DREI
»Der Waschraum ist hier hinten.« Jax führte Vhalla zum hinteren querlaufenden Teil des T-förmigen Gebäudes.
Sie folgte ihm mit einem stummen Nicken. Nun da sie sich schon fast an den Gedanken von ihrem und Aldriks Tod gewöhnt hatte, fiel ihr die Vorstellung von Rettung schwer.
Von dem Gang, der an die öffentliche Halle angrenzte, gingen vier Türen ab: eine direkt vor ihnen, eine am linken Ende und zwei weitere am rechten Ende. Die anspruchslose Bauweise ließ darauf schließen, dass das Gebäude von Soldatinnen und Soldaten statt von fachkundigen Handwerkern errichtet worden war.
Auch der Waschraum war nur mit dem Nötigsten ausgestattet. »Nicht sehr passend für eine Lady, ich weiß.« Jax schmunzelte. Dann füllte er rasch einen großen Holzzuber mit Regenwasser aus einem offenbar auf dem Dach montierten Wasserspeicher.
»Ich bin keine Lady.« Vhalla schüttelte den Kopf. »Das hier erinnert mich an mein früheres Zuhause.«
Als Kind hatte sie mit ihrer Mutter zusammen in einem Bottich gebadet, der diesem durchaus ähnelte. Der Gedanke an ihre Mutter fühlte sich seltsam an. Ob die Frau, die Vhalla gescholten hatte, weil sie auf Bäumen immer bis nach oben kletterte, und ihr abends Wiegenlieder vorgesungen hatte, sie jetzt noch wiedererkennen würde? Es war erschütternd, wie sehr sich Vhalla inzwischen von der Person unterschied, die zuletzt zu Hause gewesen war.
Jax lehnte sich an die Wand neben dem Badezuber. »Das ist nicht das, was Elecia geschrieben hat.«
»Was ist es nicht?«, fragte Vhalla, jäh aus ihren Gedanken gerissen.
»Sie schrieb, Lord Ci’Dan hätte dich zur Herzogin des Westens gemacht.« Jax verschränkte die Arme vor der Brust.
Es dauerte eine Weile, bis Vhalla wieder einfiel, dass Elecia ja Lord Ci’Dans Enkeltochter war. Natürlich hatte sie davon erfahren.
»Ein Titel ohne Bedeutung.« Vhalla lachte.
»Du bist mit Kränkungen schnell bei der Hand«, bemerkte Jax, sodass Vhalla das Lachen sofort wieder verging. »Ich nehme westländische Traditionen sehr ernst, und ich kann dir versichern, dass ich damit nicht allein stehe.«
Vhalla dachte daran, wie Daniel bei seiner Berufung in die Goldene Garde in den Rang eines Lords erhoben worden war. Natürlich nahm ein Kamerad aus seinen Reihen solche Dinge ernst. »Tut mir leid, ich wollte nicht …«
Jax’ brach in lautes Gelächter aus. »Hast du tatsächlich gedacht, ich würde mich auch nur einen Deut um diese verkrusteten Adligen scheren? Die sich die Wangen rot anmalen und so tun, als wäre ihr Haar noch immer tiefschwarz?« Auf einmal blickte er wieder ernst. »Aber ehrlich gesagt: Manche Menschen könntest du mit dieser Einstellung tatsächlich vor den Kopf stoßen.«
Vhalla öffnete den Mund und schloss ihn dann wieder. Sie hatte keine Ahnung, wie sie reagieren sollte.
»Also, Herzchen, ich würde ja gern bleiben und dir Gesellschaft leisten, aber ich muss dringend einen Trupp Reiter losschicken. Wenn ich zurückkomme, bringe ich dir ein paar saubere Kleider mit.« Er ging zur Tür, blieb aber noch mal im Türrahmen stehen. »Kommst du allein zurecht?«
Vhalla verschränkte die Hände und sah Jax prüfend in die Augen. Seine Frage war aufrichtig gemeint. Seine Verrücktheit hatte etwas an sich, das sie in ihrem eigenen Wahnsinn ansprach.
»Ja«, sagte Vhalla forscher, als sie sich fühlte. »Ich komme schon klar. Schickt die Reiter los.«
Jax nickte – offensichtlich hatte er Verständnis für ihre Prioritäten – und verschwand.
Vhalla wandte sich dem dampfenden Badezuber zu. Natürlich, Jax war ein Feuerzähmer. Er hatte das Wasser erhitzt, genau wie Larel die Bäche und Teiche erhitzt hatte, in denen sie während ihres Marsches gebadet hatten. Vhalla schälte sich aus den Kleidern, als befreite sie sich aus der Hülle einer anderen Frau. Über Wochen hatte Vhalla die Erinnerung wie einen Schutzschild getragen, Larels Abschiedsgeschenk: ihren Namen, den Vhalla in der Gestalt von Serien Leral geehrt hatte.
Das Wasser war fast brühend heiß, trotzdem zitterte Vhalla. Sie war allein. Larel und Sareem waren tot, und Fitz war weit weg, genau wie ihre Bibliothek mit dem Fenstersitz … Von Nostalgie überwältigt schloss Vhalla die Augen. Sie gestattete sich die süße Qual, davon zu träumen, in den Palast im Süden zurückzukehren. Und dort noch einmal mit Aldrik in seinem Rosenpavillon zu sitzen. Und ein Leben zu führen, das anders war als alles, was sie gekannt hatte, und das sie dennoch als Normalität bezeichnen konnte.
Es klopfte zweimal kurz, das war die einzige Warnung, bevor die Tür aufging. »Ich habe dir Kleidung gebracht.«
»Jetzt nicht!« Vhalla drückte ihren nackten Körper in die Wölbung des Fasses, um sich zu verbergen.
»Du bist so rot wie westländischer Purpur«, lachte Jax angesichts ihrer glühenden Wangen. »Was denn? Wenn du etwas hast, das ich noch nicht gesehen habe, dann wäre mir das ein großes Vergnügen.«
»Das ist nicht …« Vhalla wollte vor Scham fast sterben. Sie hatte zwar schon in Gemeinschaftswaschräumen gebadet, aber mit anderen Frauen .
»Ich dachte, du wärst keine Lady?« Jax grinste breit. »Diese ganze Schamhaftigkeit scheint mir aber nur allzu gut zu einem hochwohlgeborenen Pflänzchen zu passen.«
»Ich kenne Euch schließlich nicht!«, rief Vhalla ungläubig.
»Möchtest du mich denn kennenlernen?« Jax hob die Augenbrauen.
»Raus jetzt!«
»Ganz wie die Lady befiehlt«, sagte Jax ungerührt und verschwand.
Vhalla tauchte mit dem Kopf unter Wasser. Dieser Mann war so ganz anders als alle von edler Herkunft, die sie bisher kennengelernt hatte. Anders als jeder vernünftige Mensch, dem sie je begegnet war!
Aber er war auch fürsorglich, wie sie feststellte. Jax hatte das Wasser nochmals aufgeheizt, sodass es eine ideale Temperatur hatte. Es gab ein relativ sauberes Tuch zum Abtrocknen, außerdem je zwei Hemden und Hosen zur Auswahl. Alle Sachen waren zu groß für ihre zierliche Gestalt, die durch den langen Marsch und die kargen Essensrationen noch schmaler geworden war. Das Hemd konnte sie als Tunika tragen, und die Hose musste sie hochkrempeln. Doch mit einem Gürtel würde sie ganz passabel auf ihrer Hüfte sitzen.
Als Vhalla herauskam, lehnte der Oberstmajor wartend an der Wand gegenüber. Sofort wurde Vhalla wieder rot und presste die Lippen zusammen, um sich ihre Frustration darüber nicht anmerken zu lassen.
Jax stieß sich von der Wand ab und stürzte sich mit Begeisterung auf ihre Befangenheit. »Was sagt man dazu, unter dem ganzen Blut und Dreck hat sich doch tatsächlich eine Frau verborgen!«
Vhalla nestelte verlegen an dem Kettenhemd in ihren Händen.
»Na gut, dann hier entlang.« Jax wandte sich von der Seite des Ganges mit der einzelnen Tür ab und marschierte zu den beiden Türen am anderen Ende. Eine davon öffnete er für sie.
Nach einem kurzen Blick in das Zimmer begriff Vhalla. »Ist das Prinz Baldairs oder Prinz Aldriks Quartier?« Sie blieb in der Tür stehen.
»Baldairs. Ihn wird es nicht stören und du siehst aus, als ob du vor Müdigkeit gleich umfällst.« Vhalla blickte zu der Tür auf der anderen Seite des Flurs, und Jax schien genau zu wissen, was ihr durch den Kopf ging. »Oder würdest du lieber im Zimmer des Kronprinzen nächtigen?«
»Ja, würde ich«, flüsterte sie.
Jax blieb in Baldairs Tür stehen, während Vhalla zögerlich die einfache hölzerne Verriegelung löste, die die Tür zu Aldriks Zimmer verschlossen hielt. Gemächlich, fast ehrfürchtig betrat sie das Quartier des Mannes, der den allergrößten Wert auf Privatsphäre legte.
Das Zimmer war recht gewöhnlich: An einer Wand standen ein paar Truhen, ihnen gegenüber ein Bett, und unter einem mit Holzläden verschlossenen Fenster war ein Schreibtisch aufgestellt worden. Vhalla blieb stehen und starrte den leeren Ständer an, der auf die Rüstung seines Besitzers wartete.
Vor ihrem inneren Auge sah sie Aldriks zerschundenes Gesicht und sie krallte sich unwillkürlich an ihrem Hemd fest, um die aufsteigende Übelkeit zu bekämpfen.
»Hier.« Jax berührte ihre Schulter und Vhalla zuckte erschrocken zusammen.
Sie blickte auf die Phiole in seiner Hand. »Nur einer?« Jedes Mal, wenn sie verwundet worden war, hatte man ihr stets eine ganze Reihe von Heiltränken eingeflößt.
»Sind deine Verletzungen schwer genug, um mehr Tränke zu rechtfertigen?«, fragte Jax ernst.
Vhalla schüttelte den Kopf.
»Zumindest nicht die körperlichen, habe ich recht?«
Vhalla trat einen Schritt zur Seite und straffte die Schultern, um ihre Emotionen in den Griff zu bekommen. Jax war wie ein Lauffeuer: Unvorhersehbar brannte er sich seinen Weg erst durch ein Gefühl, dann durch das nächste. Vhalla sah ihn blinzelnd an und öffnete den Mund, um etwas zu sagen.
Doch in Jax’ Blick lag so viel stummes, tiefgehendes Verstehen, dass es sie beschämte und ihr die Worte raubte. Er umschloss ihre Hand und legte die Phiole hinein. »Trink, Vhalla Yarl, und schlaf dich aus. So wie du aussiehst, hast du das wohl schon länger nicht mehr gemacht.«
Und damit verließ Jax das Zimmer. Vhalla blickte auf die Phiole in ihrer Hand und fragte sich, was der Westländer wohl in ihr sah, was die Welt jetzt in ihr sah. Ihre Gedanken wirbelten wie ein Kreisel, schneller und schneller, ohne jede Kontrolle – bis sie bereitwillig den Heiltrank an die Lippen setzte und die Phiole mit einem gierigen Schluck leerte.
Dann ließ sie sich auf das Bett fallen, sein Bett.
Es roch muffig. Die Bettwäsche war lange Zeit nicht gewechselt worden, falls überhaupt schon mal. Sie war steif und verströmte ein feuchtes, erdiges Aroma. Doch irgendwo unter dem modrigen Geruch war ein Moschusduft, den Vhalla gut kannte. Sie rollte sich zusammen, griff nach der Matratze, den Kissen, der Decke. Leder, Metall, Eukalyptus, Feuer, Rauch und der unverwechselbare Aldrik -Duft – eine Kombination, die sie überwältigte.
Als Vhalla wieder erwachte, glaubte sie, nur ein paar Stunden geschlafen zu haben. Die Sonne hing tief am Himmel, und im Raum war es düster, weil nur noch wenig orangefarbenes Licht durch die Lamellen der Holzläden fiel. Mit müden Schritten ging sie in die große Halle, die verwaist war – bis auf zwei Männer, die am Ende eines der langen Tische saßen und etwas tranken.
»Unser Murmeltier ist erwacht«, sagte Jax grinsend. Er trug das Haar offen; es fiel ihm bis über die Brust.
»So lange habe ich nun doch nicht geschlafen.« Vhalla setzte sich dem Oberstmajor gegenüber, ließ aber viel Platz zwischen sich und Lord Le’Dan.
»Nur einen kompletten Tag«, murmelte der Lord über seiner Flasche.
»Was?«
»Du warst ganz schön lange außer Gefecht. Ich lag also wohl richtig damit, dass du längere Zeit nicht geschlafen hattest«, sagte Jax zufrieden.
Einen Tag … Sie hatte einen ganzen Tag lang geschlafen! In Vhallas Kopf ratterte es. »Habt Ihr schon etwas von den ausgesandten Reitern gehört?«
»Sie sind doch erst einen Tag lang unterwegs, haben also garantiert nicht mal die Hälfte des Weges hinter sich.« Erion Le’Dan stellte seine Flasche auf dem Tisch ab.
»Ich habe es in zwei Tagen geschafft«, konnte Vhalla sich nicht verkneifen zu sagen.
»Tja, dann bist du wohl kein Mensch.« Er warf ihr einen Seitenblick zu. »Vielleicht bestehst du halb aus Wind, Serien .«
Vhalla fuhr sich mit der Hand durchs Haar und prüfte dabei heimlich, ob sich die schwarze Tinte, die ihr ostländisch braunes Haar verbarg, durch das Bad ausgewaschen hatte. Tatsächlich war das Schwarz zumindest so weit verblasst, dass es Erion offensichtlich misstrauisch machte. Vhalla schaute kurz hinüber zu Jax, der prompt das Thema wechselte.
Während die Männer sich unterhielten, betrachtete Vhalla sie. Beide gehörten der Goldenen Garde an, dennoch hatte Jax ihre Identität Erion gegenüber nicht preisgegeben. Sie konnte sich denken, warum es sinnvoll war, ihren wahren Namen nicht zu früh zu enthüllen, trotzdem hatte sie eine derartige Loyalität von einem Mann, den sie kaum kannte, nicht erwartet.
Sie stellten ihr etwas zu essen hin, doch Vhalla stocherte nur lustlos darin herum. Ihr schwirrte der Kopf, was ihren knurrenden Magen zum Schweigen brachte. Dennoch war ihr klar, dass sie sich stärken musste.
Langsam und gewissenhaft aß sie den ganzen Teller leer. In den Wäldern Richtung Süden lag ein sterbender Prinz, der von ihrer Kraft abhängig war. Elecia hatte behauptet, ein Mensch könne auf Dauer nicht zwei am Leben erhalten, doch Vhalla hatte vor, ihr das Gegenteil zu beweisen. Zumindest würde sie ihnen mehr Zeit verschaffen.
Nach dem Essen kehrte sie in Aldriks Zimmer zurück und kroch unter die Decken.
In den folgenden drei Tagen schlief sie so lange, wie ihr Körper es brauchte. Und sie aß so viel, wie sie herunterbekam. Vhalla tat alles, um ihre Kräfte wiederherzustellen und ihre Energie zu erhalten, vermied jede übermäßige Anstrengung und auch jedes Risiko. Was hieß, dass sie sich die meiste Zeit im Lagerpalast unter den Heeresführern aufhielt, wo sie sich schon bald als Jax’ Schreiberin nützlich machte.
Jax kümmerte sich um die Hälfte der Streitkräfte. Neben einem grauhaarigen alten Major, mit dem Vhalla noch nicht in Kontakt gekommen war, hatte man ihm und Erion das Kommando übertragen, und die übrigen Truppenführer akzeptierten ihre derzeitigen Befehlshaber vorbehaltlos. Die einzigen Fragen ergaben sich, wenn es darum ging, Jax’ Notizen zu entziffern. Hier fand Vhalla ihre Aufgabe.
Die Handschrift des obersten Anführers der Schwarzen Legion war schauderhaft, daher waren die Heeresführer dankbar für Vhallas saubere und lesbare Zeilen in den Bestandsbüchern und Protokollen. Umgekehrt profitierte Vhalla genauso, denn die Arbeit verschaffte ihr Informationen über die Belagerung und die Armee, zu denen sie bisher keinen Zugang gehabt hatte. Ihre frühere Lektüre über Militärtaktik und Methodik ergab viel mehr Sinn, wenn sie in eine reale Situation eingebettet war. Vhalla bekam mit, wie die Wachen auf dem Schutzwall organisiert waren. Sie hörte zu, wenn die Männer und Frauen über Essensrationierung und notwendige Jagdausflüge in die umgebenden Wälder diskutierten. Und sie verstand immer besser, wie Theorie und Praxis ineinandergriffen. Im Geiste rekapitulierte Vhalla ihr neues Wissen ständig, damit es sich in ihrem Gedächtnis verankerte.
Ihre Tage waren erfüllt, was die einsamen Nächte umso schwerer machte. Ohne Ablenkung begaben sich Vhallas Gedanken auf Wanderschaft. Die Stille schien sich endlos auszudehnen, was auch Auswirkungen auf das Band zu Aldrik hatte. Beklommen fragte sie sich, ob es nicht vielleicht schwächer wurde. Die Verbindung zwischen ihr und dem Kronprinzen fühlte sich nämlich ganz anders an. Wie ein brachliegendes Feld im Winter. Es tauchten auch keine seiner Erinnerungen mehr in Vhallas Träumen auf, und in ihren Ohren pochte nur noch ihr eigener Herzschlag.
Vhalla betete, dass es nur an der Entfernung zwischen ihnen und an Aldriks Schwäche lag. Doch sicher konnte sie sich nicht sein. Diese Ungewissheit – verbunden mit der Leere in ihr – drohte sie in den Wahnsinn zu treiben.
Am vierten Tag hatte sie sich ausnahmsweise mittags hingelegt, doch sie erwachte erst von Hörnersignalen am Abend. Das konnte nicht Aldrik sein , sagte Vhalla sich. Er würde frühestens in zehn Tagen hier eintreffen. Also rollte sie sich wieder auf die Seite und zog sich die Decke über den Kopf. Durch den vielen Schlaf und das nahrhafte Essen fühlte sie sich körperlich gestärkt, trotzdem blieb sie angespannt. Die sieben Tage, die Elecia ihr versprochen hatte, waren fast vorüber, und irgendwo in einem Winkel ihres Bewusstseins flackerte schwach ein Hauch von Magie.
Die Tür ging auf und Vhalla drehte sich verschlafen um – völlig überrascht über den Anblick des Mannes, der ins Zimmer trat.
»Also, ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal eine Frau im Bett meines Bruders erwischt habe.« Baldairs Lachen war wie ein heller Sommertag in ihrer erstarrten Welt.
Rasch richtete sich Vhalla auf, umhüllt vom Klang dieses Lachens, und schaute den goldhaarigen Prinzen verblüfft an. Baldair und sie hatten nicht unbedingt eine verlässliche oder gewöhnliche Beziehung, aber er hatte ihr und Aldrik eine letzte gemeinsame Nacht ermöglicht, ehe sie in den Norden einmarschiert waren. Ehe man sie voneinander getrennt hatte, vielleicht für immer. Dem jüngeren Prinzen war vermutlich nicht bewusst, welchen Platz er sich damit in Vhallas Herz erobert hatte.
»Baldair«, flüsterte Vhalla mit einem Seufzer der Erleichterung. Sein Anblick erfüllte sie mit herzerwärmender Vertrautheit. Nie hätte sie gedacht, dass sie das mal sagen oder auch nur denken würde, aber Prinz Baldair war das Tröstlichste, was sie seit vielen Tagen gesehen hatte.
»Ich habe nicht damit gerechnet, dich hier zu treffen.« Er schmunzelte. »Wahrscheinlich steckt eine spannende Geschichte dahinter.«
Vhalla runzelte die Stirn. Baldair plapperte weiter, als wäre ihre Anwesenheit das Resultat eines aufregenden Abenteuers, über das sie gleich beim Essen plaudern und dann gemeinsam lachen würden. Ihre Augen wanderten zu Jax, der im Türrahmen stand. »Hast du es ihm nicht gesagt?« Nach der vielen Zeit, die sie gemeinsam verbracht hatten, duzte Vhalla ihn inzwischen.
»Sobald ich ihm mitgeteilt hatte, dass du hier bist, wollte er dich sofort sehen«, erklärte Jax.
Vhalla spürte Kummer in sich aufsteigen. Warum war ausgerechnet sie diejenige, die diese Botschaft überbringen musste? »Baldair«, begann sie zögerlich.
»Was ist denn?« Der breitschultrige Prinz blickte zwischen ihr und Jax hin und her.
»Ich habe versucht, ihn zu retten.« Wieder wurde Vhalla von Gefühlen überwältigt und konnte einen Moment lang nicht weitersprechen. »Ich habe es versucht, und ich habe versagt.«
»Bei der Mutter: Frau, du jagst mir wirklich Angst ein!« Baldair ließ sich schwer aufs Bett fallen und ergriff ihre Hände.
Wollte er ihr Trost spenden oder sich selbst? Egal, Vhalla spürte, dass es ihnen beiden guttat.
»Wovon redest du?«, bohrte Baldair nach.
»Aldrik liegt im Sterben.«
Die Worte trafen den zweitgeborenen Prinzen wie ein Schlag und er riss den Kopf zu Jax herum. »Was sagt sie …«
»Sie übertreibt.«
Vhalla blickte Jax finster an, der daraufhin fragend die Augenbrauen hob.
»Oder weißt du aus irgendeinem Grund mehr als ich, obwohl wir seit Tagen fast ununterbrochen zusammen sind?«
Sie öffnete den Mund, kam dann aber zu dem Schluss, dass es vielleicht klüger war, Jax nicht zu sagen, was genau sie wusste und woher.
»Aber«, gab der Westländer mit einem Seufzer zu, »es steht nicht gut um ihn.« Jax zog ein paar blutbefleckte Schriftstücke aus der Innentasche seiner Militärjacke und reichte sie Baldair.
Vhalla starrte angestrengt zu Boden, sie konnte weder Jax’ irritierendes Verhalten ertragen noch wollte sie Baldairs Miene sehen, während er die Briefe von Majorin Reale und Elecia durchging. Der Prinz stöhnte leise und ließ dann die Dokumente sinken. »Vhalla, hast du das wirklich alles getan?«
»Was getan?« Vhalla schaute auf und verlagerte unter Baldairs bedeutungsschwerem Blick unbehaglich ihr Gewicht.
»Du bist in die Tiefe gesprungen und hast allein den Norden durchquert?«
»Jemand musste es doch tun.« Keine ihrer Taten schien auch nur annähernd das Staunen in Baldairs Gesicht zu rechtfertigen – natürlich hatte sie all diese Dinge getan .
»Haben wir denn schon irgendeine Nachricht von der Heeresgruppe oder von den Reitern?«, wandte sich Baldair jetzt an Jax.
Der Oberstmajor schüttelte den Kopf. »Von den Reitern nichts … Aber die Heeresgruppe kommt voran wie geplant.«
Baldair gab Jax die Briefe zurück. »Aldrik ist stark, und ich bin überzeugt, dass er jetzt nicht sterben wird. Nicht wenn er endlich einen Grund gefunden hat, um sich wieder dem Leben zuzuwenden. Wahrscheinlich versucht mein Bruder nur, sich den restlichen Weg hierher zu ersparen.« Sein Lachen klang gezwungen.
Er räusperte sich. »Trotzdem: Hier und jetzt werden uns ein bisschen Gesellschaft und etwas zu essen guttun.« Der Prinz hielt ihr seine schwielige Hand hin und Vhalla ergriff sie. Baldairs Stärke wurde oft nur in körperlicher Hinsicht gepriesen. Nun machte Vhalla die Erfahrung, dass der Mann, der normalerweise für das Brechen von Herzen bekannt war, selbst ein ziemlich großes Herz besaß.
Auf dem Weg zur Tür hielt der Prinz kurz inne. »Äh, du bist hier noch immer Serien, oder?«
»Vorläufig ja. Ich hielt es für sicherer«, bestätigte Jax an Vhallas Stelle. »Ich will nicht, dass sich im Lager Gerüchte verbreiten, ehe der Kaiser wieder zurück ist.«
»Was ist mit deiner Windläuferin geschehen?«, fragte Vhalla, als sie gemeinsam das Zimmer verließen.
»Sie wurde getötet.« Baldair warf ihr einen kurzen Blick zu, und Vhalla war überrascht über den Schmerz in seinem Blick.
»Die des Kaisers ebenfalls«, berichtete sie.
»Und die von Aldrik?«
»Als ich fortritt, lebte sie noch.«
»Wenn er es besonders glaubwürdig aussehen lassen wollte, hat er sie sehr wahrscheinlich genauso gut beschützt, wie er dich beschützt hätte«, überlegte Baldair, während sie um die Ecke bogen und die Halle betraten. Dann erhob er seine Stimme und rief dröhnend: »Tut mir leid, dass ich euch habe warten lassen!«
Als er auf den Tisch der Goldenen Garde zuging, empfingen ihn Lachen und Spott, weil er sich von einer geheimnisvollen Frau hatte aufhalten lassen. Der Raum war voller Heeresführer, die offenbar die Rückkehr des beliebten Prinzen feierten.
Jax folgt Baldair, doch Vhalla blieb abrupt stehen. Ihr Blick war an einem ostländisch aussehenden Gesicht hängen geblieben, das ihre Gefühle in Aufruhr versetzte. Daniel erhob sich langsam und sah sie aufgewühlt an. Vhalla dachte an ihre letzte Begegnung, an die Wochen, die sie zusammen verbracht hatten. Sofort schlüpfte sie wieder in die Rolle von Serien und übernahm damit auch all deren widersprüchliche Gefühle.
Dem Rest der Anwesenden blieb nicht verborgen, was zwischen ihnen beiden geschah, und hier und da mischten sich interessierte Blicke und Geflüster in die höflich fortgeführten Gespräche. Wie benommen ging Daniel um den Tisch herum. Der Fokus seiner haselnussbraunen Augen lag allein auf ihr, als sei sie das letzte Geschöpf auf Erden. Vhalla schluckte. Sie wusste nicht, was er da sah, wen er in ihr sah.
Jetzt beschleunigten sich Daniels Schritte, er rannte fast. Ihre Körper prallten zusammen, und er umschlang sie mit beiden Armen. Ohne nachzudenken, erwiderte Vhalla seine Geste, begrüßte freudig den einzigen Menschen, der für sie da gewesen war, als die Welt ihr alles andere genommen hatte.
»Du lebst.« Daniels heißer Atem streifte ihre Wange.
»Ich bin Serien …«, flüsterte sie fast lautlos, um sich und ihn daran zu erinnern, in welcher Rolle sie bleiben mussten.
»Der Name ist mir egal.« Er drückte sie noch fester an sich, falls das überhaupt möglich war. »Du bist du , und mehr brauche ich nicht.«