ursprünglichen Absender zu. Sie sah, wie er das Auge des Nordländers durchbohrte, auf den sie gezeigt hatte. Der Mann sackte zusammen und stürzte aus dem Sattel. Kurz wandte Vhalla den Blick ab, während das Geschrei der übrigen Verfolger lauter wurde.
Augen , sie musste immer auf die Augen zielen. Ob es sich nun um Erdgebieter mit Panzerhaut handelte oder nicht: Sie durfte kein Risiko eingehen, denn allzu viele Versuche blieben ihr nicht. Ein weiterer Reiter hob den Bogen und wartete auf die nächste Gelegenheit für einen Schuss.
Baston atmete bereits schwer, Vhalla musste ihre Verfolger also dringend abschütteln. Sie saßen auf ausgeruhten Pferden und hatten ihr einige Stunden Schlaf voraus. Vhalla drehte sich um und streckte einen Finger aus. Mit einer Aufwärtsbewegung ihrer Hand löste sich ein Pfeil aus dem Köcher des Bogenschützen. Eine kurze Drehung ihres Handgelenks und der scharfe Fokus einer Attentäterin – schon sandte Vhalla den Pfeil in das Auge des ahnungslosen Nordländers.
Doch dann lenkte einer der beiden verbliebenen Verfolger sein Pferd nach links, während seine Gefährtin Vhalla weiterhin nachsetzte. Der Mann beschrieb einen weiten Bogen und Vhalla begriff, dass die beiden sie in die Zange nehmen wollten. Sie griff nach dem schmalen Dolch an ihrem Handgelenk und zielte damit erfolgreich auf das Auge des Mannes.
Inzwischen hatte die Frau Vhalla eingeholt. Sie hob ihre sichelartige Klinge, um sie auf Bastons Hinterhand niedersausen zu lassen. Vhalla streckte den anderen Arm aus, sodass die Nordländerin kopfüber vom Pferd stürzte. Es war kein Zufall, dass sie sich dabei mit ihrem eigenen Schwert die Kehle aufschlitzte.
Abwartend hob Vhalla die Hand, und nach einem kurzen Moment kehrte ihr Dolch zu ihr zurück. Sie wischte das Blut an ihrem Oberschenkel ab und steckte ihn rasch zurück in das Armholster. Dann griff sie nach den Zügeln und unterdrückte den Impuls, Baston laut anzufeuern. Das Pferd würde nicht schneller laufen, weil sie es anbrüllte. Stattdessen würde sie nur ihren Standort preisgeben.
Vhalla presste die Lippen aufeinander. Die vier Nordländer waren nicht die ersten Menschen, die sie getötet hatte. Sie hatte in der Nacht des Feuers und des Windes getötet, sie hatte Larels Mörder getötet, und am Rand der Tiefe hatte sie sogar mit bloßen Händen getötet.
Zu akzeptieren, was sie tun musste, hatte sich bereits tief in ihr verankert. Wie leicht es ihr inzwischen fiel, ihre Feinde niederzustrecken, ohne auch nur einen einzigen davon als echten Menschen zu betrachten, zeigte Vhalla, wie weit sie den Pfad schon beschritten hatte, den sie nie hatte beschreiten wollen. Sie waren Wesen, Feinde, Hindernisse, aber sie waren nicht menschlich .
Abgelenkt von ihrem inneren Aufruhr traf sie der Angriff aus den Bäumen vollkommen unvorbereitet. Ein Erdgebieter schwang sich von oben herab und hieb mit dem Schwert nach ihrem Hinterkopf. In letzter Sekunde versuchte Vhalla auszuweichen, aber es war zu spät. Die Klinge glitt zwar an den Metallringen ihrer Kapuze ab, trotzdem wurde ihr kurz schwarz vor Augen.
Vhalla blinzelte und versuchte, wieder zu Sinnen zu kommen, während sie Baston vorwärtsdrängte und den Angreifer hinter sich ließ. Über ihr in den Bäumen sprangen Erdgebieter von Ast zu Ast – frei und ohne Furcht. Ranken erwachten zum Leben und glitten in ihre ausgestreckten Hände, sodass sie sich durch die Luft schwingen konnten. Mit einer Drehung oder einem raschen Zerren zog sich ihre Rettungsleine dann wieder zusammen und wickelte sich um Äste, um die Erdgebieter nach oben zu ziehen.
Gern hätte Vhalla ihre virtuosen Bewegungen bestaunt; vielleicht hätte sie es sogar getan, wenn diese Leute nicht vorgehabt hätten, sie zu töten. Ein weitere Mann schwang tief über sie hinweg und Vhalla kippte blitzschnell im Sattel zur Seite, um ihm auszuweichen. Sofort richtete sie sich wieder auf und zog ihren Dolch, während ein dritter Mann auf sie zu schwang. Sie schickte ihre Waffe los, damit sie die Ranke durchtrennte, an der sich der Erdgebieter festhielt.
Der Mann stürzte herab, doch Vhallas Verstand spielte verrückt und zeigte ihr das Bild eines anderen fallenden Körpers.
Knurrend richtete sie ihren Dolch auf den nächsten Nordländer, den sie entdecken konnte, und nahm auch hier die Ranke ins Visier. Sie würde ihnen zeigen, warum man nicht über dem Kopf einer Windläuferin herumbaumeln sollte. Der Körper des Mannes prallte mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden auf. Vhalla ritt weiter. Ein leichtes Schlenkern ihres Handgelenks reichte, und wieder kehrte ihr Dolch zu ihr zurück.
Bastons Tempo hatte sich weiter verlangsamt, und als Vhalla ihn mit dem Zügel antrieb, verweigerte er sich zum ersten Mal ihrem Befehl. Panik durchströmte sie.
Der Morgen brach an, und noch immer sprangen hoch oben Nordländer von Baum zu Baum, fünf Männer, um genau zu sein. Legten sie es darauf an, Reiterin und Pferd zu ermüden? Wenn sie an ihrer Stelle wäre, würde sie das Gleiche tun. Bastons Flanken bebten vor Erschöpfung.
Die permanente Anwesenheit ihrer Feinde machte Vhalla nervös. Mit angehaltenem Atem beobachtete sie die Nordländer, wartete auf ihre nächste Attacke. Eine weitere Stunde verging, und Baston fiel in einen langsamen Trott. Jetzt würden die fünf garantiert angreifen. Doch die Männer schwangen sich einfach von Ast zu Ast, die sich ihren Händen und Füßen bereitwillig entgegenbogen.
Sie spielten mit ihr wie Katzen mit einer Maus.
Die Frage war, wer zuerst ermüden würde. Wer würde den ersten Fehler begehen und so sein Leben verwirken?
Langsam griff Vhalla in die Tasche an ihrer Hüfte – hoch über ihr blieb alles unverändert – und warf einen kurzen Blick auf den Kompass. Zum Glück hatte sie noch immer die richtige Richtung eingeschlagen.
Um die Mittagszeit herum musste es dann doch einen stummen Befehl gegeben haben, denn das Unterholz am Waldboden begann sie zu umschließen, glitt auf sie zu, als wäre es lebendig. Vhalla ließ die Zügel schnalzen und diesmal gehorchte das Pferd zum Glück. Sie zapfte ihre letzten Magiereserven an, während Baston zu galoppieren begann, beflügelt durch den Wind unter seinen Hufen.
Vielleicht konnte sie die Nordländer doch noch abschütteln.
Ihre Hoffnung wurde von einer Wurzel zerstört, die wie ein Speer aus dem Boden emporschoss. Das Pferd stieß einen furchtbaren Schrei aus und erbebte, durchbohrt von dem hölzernen Spieß. Auch Vhalla schrie auf, all ihre Hoffnung schwand dahin, als Bastons dampfendes Blut auf den Boden spritzte.
Auf diesen Moment hatten ihre Feinde gewartet, sie ließen sich alle an Ranken herabfallen. Vhalla befreite sich hastig von den Steigbügeln und zog gleichzeitig die einzige reale Waffe, die sie besaß, aus dem Armholster. Sie rutschte rücklings von Baston und schleuderte dabei den Dolch. Er beschrieb einen weiten Bogen, durchtrennte die erste Ranke und zum Teil auch eine zweite, dann verfing er sich in dem zusammenschnurrenden Strang und zerbrach. Aber er hatte sein Werk vollbracht und beide Nordländer stürzten herab.
Vhalla rollte über den Boden. Am Rand ihres Bewusstseins nahm sie ein schwaches, leises Pochen wahr: den Herzschlag des Mannes, den sie zu retten versuchte, und der sie auf seine Weise schützte – trotz der Entfernung zwischen ihnen und trotz seiner schweren Verletzungen.
Einer der verbliebenen Nordländer trat den Rückzug nach oben an, aber die zwei anderen landeten bei Vhalla. Baston stampfte wütend und versuchte sich von dem hölzernen Stachel zu befreien, der ihn langsam tötete.
»Winddämonin«, knurrte der eine Mann, richtete sein Schwert auf ihre Kehle und ließ leichtfertigerweise zu, dass sie sich aufsetzte. In einer Sprache, die Vhalla nicht verstand, sagte er ein paar verächtlich klingende Worte zu dem anderen Mann, der sich hinter sie gestellt hatte, und Vhalla nutzte die Gelegenheit: Mit einer Bewegung des Handgelenks entzog sie dem Nordländer vor sich das Schwert. Sie drehte den Kopf zur Seite und sah, wie es das Auge des Mannes hinter ihr durchbohrte.
Sie bekam einen Stiefeltritt gegen die Schläfe und nutzte ihren Fall, um über den Boden zu rollen und so dem zweiten Schwert des Mannes auszuweichen, das sich prompt neben ihr in die Erde bohrte. Hastig griff Vhalla nach der Waffe des gefallenen Nordländers und kam dann zittrig auf die Beine. Ihr Gegner machte einen wohlplatzierten Ausfallschritt und der Wald schien den Atem anzuhalten, als ihre Blicke sich kreuzten.
Dann stürzte Vhalla sich auf ihn und ließ zu, dass der Nordländer sie entwaffnete. Der Mann grinste in trügerischem Triumph, bis Vhalla ihm mit der Hand den Mund verschloss. Sein Gesicht zerbarst, begleitet von Vhallas gequältem Schrei, weil sie alles, was sie noch an Windmagie aufbringen konnte, durch seine Kehle gezwängt hatte.
Blutbespritzt und zitternd schaute Vhalla nach oben, wo der fünfte Krieger über ihr in den Bäumen verharrte.
»Flieh!« , brüllte sie. »Flieh, oder du erleidest das Schicksal deiner Freunde.« Sie hatte keine Ahnung, ob er ihre Wort verstand, aber sie wusste, was er mit angesehen hatte. »Und spute dich, denn du musst schneller sein als der Wind!«
Aufrecht und mit geballten Fäusten stand sie da. Das Blut des Mannes, den sie gerade getötet hatte, schmückte sie wie Kriegsbemalung. Sie musste ein Angst einflößendes Bild abgeben, denn ihr letzter Verfolger trat tatsächlich den Rückzug an.
Vhalla blickte ihm nach, sah, wie die Bäume unter seinem Abgang schwankten. Sie war nicht naiv, nicht mehr. Er würde mit Verstärkung zurückkommen – mit so vielen Männern und Frauen, dass sie keine Chance gegen sie hätte.
Sie musste weiter, doch zuvor gab es noch eine Aufgabe für sie. Wieder griff sie nach einem der herumliegenden Schwerter, verbannte jedes Gefühl aus ihrem Herzen und schnitt Baston die Kehle durch. Ein Pferd besaß mehr Blut, als Vhalla erwartet hätte. Es strömte über ihre Hände, während sie stumm Abschied nahm. Prinz Aldriks edler Hengst verdiente diesen schnellen Tod, statt qualvoll zugrunde zu gehen. Allmählich beschlich sie der Verdacht, dass sie selbst nicht so viel Glück haben würde.
Bevor sie aufbrach, überprüfte Vhalla die Kuriertasche, ging mit blutigen Fingern die Dokumente durch. Sie waren vollständig. Mit dem Kompass in der Hand setzte sie sich auf wackligen Beinen in Bewegung. Sie schwankte und stolperte über Wurzeln. Nach einer Stunde brach sie zum ersten Mal zusammen. Der Dreck und das Blut auf Vhallas Körper vermischten sich mit dem Gefühl von Hoffnungslosigkeit, und der Tod kam ihr nicht mehr besonders fern vor.
Da blitzte vor ihrem inneren Auge das Bild von Aldrik auf, reglos auf seinem Lager ausgestreckt, mit zahllosen Wunden. Vhalla fluchte. Elecia hatte gut daran getan, ihr noch einen letzten Blick auf den Prinzen zu gewähren. Vhalla biss die Zähne zusammen und rappelte sich wieder auf.
Sie hieß den Schmerz willkommen. Sie würde Aldriks Leben von den Göttern zurückkaufen, und wenn nötig, würde ihr eigener Körper der Preis dafür sein. Diese grausamen und ungerechten Götter – fordernd und unbarmherzig; Vhalla hätte erwartet, dass zwei auf ewig voneinander getrennte Liebende wie Mutter Sonne und Vater Mond ihr mehr Mitgefühl entgegengebracht hätten in ihrer Lage.
Mittlerweile war es später Nachmittag, und Vhallas ganzer Körper tat so weh, dass sie kaum noch etwas fühlte. Zuerst kribbelten ihre Füße noch, dann war es, als schleppte sie Steine über den Boden. Sie war durstig, sie war müde und sie hatte Hunger. Ihre Haare klebten an dem getrockneten Blut in ihrem Gesicht, aber sie besaß nicht mehr die Kraft, es wegzuwischen. Unter dem Kettenhemd war ihre Kleidung schweißgetränkt, und ihr Atem ging flach. Die ganze Welt reduzierte sich auf ihren linken Fuß und dann auf ihren rechten Fuß. Vhalla zwang sich, vorwärtszugehen, immer weiter – an einen Ort, an dem sie noch nie gewesen war. An einen Ort, der vielleicht gar nicht existierte.
Trotz ihrer vollkommenen Erschöpfung nahm sie hinter sich Geräusche wahr. Das Geraune des Waldes verriet ihr, dass sie wieder verfolgt wurde. Der geflohene Krieger war zu seiner Baumstadt zurückgekehrt und näherte sich jetzt mit Verstärkung.
Die Geräusche wurden lauter, als die Sonne tief am Himmel stand. Vhalla begann zu rennen, obwohl sie dadurch ihr letztes bisschen Energie verbrauchte. Wenn sie jetzt stehen blieb, würden ihre Füße sich für lange Zeit nicht mehr rühren können. Und sollte sie hinfallen, würde sie sich sehr wahrscheinlich nie mehr erheben, denn ihre Feinde würden sofort über sie herfallen.
Dem Rascheln der Bäume und dem durchgängigen Hufgetrappel nach zu urteilen, holten die Nordländer auf, und zwar schnell. Schmerz und Verzweiflung peinigten Vhalla, und die Vorstellung, dass ihre Mission gescheitert war, trieb ihr die Tränen in die Augen. Und dann durchbrach sie eine künstlich angelegte Baumreihe und stand plötzlich auf einer Freifläche aus verbrannter Erde.
Verglichen mit dem gedämpften Licht des Waldes kam ihr der Sonnenuntergang schmerzhaft grell vor. Zu ihrer Rechten erklang ein Hornsignal und Vhalla blinzelte verwirrt. Der Ton kam ihr bekannt vor, gab ihr neue Hoffnung. Als sie sich zur Seite drehte, sah sie zwei Reiter auf sich zukommen.
Sobald sie nah genug waren, um zu erkennen, dass die Rüstung des einen aus schwarzem Stahl bestand, sank Vhalla vor Erleichterung auf die Knie. Was sie vor sich sah, waren ein Mitglied der Schwarzen Legion und ein kaiserlicher Schwertkämpfer.
Der Schwertkämpfer saß ab und zog einen schmalen Degen. Vhalla blinzelte benommen. Er hatte einen kräftigen Unterkiefer, kantige Gesichtszüge und wie ein Westländer glattes schwarzes Haar, das ihm bis über die Ohren reichte. Er schien ihr unglaublich vertraut, fast so, als würde sie einen Geist anschauen.
»Wer bist du?« Der Mann hielt ihr seinen Degen unters Kinn und alle Ähnlichkeit mit dem Kronprinzen verschwand, als er sie mit seinen hellblauen Augen musterte.
»Oberstmajor Jax«, krächzte Vhalla. »Ich muss zu … Oberstmajor Jax.«
»Wer bist du?«, wollte nun auch der Mann in der schwarzen Rüstung wissen.
»Ich muss zu … Oberstmajor Jax.« Vhalla stemmte sich wieder vom Boden hoch, ohne auf das Schwert an ihrer Kehle zu achten. Überraschenderweise ließ der Mann sie aufstehen. Er blieb stumm und Vhallas Blick fiel auf seine Schwerthand. Seine Armschiene war mit Gold überzogen. »Ihr … Ihr seid …« Sie versuchte sich alles in Erinnerung zu rufen, was Daniel und Craig ihr während des Marsches nach Norden über die Goldene Garde erzählt hatten.
»Sag uns jetzt, wer du bist!« Kleine Flammen knisterten um die Hände des Soldaten der Schwarzen Legion. Ein Feuerzähmer also.
Doch Vhalla konzentrierte sich weiter auf den Mann vor ihr. Endlich fiel ihr der Name des Mitglieds der Goldenen Garde ein, der sich in Soricium aufhielt. »Lord Le’Dan.« Der Mann riss überrascht die Augen auf. »Lord Erion Le’Dan von der Goldenen Garde. Bringt mich zu Oberstmajor Jax. Die Nordländer sind mir auf den Fersen, und uns bleibt nicht viel Zeit.«
»Sie werden die Grenzlinie nicht überschreiten«, sagte der Mann, ohne seine Identität zu bestätigen oder zu leugnen. »Sie wissen, dass das jetzt unser Territorium ist.«
Er hatte ja keine Ahnung, wie süß das in Vhallas Ohren klang, trotzdem schluckte sie ein erleichtertes Lachen herunter und versuchte, sich das Gefühlschaos in ihrem Innern nicht anmerken zu lassen. »Ich habe eine Botschaft für Oberstmajor Jax. Bitte bringt mich jetzt sofort zu ihm.«
»Wofür hältst du dich?«, herrschte sie der Mann in der schwarzen Rüstung an. Du sprichst hier mit einem Lord …«
Lord Le’Dan hob die Hand und der Feuerzähmer verstummte. »Ich bringe dich zum Lagerpalast.«
»Wirklich?«, fragten Vhalla und der Soldat der Schwarzen Legion wie aus einem Mund.
»Du sprichst Südländisch mit ostländischem Akzent, und ich nehme an, du sollst das da überbringen?« Lord Le’Dan zeigte auf die Kuriertasche, die Vhalla fest umklammert hielt. Sie würde sie ihm ganz gewiss nicht aushändigen.
»Haltet Ihr das für eine gute Idee?«, fragte der Feuerzähmer skeptisch, während Lord Le’Dan sich wieder auf sein Pferd schwang.
»So ein zerlumptes Mädchen? Falls sie etwas im Schilde führt, töte ich sie«, verkündete der Lord großspurig und streckte Vhalla gleichzeitig die Hand hin, damit sie ebenfalls aufsitzen konnte.
Vhalla schluckte ihren Stolz herunter und nahm seine Hilfe an. Der Lord zwang sie, vor ihm zu sitzen, und griff um sie herum nach den Zügeln. Dann trieb er sein Pferd an, und Vhalla musste sich an der Mähne festklammern.
»Wie heißt du?«, fragte er sie leise, während sie über die niedergebrannte Freifläche ritten.
»Serien.« Vhalla wusste nicht, warum sie log.
»Serien …«, wiederholte er unschlüssig.
»Leral.«
Ihr Gespräch brach ab, weil sie den Rand des Tales erreichten, in dem Soricium lag. Vhalla riss staunend die Augen auf: Zum ersten Mal sah sie die gesammelten Streitkräfte der kaiserlichen Armee. In einer flachen Senke waren Hunderte, nein, Tausende von Zelten und Hütten errichtet. Ihr Herz raste beim Anblick der wahren Stärke des Reiches, der größten Leistung von Kaiser Solaris.
In der Mitte der Zeltstadt befand sich ein riesiger, von Mauern umgebener Wald – mit Bäumen, die noch höher als die Baum-Kolosse im Urwald waren. Das war das letzte Bollwerk des Nordens. Die letzten Überreste der einst legendären Himmelsstadt und der Ort, den Vhalla für den Kaiser erobern sollte: Soricium .
Neugierige Blicke folgten ihnen, als sie durch das Lager auf ein grob zusammengezimmertes Gebäude in T-Form zuritten. Der Begriff »Lagerpalast« war mit Sicherheit ironisch gemeint. Sie hatte es geschafft , begriff Vhalla wie im Schock. Sie hatte es wirklich bis nach Soricium geschafft.
»Oberstmajor Jax befindet sich dort drinnen.« Lord Le’Dan saß ab und hielt ihr seine Hand hin.
Vhalla sprang ohne seine Hilfe vom Pferd und ging vor ihm her, vorbei an zwei verwirrten Soldaten, die zu beiden Seiten der Türen Wache hielten. Der große Raum im Innern des Lagerpalasts bestand aus roh gezimmerten Wänden und gestampftem Lehmboden. Lange Tische in verschiedenen Höhen flankierten die Halle zu beiden Seiten. Männer und Frauen bewegten sich um Dokumente und Schaubilder herum, verstrickt in entspannte Diskussionen. Bei Vhallas Eintreten wandten sich alle zu ihr um.
»Oberstmajor Jax?«, fragte Vhalla in dringlichem Ton, während auch Lord Le’Dan hinter ihr die Halle betrat.
»Erion, wie oft muss ich dir noch sagen, dass du mir solche Wildfänge nicht vor Einbruch der Dunkelheit anschleppen sollst? Das lenkt nur ab«, sagte ein Mann mit einem anzüglichen Grinsen. Er hatte langes schwarzes Haar, das auf seinem Kopf zu einem Knoten zusammengebunden war, schwarze Augen und olivfarbene Haut: ein typischer Westländer.
Vhalla durchquerte rasch den Raum und nahm dabei die Kuriertasche von der Schulter. Mit zitternden Händen hielt sie sie Jax entgegen, ihr ganzer Körper kribbelte auf einmal vor nervöser Energie. Der Oberstmajor legte fragend den Kopf schief und musterte sie, ehe er die Tasche aus ihrem festen Griff befreite.
Er legte sie auf einen der Tische und zog die Pergamente heraus, die an den Rändern voller Blutflecken waren. Dann ging er Schriftstück für Schriftstück durch, immer hastiger, seine Arroganz und der derbe Humor von eben waren wir weggeblasen. Stattdessen spiegelten sich Emotionen in seiner Miene, die Vhalla sehr viel angemessener fand.
Seine dunklen Augen richteten sich auf sie. »Du …«
»Ihr müsst sofort Hilfe losschicken.« Vhalla trat noch einen Schritt vor. Ihr ganzer Körper begann jetzt zu zittern. »Sendet Hilfe. Das könnt Ihr doch, oder?«
»Erion, Query, Bolo!« Jax warf die Dokumente zurück auf den Tisch. »Trommelt siebenhundert von euren besten Leuten zusammen.«
»Was?«, fragte einer der anderen Heeresführer geschockt. »Siebenhundert?«
Jax ignorierte ihn. »Xilia!« Eine Frau kam zu ihm herüber. »Ich brauche diese Arzneien und Heilmittel, zur Sicherheit in doppelter Menge.«
»In doppelter Menge?«, wiederholte die Frau ungläubig. Vhalla sah die lange Liste, die Elecia verfasst hatte.
»Alle anderen: Versammelt eure schnellsten, unerschrockensten Reiter. Bringt mir Frauen und Männer, denen die Mission wichtiger ist als ihr Leben und das ihres Pferdes.« Die Anwesenden schauten den Westländer sprachlos an. »Sofort!«, brüllte Jax und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch »Los jetzt!«
Zum ersten Mal erlebte Vhalla den wahren Pflichteifer der kaiserlichen Armee. Alle setzen sich augenblicklich in Bewegung – trotz ihrer Verwirrung und der unbeantworteten Fragen. Sie taten, was ihr Vorgesetzter ihnen befahl, und das war ein derart beruhigender Anblick, dass Vhalla vor Erleichterung am liebsten geweint hätte.
»Sie-sie werden wirklich losreiten?«, flüsterte sie und schaute zur Tür, durch die nach und nach Frauen und Männer verschwanden.
»Ja, und zwar binnen einer Stunde.« Oberstmajor Jax kam langsam um den Tisch herum.
In die Welle der Erleichterung mischte sich unendliche Erschöpfung und Vhalla fiel auf die Knie. Mit einem Arm stützte sie sich ab, mit dem anderen hielt sie sich den Bauch. Sie bekam keine Luft, trotzdem war ihr schwindlig vor lauter Sauerstoff. Sie wollte zugleich lachen, weinen und schreien. Sie hatte es bis nach Soricium geschafft.
Jax kauerte sich vor sie. Vhallas Blick glitt von seinen Stiefeln bis hoch zu seinem Gesicht. Er kniff die Augen zusammen.
»Vhalla Yarl, die Windläuferin.« Ihr Name auf den Lippen eines Fremden war ihr unangenehm, und sie richtete sich auf, um ihn ebenfalls genauer zu mustern. »Keine Ahnung, was ich erwartet habe, aber ganz bestimmt nicht dich.«
Vhalla lachte bitter, sie dachte an Elecias anfängliche, wenig schmeichelhafte Meinung über sie, als sie sich kennengelernt hatten. »Tut mir leid, Euch zu enttäuschen.«
Wieder legte der Mann den Kopf schief. »Du tauchst hier auf, als wärst du dem Wind selbst entsprungen, um das Leben des Kronprinzen zu retten, dem du gerade erst aus demselben Grund in die Tiefe gefolgt bist. Du wirkst bescheiden, starrst vor Dreck und bist über und über mit Blut bespritzt, das – wie ich annehme – von unseren Feinden stammt.« Langsam breitete sich ein leicht irres Grinsen auf seinem Gesicht aus. »Wer hat gesagt, dass ich enttäuscht bin?«